Von kommenden Dingen

„Wir wollen eine Kultur des Respekts befördern – Respekt für andere Meinungen, für Gegenargumente und Streit, für andere Lebenswelten und Einstellungen.“ So steht es im Koalitionsvertrag der designierten Bundesregierung, und so hört man es gerne. Ob es aber auch wahr ist? „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“, heißt es in Goethes „Faust“. Der Vertrag wurde am 24. November 2021 der Öffentlichkeit von führenden Parteimitgliedern präsentiert. Niemand trug eine Maske, und niemand hielt den behördlich vorgeschriebenen Abstand von 1,50 Metern ein.

Diese Botschaft ist jedenfalls glaubwürdig: „Quod licet Iovi, non licet bovi“ – zu Deutsch: Was scheren uns, die künftigen Regierungsmitglieder, die Regeln, die wir für das einfache Volk erlassen? Nicht anders war es beim Gruppenbild der neu gewählten SPD-Bundestagsfraktion, deren 206 Mitglieder, darunter wiederum der designierte Bundeskanzler, sich dicht gedrängt und – mit einer notorischen Ausnahme – maskenlos der Öffentlichkeit präsentieren, und nicht anders war es beim Gruppenbild des neuen Bundestagspräsidiums, dessen weiblicher Teil sich als Ikonen des schlechten Geschmacks, aber wiederum maskenlos präsentierte.

Aber vielleicht haben sie die Regeln auch einfach nicht verstanden? Das wäre immerhin verständlich. In Berlin galt zum Zeitpunkt der Fotoaufnahmen folgende Regelung: „Sofern in dieser Verordnung eine Zutrittssteuerung vorgesehen ist, gilt bei der Öffnung einer Einrichtung die Steuerung des Zutritts zur Sicherung des Mindestabstandes ein Richtwert von insgesamt höchstens einer nutzenden Person pro 5 Quadratmetern der für den jeweiligen Zweck genutzten Fläche für die maximal zulässige Anzahl von Besucherinnen und Besuchern oder anderen Nutzenden je genutzter Fläche der entsprechenden Räumlichkeiten.“ So stand es in der „10. Änderungsverordnung der Dritten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaß­nahmen­verordnung“. Hier wird man dem noch amtierenden Bundesinnenminister Recht geben müssen, der wenige Tage zuvor, am 13. November 2021, der „Augsburger Allgemeinen“ erklärt hatte: „Das ganze Durcheinander kann doch niemand mehr verstehen“.

Aber jetzt wird Ordnung geschaffen. Die Impfpflicht rückt in greifbare Nähe, zunächst für das Pflegepersonal, dann für alle, zumindest für die braven Bürger. Denn man wird nicht ernsthaft daran glauben, dass die Impfpflicht dort durchgesetzt werden kann, wo Recht und Gesetz in Deutschland ohnehin nicht gelten – an den Grenzen, in den No-Go-Areas der deutschen Großstädte, in den Sammelunterkünften und in den besetzten Häusern.

1960 gewann John F. Kennedy seinen Wahlkampf gegen Richard Nixon mit einer einfachen Frage: „Würden Sie von diesem Mann einen Gebrauchtwagen kaufen?“ Die Frage war bekanntlich berechtigt und die Botschaft ist klar: Demokratie beruht auf Vertrauen. Wie viel Vertrauen die künftige Bundesregierung verdient, wird sich zeigen. Einen guten Start hat sie schon gehabt: Sie dürfte die erste Bundesregierung werden, die bereits vor ihrer Amtseinführung mit der geplanten Einführung einer Impfpflicht ein zentrales Wahlkampfversprechen gebrochen haben wird. Eine neue Lage habe sich ergeben, heißt es beschwichtigend, und in der Tat: die neue Lage heißt „Impfdurchbrüche“ oder genauer: Impfversagen. Aus diesem Impfversagen nun eine Impfplicht abzuleiten, ist ein dialektisches Kunststück, das den geradliniger denkenden Beobachter etwas irritiert, ihm aber auch Bewunderung abnötigt. So funktioniert Macht, wenn man sie erstmal hat. Das gesunde Volksempfinden haben sie jedenfalls auf ihrer Seite.

 

Das „Diktat der Ungeimpften“

Aber das reicht nicht.  Die zum Teil drastischen staatlichen Maßnahmen zeitigen nicht die versprochenen Wirkungen. Das ist schwer zu ertragen und hat zwei schlichte, aber hochwirksame Erzählungen hervorgebracht.  Zum einen gilt das Prinzip „Mehr vom Falschen“: Die Maßnahmen seien richtig, aber nicht drastisch genug. Zum anderen heißt es, die „Impfverweigerer“ seien Schuld – an allem. Damit hat der Feind ein Gesicht bekommen.

