Das einfache Leben

Von den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ hat Thomas Mann in seiner Erzählung „Tonio Kröger“ von 1903 gesprochen. In dieser Erzählung verteidigt Tonio Kröger seine „Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen, Gewöhnlichen“ gegenüber der Bohème-Künstlerin Lisaweta Iwanowna, der diese Eigenschaften recht befremdlich vorkommen. In diesen Jahren um die Jahrhundertwende konnte man sich eine solche Apologie des Bürgertums noch leisten. Deutschland stand auf dem Zenit seiner Geschichte. Der deutsch-französische Krieg lag drei Jahrzehnte zurück, das Bürgertum hat den höchstmöglichen Stand der Entwicklung erreicht. Kunst und Literatur entfalteten sich in voller Blüte, die Wissenschaft genoss weltweites Ansehen; die Wirtschaft florierte. Ein gutes Jahrzehnt später war alles vorbei. Die Wohlstandsgesellschaft in Deutschland um 1900 war noch sehr weit entfernt von der des 21. Jahrhunderts. Aber auch damals gab es schon jene übermütige Form der Wirklichkeitsverachtung, die das einfache Leben des bürgerlichen Alltags gering schätzte und seinen Repräsentanten das Leben schwer machte.

Und doch: Irgendwo muss es sie ja geben, die Menschen, die einfach nur arbeiten, rund 40 Stunden in der Woche, von 8 bis 17 Uhr im Büro oder im Schichtdienst, die ein leicht unterdurchschnittliches Verdienst haben, die geduldig in Zügen sitzen, die unterwegs stehen bleiben oder in menschengemachten Staus stehen, die von festgeklebten Realitätsleugnern verursacht werden; die ihre Steuern und Rundfunkbeiträge zahlen, samstags vielleicht ein Kreisligafußballspiel anschauen, Wurst und Fleisch essen, Dieselautos fahren, um ins Büro oder zur Baustelle zu kommen, die am Wochenende grillen und ihr Grillgut beim Discounter kaufen und die das Neue Jahr ganz ungeniert mit einem Feuerwerk begrüßen. Nach altem Volksglauben dient das Böllern an Silvester übrigens dazu, die bösen Geister des vergangenen Jahres zu vertreiben. Es hat also durchaus seinen Sinn, wenn eben diese bösen Geister alles daran setzen, das Böllern zu unterbinden.

Den meisten von diesen ganz normalen Leuten wird es herzlich gleichgültig sein, ob man Benin-Bronzen feierlich nach Nigeria zurückverbringt, ob man Inschriften auf dem Humboldt Forum verhängt, ob man Sitzungszimmer im Auswärtigen Amt umbenennt oder ob man die sexuelle Vielfalt durch Gendersterne, Unterstriche, Binnen-I oder überhaupt nicht zum Ausdruck bringt. Und das Ende der Welt per Klimawandel bekümmert sie weniger als das Ende des Monats, an dem die Miete und die Gas- und Stromrechnungen bezahlt werden müssen.

 

Die Macht der anderen

Wenn aber diese ganz gewöhnlichen Menschen samstags die Discounter-Prospekte mit den Sonderangeboten durchblättern, die Lokalzeitung lesen, die Werbung im Fernsehen, die Nachrichtensendungen, die Vorabendsendungen und die allabendlichen Kriminalfilme im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die Netflixserien anschauen – wenn sie das alles tun, dann müssen sie eine erstaunliche Feststellung machen: Sie kommen nicht vor.

Die Welt gehört den anderen, jenen, die lautstark ihre Rechte geltend machen und Ansprüche erheben. Sie gehört denen, die auf ihre selbstgewählten sexuellen Identitäten pochen, den lesbischen, schwulen, bisexuellen und Transgenderpersonen, den Intersexuellen und Queeren, die sich in der LGBTQ+-Bewegung zusammenfinden. Sie gehört auch den BIPoCs, den Black, Indigenous, and People of Color also, die zufällig eine andere Hautfarbe oder jenen, die eine andere Religionszugehörigkeit haben als die autochthone Bevölkerung. Das alles sind Gruppeneigenschaften, deren jede einzelne große politische und mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht und spezielle Anspruchsberechtigungen hervorbringt. Die bundesdeutsche Gesellschaft widmet sich diesen Ansprüchen mit großem Ernst und ist bereit, ihnen so weit entgegenzukommen, wie es eben verlangt wird. Dem aufmerksamen Betrachter wird allerdings auffallen, dass eine Gruppe aus diesem Kosmos der Anspruchsberechtigten verschwunden ist: die Behinderten. Rollstuhlfahrer, Blinde, Gehörlose, geistig Behinderte, sind verschwunden. Bei ihnen ist nichts mehr zu holen. Vor zehn Jahren war das noch anders. 2008 trat das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ in Kraft. Diese UN-Behindertenkonvention löste einen Hype an Schulen und Hochschulen aus oder, genauer: eine Goldgräberstimmung. Denn hier gab es Fördergelder abzugreifen, die zwar nicht unbedingt den Behinderten zugute kamen, wohl aber denen, sie sich zu ihren Fürsprechern machten und erst recht denen, die ihre wahren Bedürfnisse wissenschaftlich erforschten. Das war schnell vorbei. Die Flüchtlingskrise von 2015 brachte neue, ungleich attraktivere betreuungs-, fürsorge- und subventionsbedürftige Personenkreise ins Land. Die gibt es nach wie vor, und der Staat ist weiterhin bereit, unbegrenzte Ressourcen in sie zu investieren. Aber sie sind nicht mehr allein mit ihren Ansprüchen. Das Modell hat Schule gemacht.