Die wenigen Kritiker dieser Entwicklung verweisen gerne auf den „Sündenbock“ aus dem dritten Buch Mose. Aber das trifft es nicht. Der Sündenbock hatte eine befriedende Wirkung; die Kampagnen gegen Impfkritiker hingegen gießen immer wieder neues Öl ins Feuer. Den Historiker erinnert die aktuelle Corona-Diskursformation eher an die „Dolchstoßlegende“, die nach dem Ersten Weltkrieg das politische Klima in der Weimarer Republik vergiftete. Bis in die letzten Kriegswochen hinein, in aussichtsloser militärischer Lage, wurde den deutschen Truppen wie der Zivilbevölkerung die Möglichkeit eines Sieges, eines „Siegfriedens“, vorgegaukelt, den Akteuren an der Front wie im Binnenland wurden  immer größere Entbehrungen auferlegt und letzte Opfer abverlangt. Aber am Ende kam es doch, wie es kommen musste: der Krieg war verloren. Er war verloren; aber angesichts der Opfer durfte er nicht sinnlos gewesen sein, und vor allem: Die Verantwortlichen suchten eine Möglichkeit, sich klammheimlich aus der Verantwortung zu stehlen. Das war die Geburtsstunde der „Dolchstoßlegende“. Man habe alles richtig gemacht, man könne keine Fehler erkennen, man sei im „Felde unbesiegt geblieben“, und wenn man den Krieg doch verloren habe, so sei der Feind im eigenen Land verantwortlich; eine Verräterverschwörung – damals waren es die Linken –, die dem Heer den Dolch in den Rücken gestoßen hätten.

Das hat damals funktioniert, und es funktioniert heute wieder. Das Vokabular reicht von den Covidioten über die Solidaritätsverweigerer bis zu den Gefährdern, ein Begriff, den der Verfassungsschutz üblicherweise für potentielle Terroristen reserviert hat; vom „Diktat“, wahlweise auch der „Tyrannei der Ungeimpften“ ist die Rede, von „Dunkeldeutschland“, von den Ungeimpften, welche „die Mehrheit terrorisieren“ und in „Geiselhaft“ nehmen. Hier ist man versucht, den Satz zu zitieren, den der vormalige Bundeskanzler Willy Brandt im Mai 1985 aus gegebenem Anlass über den damaligen CDU-Generalsekretär Geißler äußerte. Aber es gibt auch mildere Töne: Der Bundesgesund­heitsminister sieht im Impfen eine „patriotische“, die neue EKD-Ratsvorsitzende hingegen eine „christliche Pflicht“ – was die Frage aufwirft, welche Pflichten den Muslimen ohne deutschen Pass obliegen.

Ein Blick in die Zeitungen der letzten zwölf Monate würde die künftige Regierung Demut lehren, aber mit Demut wird man nicht Minister. Noch am 29. Juni 2021 verkündete die „Bild“-Zeitung den unumstößlichen Konsens der Wissenschaft : „Hammer-Studie zu Moderna und Biontech: Jahrelanger Schutz nach Impfung!“ Keine fünf Monate später ist von diesen Versprechungen nichts mehr übrig. Nachimpfungen sind erforderlich; auch Geimpfte können erkranken und auch sie sind infektiös. Es bleibt nur als letzte Rückzugslinie, dass ohne Impfung alles noch viel schlimmer würde – das mag so sein oder auch nicht. Wissen kann das niemand.

 

„Wir folgen der Wissenschaft“

In der Corona-Epidemie spielen „die Zahlen“ eine entscheidende Rolle. In den Medien erscheinen sie als geheimnisvolle, vielleicht koboldhafte Wesen, die „durch die Decke schießen“ oder gar „explodieren“, auf jeden Fall immer eine Gefahr darstellen. In der nüchternen Welt der Wissenschaft hingegen sind Zahlen Erkenntnisinstrumente, mit denen man die Wirklichkeit mehr oder weniger gut beschreiben kann. „Wir folgen der Wissenschaft“ heißt unverdrossen das aus der DDR-Zeit des „wissenschaftlichen Sozialismus“ übriggebliebene Credo der deutschen Corona-Politik. Aber welche Aussagen kann eine Wissenschaft schon machen, der die elementarste aller Grundlagen fehlt: die Datenbasis?