Mehr und mehr werden Anspruchsberechtigungen gegenüber dem Staat nicht aufgrund von Leistung oder tatsächlichen Notlagen erhoben, sondern aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten, die sich wiederum aus physischen und ethnischen Merkmalen definieren. Inzwischen ist es sogar möglich, das eigene Körpergewicht als gewichtigen Faktor der politischen Karriereplanung in die Waagschale zu werfen.

Wem fällt so etwas ein? Wer kann auf den Gedanken kommen, dass sexuelle Orientierungen, die Hautfarbe, das Herkunftsland, das Körpergewicht, Leistungen seien, die nicht nur von der Gesellschaft respektiert, sondern auch noch alimentiert werden müssen? Eine Leistung, der gegenüber die Normalität und Banalität des bürgerlichen Alltags nur noch abschätzige Seitenblicke verdient und als „Heteronormativität“ geächtet wird. Denn wer mit dem Fluch des Normalseins behaftet ist, wird das segensreiche Wirken des allsorgenden Staates nur von der anderen Seite kennen lernen. Denn wirklich ernst genommen wird er nur noch vom Finanzamt, das ihm Steuerbescheide zuschickt, und vom „Beitragsservice ARD, ZDF und Deutsch­land­radio“, dessen 1000 Beschäftigte dafür sorgen, so heißt es, dass es einen „un­ab­hängigen, hoch­wertigen und viel­fältigen“ – das vor allem – „öffentlich-rechtlichen Rund­funk in Deutsch­land“ gibt und dem deshalb auch die normalen Bürger, denen er jedes Vierteljahr seine Rechnung schickt, nicht gleichgültig sind.

So etwas entwickelt sich nicht von selbst. Möglich wird es nur durch massive staatliche Einflussnahme. Je weiter sich die Politik von der Alltagswirklichkeit entfernt, desto mehr Gesetze, Erlasse, Verordnungen muss sie produzieren, um die Wirklichkeit den Wunschvorstellungen anzupassen. Das für das kommende Jahr geplante „Selbstbestimmungsgesetz“ wird die absichtliche oder fahrlässige Verwendung unerwünschter Anredepronomen mit empfindlichen Bußgeldern, die Rede ist von 2500 Euro, belegen. In einem Land, dem es innerhalb von acht Jahrzehnten bereits zweimal – im Juni 1942 und im April 2020 – eingefallen ist, das Sitzen auf Parkbänken unter Strafe zu stellen, hat auch das eine gewisse Plausibilität.

 

Verkehrte Welt

„Pünktlich wie die Eisenbahn“ hieß es früher, in der Blütezeit des bürgerlichen Zeitalters. Die Deutsche Bahn AG hat zurzeit eine Pünktlichkeitsquote von rund 50 Prozent, an guten Tagen auch mal 60 Prozent. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG bekommt dafür im Jahr 2023 eine Gehaltserhöhung von zehn Prozent und verdient dann eine knappe Million Euro jährlich – zehn Prozent mehr deshalb, weil er ein anderes Ziel eben doch erreicht hat: Die ICEs haben einen grünen Streifen aufgemalt bekommen, das dient dem Klimaschutz, und die Kleiderordnung wurde liberalisiert: Die Mitarbeiter dürfen „unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer geschlechtlichen Identität ihre Unternehmensbekleidung selbst wählen“. Und mehr noch: Seit Mai 2022 fahren auf ausgewählten Strecken „Female ICEs“: Von der Lokführerin bis zur Zugchefin sind ausschließlich Frauen für die „extra gebrandeten“ – also angemalten – Züge verantwortlich, verkündete die Bahn im Mai. Zeitzeugen berichten, dass auch die „Female ICEs“ nicht pünktlicher sind als die gemischt­geschlechtlichen. Es ist unverkennbar: Die deutsche Gesellschaft sortiert ihre Prioritäten neu. Wahrscheinlich ist es wirklich eine größere – also bonuswürdige – Leistung, gegen jeden gesunden Menschenverstand eine solche Diversitäts­strategie durchzusetzen und damit zur Bewusstseinslenkung beizutragen als einfach nur Züge pünktlich ins Ziel zu bringen.