Ende November teilte das Robert Koch-Institut nicht ohne gewisse Effekthascherei mit, dass inzwischen 100 000 Menschen „an oder mit“ Corona verstorben seien. Aber was denn nun – „an“ oder „mit“? Genau auf diese Unterscheidung kommt es an. Und man müsste noch einiges mehr wissen über Vorerkrankungen, Alter, soziale und, auch das, ethnische Hintergründe der Verstorbenen. Aber das weiß man nicht, und manches will man auch nicht so genau wissen. Am 7. September 2021 beschloss der Bundestag feierlich ein Infektionsschutzgesetz, in dem die Inzidenzzahlen, deren notorischer Mangel an Aussagekraft von Anfang an bekannt war,  durch die Hospitalisierungsrate als Leitwert ersetzt werden sollten. Zehn Wochen später ist davon nicht mehr die Rede – nach wie vor sind die Inzidenzzahlen weiterhin die Grundlage für massive staatliche Eingriffe. Nicht ohne Grund: Die Hospitalisierungsrate gibt keine Alarmmeldungen her – allenfalls solche im Konjunktiv. Ende November 2021 liegt sie bei 5,5 und damit weit unter dem Höchststand von vor einem knappen Jahr um die Weihnachtszeit. Da lag sie bei 15,5 – wenn das alles überhaupt stimmt. Denn in der letzten Novemberwoche 2021 zeichnet sich ab, dass der Impfstatus von rund 20 Prozent der hospitalisierten Corona-Patienten unbekannt ist.

Die Medizin, in Deutschland früher auch mal „Heilkunst“ genannt, spielt bei diesen Entwicklungen ihre eigene Rolle. Dass bei den Massenimpfungen noch ein gründliches Aufklärungsgespräch zwischen Arzt und mündigem Patienten geführt wird, mag nicht recht glauben, wer die langen Schlangen vor den Impfzentren auf Supermarktparkplätzen mit Bratwurstständen oder in Turnhallen gesehen hat.  Aber immerhin machen diese Bilder die an sich ja etwas merkwürdige Tatsache plausibel, dass der Präsident der obersten Gesundheitsbehörde ein Veterinärmediziner ist.

Demnächst wird man übrigens eine weitere Kennzahl einführen müssen: Die Impfpass­fälschungen schießen durch die Decke. In den meisten Fällen sind solche Fälschungen nicht einmal strafbar, wie das Landgericht Osnabrück in seinem Beschluss vom 26. Oktober 2021 mit Erstaunen feststellte. Der Bundesjustiz­ministerin Christine Lambrecht – wohl keine Prädikatsjuristin, aber SPD – ist es nämlich bei der Novelle des Infektionsschutzgesetzes vom 1. Juni 2021 nicht gelungen, die Strafbarkeitsvoraussetzungen juristisch sauber zu formulieren, sodass eine „Strafbarkeitslücke“ besteht. Das passt ins Bild.

 

Maßnahmen

Wenn ein Volk seiner Regierung nicht mehr vertraut, kann es sie abwählen. Umgekehrt ist es schwieriger. Was passiert, wenn eine Regierung ihrem Volk nicht mehr vertraut? Dann kann die Regierung „Maßnahmen“ ergreifen. Am 19. November 2021 verkündete die bayerische Staatsregierung ein Verbot aller Weihnachtsmärkte – wenige Tage bevor der erste hätte stattfinden sollen. Markthändler und Schausteller hatten gerade ihre Großhandelseinkäufe getätigt und teure Hygienekonzepte vorbereitet. Die Kaltblütigkeit – heute sagt man wohl „Empathielosigkeit“ –, mit der hier mittelständische Existenzen vernichtet werden, entspricht nicht dem Bild des fürsorglichen Staates. Es ist eher das Bild eines Maßnahmenstaates, der nicht mehr weiter weiß. Denn in diesem Fall hatte „die Wissenschaft“, nämlich der Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, ganz klar eine gegenteilige Empfehlung gegeben: Die Ansteckungsgefahr bei Weihnachtsmärkten in der freien Luft sei minimal; hingegen berge die Verdrängung von adventlichen Feiern in private Innenräume ein erhöhtes Risiko.