Eigentlich ist nichts normaler, als dass Menschen verschieden sind. Daraus nun eine Ideologie schnitzen zu wollen, kann nur schief gehen, mit verheerenden politischen und sozialen Folgen. In erster Linie führt es zur Verachtung der Alltäglichkeit. Die auf der falschen Seite der Geschichte stehen, werden zum Objekt unerschöpflicher und doch immer gleicher Schmähungen: Es sind Rassisten, Sexisten, Homophobe, Xenophobe, Transphobe, Islamophobe, Heteronormative, Ableisten, Famillisten, Klassisten, TERFS, die zu allem Überfluss noch Zigaretten rauchen, Diesel fahren und im Urlaub nach Malle fliegen.

Nun ist die Verachtung des normalen Lebens nicht wirklich neu. Bereits 1982 hat Hans Magnus Enzensberger, der seiner Zeit immer einen Schritt voraus war und dessen kürzlicher Tod eine empfindliche Lücke im geistigen Gefüge der Bundesrepublik hinterlassen wird, eine eloquente „Verteidigung der Normalität“ verfasst. Zwanzig Jahre zuvor gehörte er selbst noch zu ihren Verächtern. 1960 hatte sich Enzensberger über die „kleinbürgerliche Hölle“ mokiert, zu der die Bundesrepublik geworden sei. Zwei Jahrzehnte später sah er die Sache anders. Die Beharrlichkeit, der Mut, die Arbeitskraft eben dieser Höllenbewohner könnten vielleicht gar „Garant sein für ein menschenwürdiges Weiterleben“.

In seiner leichtfüßigen Eleganz machte Enzensberger den Lesern deutlich, dass in der „Normalität“ des bundesrepublikanischen Kleinbürgertums jene Tugenden ansässig sind, welche der Gesellschaft nicht nur ihren Wohlstand sichern, sondern auch ihr Überleben ermöglichen. Sie heute auch nur beim Namen zu nennen, könnte schon unter „Hate Speech-“Verdacht fallen: Arbeitsamkeit und Fleiß, Reinlichkeit und Sparsamkeit, Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit sind die Tugenden einer untergegangenen Welt. Der Philosoph und Pädagoge Otto Bollnow hat vor einem halben Jahrhundert diese „bürgerlichen Tugenden“ letztmals vermessen und, fern von aller Euphorie, nüchtern nach ihrem praktischen Gebrauchswert gefragt. Moralische Fragestellungen stehen dabei nicht zur Debatte. Er verweist schlicht auf die Funktionalität dieser „bürgerlichen Tugenden“, die erfolgreiches wirtschaftliches Handeln und bürgerlichen Wohlstand überhaupt erst ermöglicht haben.

 

Die alte und die neue Welt

Die bürgerlichen Tugenden sind unattraktiv geworden in einer Lebenswelt, deren Leitlinien Diversität und Work-Life-Balance heißen. Denn Tugenden müssen sich im täglichen Handeln eines jeden Einzelnen bewähren. Die „Werte“ hingegen, die in der bundesrepublikanischen Politik und Gesellschaft so großes Renommee haben, sind leichter zu haben. Sie bewähren sich im „Zeichen setzen“ und „Haltung zeigen“. Das ist schnell erledigt.

Dass Tugenden wie Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit in einer modernen Gesellschaft nach wie vor die Grundlage des sozialen Zusammenhalts bilden, ist nur noch schwer zu vermitteln, wenn ihr Fehlen nicht mehr durch den Ausschluss aus der Wohlstandsgesellschaft sanktioniert wird. Zunächst die Bequemlich­keitsverführungen der Wohlstandsgesellschaft und sodann eine großflächige Zuwanderung aus Weltregionen, in denen diese Werte weniger Kredit genießen, haben diesen Tugenden ihre Selbstverständlichkeit genommen.

Es ist schwer zu erkennen, was an ihre Stelle getreten ist. Wer sich einen Eindruck verschaffen will von der intellektuellen Substanz der Klima- und Kartoffelbrei­aktivisten – bei den LGBTQ+- und BIPoC-Aktivisten sieht es nicht besser aus –, muss sich nur die 20-Sekunden-Stellungnahme anhören, welche die Passauer Jurastudentin Mirjam Hermann, in einschlägig begeisterten Medien als „Gesicht“, wenn auch nicht gerade als Gehirn, der „Letzten Generation“ gefeiert, im November 2022 in die Mikrofone gesprochen hat. Unverkennbar sind es nicht die hellsten Köpfe der Republik, die sich hier zusammengefunden haben.

Generell steht dahinter wohl die Idee, dass jede einzelne dieser Anspruch erhebenden sozialen Splittergruppen für sich ein gutes Leben auf Kosten anderer wünscht. Am Ende ist es wohl das biblische Modell aus dem Matthäusevangelium, das der Sache noch am nächsten kommt: „Seht, die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch“ (Mt. 6,26), wobei allerdings in diesem Fall der Herr in Berlin sitzt und die Nahrung aus großzügig verteilten Steuergeldern besteht. Mit dem „Bürgergeld“ wird die Entkopplung von Lohn und Leistung vollendet und das Ende der bürgerlichen Welt besiegelt. Nun sind es aber bei weitem nicht nur Transferleistungen dieser und vieler anderer Art, welche über die unüberschaubare Zahl anspruchsberechtigter Mikroidentitäten ausgeschüttet werden. Neben einem ständig wachsenden partei- und regierungsnahen Beamtenapparat bauen die Regierungsparteien ihre Vorfeldorganisationen immer weiter aus und holen immer größere Bevölkerungskreise in den Schutzbereich staatlicher Alimentierungen hinein.

Wer die Entwicklung der deutschen Gesellschaft und speziell die des Bildungs­wesens in den vergangenen beiden Jahrzehnten aufmerksam verfolgte, hat es kommen sehen: das konnte nicht gutgehen. Die Entwertung des Wissens und des Intellekts, die Verbannung alteuropäischer Tugenden aus den Lehrplänen und Klassenzimmern, die Entkopplung von Lohn und Leistung, die maßlose Übersteigerung individueller Ansprüche an den Staat mussten die Grundlagen der bürgerlichen und damit auch der Wohlstandsgesellschaft zerrütten.

 

Langsam wird es zu bunt

Deutschland ist bunt, sagt man gerne. Langsam wird es aber zu bunt, so bunt, dass die Gesellschaft nicht mehr funktionieren kann. Die Lebensformen der einen und der anderen fallen weit auseinander. Die politischen und medialen Meinungsführer und Sinnstifter haben sich in ihrer eigenen Wertewelt gut eingerichtet, die weit entfernt ist von der Realität der normalen Bevölkerung. Aber auch die Zugewanderten sind nur Verfügungsmasse in diesem großen Spiel. Von der Diversitätspolitik werden sie nicht profitieren. Diesen Verteilungskampf fechten die BIPoC-,  LGBTQ+- und Klima-Eliten unter sich aus.

Aber es wird langsam eng. Denn die Welt, in der sie leben, ist eine künstliche Welt. Sie wird am Leben gehalten durch politischen und juristischen Druck, staatliche Alimentierung und ununter­brochene ideologische Heißluftzufuhr aus den Medien. Sie wird zusammenfallen wie ein gestrandeter Heißluftballon, wenn der kalte Hauch der Wirklichkeit das Land durchzieht. Und wenn es ernst wird,  werden wieder die zu Wort kommen, die das geblieben sind, was sie immer waren: normal.

 

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Am ersten Weihnachtsfeiertag, 25. Dezember 2022, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag

 

Vom „Wiener Kreis“ zu „Follow the Science“. Die Theoriegeschichte eines Irrtums

 

von Peter J. Brenner gesendet. Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.

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Vom „Wiener Kreis“ zu „Follow the Science“
Die Theoriegeschichte eines Irrtums

Im politischen Kampfruf „Follow the Science“ spiegelt sich das hohe Ansehen, das „die Wissenschaft“ heute hat. Dieses Ansehen verdankt sich nicht zuletzt den Philosophen, die sich in den Jahren um 1930 unter dem Namen „Wiener Kreis“ zusammengefunden hatten. Ihr eigentliches Ziel der Begründung einer ratio­na­listischen Weltauffassung haben sie nicht erreicht. Aber in Auseinandersetzung mit Ludwig Wittgenstein und Karl R. Popper haben sie Impulse für das Wissenschafts- und Politikverständnis gegeben, die bis heute nachwirken.