Im amerikanischen Exil hat Ernst Fraenkel, nach seiner Rückkehr aus der Emigration einer der bedeutendsten deutschen Politologen, sein berühmtes Buch über den „Doppelstaat“ geschrieben. Neben den „Normen“ des Rechtsstaates, die für alle in gleicher Weise in jeder Situation gelten, entfesselt der Doppelstaat eine Fülle von „Maßnahmen“, die willkürlich je nach tagespolitischer Opportunität und Zweckmäßigkeit mal hier und mal dort getroffen werden, die für diese, aber nicht für jene, die heute, aber vielleicht nicht mehr morgen, gelten. Das ist der Weg, den die deutsche Bundesregierung in der Corona-Krise gegangen ist und der hohe Akzeptanz in der Bevölkerung und jüngst auch beim Verfassungsgericht gefunden hat. Der Weg führt aber auf eine schiefe Ebene, auf der die Demokratie schnell ins Rutschen geraten kann. Lettland zeigt, wie es weiter geht: Hier wurden die neun ungeimpften Parlamentarier durch einen einfachen Mehrheits­beschluss der Parlamentskollegen aus der Volksvertretung Saeima ausgeschlossen und durch geimpfte Nachrücker ersetzt, allen Ernstes mit dem Argument, dass damit das Vertrauen in die Impfung gestärkt werden solle. Von einem Vertrags­verletzungsverfahren der EU-Kommission war nichts zu hören.

Eine demokratieverträgliche Lösung, die eines zivilisierten Staates würdig ist, liegt auf der Hand: Wer sich impfen lassen will, soll es tun; und für alle wird je nach – seriös ermittelter – Situation eine Testpflicht oder ein freiwilliges Testangebot auf Vertrauensbasis umgesetzt. Nicht schlecht wäre es auch, wenn man die Intensivbettenkapazität wieder aus‑ statt weiter abbauen würde. Mehr kann der Staat nicht tun; alles was darüber hinausgeht, führt zu einer Voodoo-Politik unhaltbarer Versprechungen. Den saisonalen Verlauf von viralen Epidemien wird auch die künftige Bundesregierung nicht abschaffen können.

 

Spiel mit dem Feuer

Aber um die Epidemiebekämpfung geht es längst nicht mehr. Mit ihren „Maßnahmen“, deren ultimative dann die „Impfpflicht“ sein wird, will die Regierung unverhohlen die Abweichler zur Räson bringen. Dazu hat Brecht 1930 ein passendes Lehrstück unter eben diesem Titel „Die Maßnahme“ geschrieben. Man weiß, wie es ausgeht: Der Gefährder, der sich die Maske abgerissen hat, stimmt seiner eigenen Ermordung zu, um das Kollektiv zu retten. Wie die künftige Regierung ihre „Maßnahmen“, die immerhin rund 15 bis 20 Millionen Menschen betreffen werden – genau weiß man auch das nicht – , durchsetzen will, hat sie noch nicht verraten. Angedeutet wurden Geldstrafen in Höhe von 2500 Euro. Und wenn das nicht reicht? Was kommt dann? Internierung? Zwangsimpfung? Gefängnis? Und was ist mit denen, die sich gehorsam, aus Überzeugung oder sozialem Druck sich beugend, haben impfen lassen und deren Impfschutz nach vier oder sechs Monaten unwirksam geworden ist? Die werden sich düpiert vorkommen, wenn sie plötzlich wieder zu den geächteten Ungeimpften gehören, und nichts ist politisch so brisant wie enttäuschtes Vertrauen. Die Regierung treibt hier ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.

Aber eigentlich besteht kein Anlass zur Sorge: Eine allgemeine Impfpflicht wird nicht kommen, höchstens die Simulation einer Impfpflicht. Denn bevor man die ganze Bevölkerung impfen kann, und das konsequenterweise alle sechs Monate, muss man erst einmal den nötigen Impfstoff haben, und zwar einen, der auf die jeweilige Virusvariante angepasst ist. Ebenso muss man einen Überblick haben über Geimpfte, Genesene und Ungeimpfte. Das wird einem Behördenapparat schwer fallen, der schon Probleme mit dem auf elf Jahre gestreckten Umtausch der Führerscheine hat, weil, so berichtet der Mitteldeutsche Rundfunk, die „große Anzahl der Fälle vom Gesetzgeber offenbar deutlich unterschätzt worden sei“. Das mutet vertraut an.

Jedenfalls ist die deutsche Regierung weit davon entfernt, die logistischen, juristischen und politischen Probleme einer allgemeinen Impfpflicht auch nur erkannt, geschweige denn gelöst zu haben. Bis sie so weit ist, ist die Epidemie vorbei.

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Mehr zum Thema finden Sie in den Beiträgen von Peter J. Brenner im Diskussionspodcast „indubio“ vom 14. November 2021 und in der Zürcher  „Weltwoche“ vom 18. November 2021.

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Aber trotz allem: Den Leserinnen und Lesern des Bildungsblogs wünsche ich friedliche Adventswochen, die  Zeit zur Besinnung auf das Wesentliche  bieten mögen – und das ist bestimmt nicht die Corona-Politik.