Eine Hochzeit auf der Traum-Insel

In seinen „Lutetia“-Berichten aus Paris zitiert Heinrich Heine 1842 das Aperçu des französischen Publizisten und Politikers comte de Salvandy: „Nous dansons sur un volcan“, „wir tanzen auf einem Vulkan“, sagte er im Juni 1830 bei einem rauschenden Fest des Herzogs von Orléans.

Das ist lange her, fast zweihundert Jahre. Aber wer Anfang des Monats Juli 2022 seinen Blick nach Sylt richtete, dem musste sich das Aperçu erneut aufdrängen. Hier heiratete ein Mitglied der deutschen Bundesregierung. In der deutschen Publizistik wurde das Sylter Fest mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Selbst die Hauptstadtpresse, die keine noch so kleine Gelegenheit auslässt, Liebebriefe an die Bundesregierung zu versenden, blieb recht reserviert, vereinzelt hörte man sogar kritische Töne. Sie bezogen sich allerdings kurioserweise meist darauf, dass die evangelische Kirche die Trauung von zwei Personen vorgenommen hat, die beide aus eben dieser Kirche ausgetreten sind.

Der Bundeskanzler, der selbst mit seiner Gattin – übrigens Bildungsministerin in Brandenburg – zu Gast war, versuchte, die Wogen zu glätten, goss aber eher ungewollt Öl ins Feuer. Sylt, so ließ er im Nachhinein mitteilen, sei nun einmal der Traumort der Deutschen. Da ist er allerdings nicht mehr ganz à jour. Die Zeiten, in denen sich ein Henri Nannen, ein Rudolf Augstein, ein Gunter Sachs, eine Brigitte Bardot, eine Soraya und ein Axel Springer oder ein Fritz J. Raddatz auf Sylt trafen, sind schon einige Jahrzehnte vorbei. Politiker waren damals noch nicht dabei.

Der Bräutigam ist Finanzminister und Vorsitzender einer Kleinpartei, die frisch getraute Braut ist ebenso wie ihre Vorgängerin Redakteurin im Verlagshaus Springer, was offensichtlich für ihren Arbeitgeber kein Problem darstellt. So war es eine etwas mühsame Angelegenheit, aus der Allerweltshochzeit eines Brautpaares mittlerer Prominenz eine glamouröse Medienschau zu machen. Aber ein paar Akzente hat man doch gesetzt. Neben dem Brautkleid erregte die Tatsache Aufmerksamkeit, dass die Traurede von dem Philosophen Peter Sloterdijk gehalten wurde. Was den dazu bewogen haben mag, ist nicht leicht zu erschließen. Vielleicht war es der Lockruf des Geldes. Den Philosophen Sloterdijk kann man buchen wie einen Clown zum Kindergeburtstag; er wird sogar von gleich zwei Agenturen vermarktet. Wenn der Philosoph für seinen Auftritt in Sylt ein Honorar bekommen hat, dürfte es in der Dimension dessen liegen, was das Brautkleid kostete, also ungefähr die Hälfte dessen, was ein deutscher Rund­funkintendant wie Tom Buhrow zu bekommen pflegt, wenn er sein kärgliches Jahressalär von 400 000 Euro durch halbstündige Vorträge beim Sparkassen­verband oder der Deutschen Bank aufbessert.

Vielleicht war die philosophische Traurede aber auch eine Gegenleistung dafür, dass der Finanzminister einige Monate zuvor Zeit gefunden hatte, seinerseits eine Laudatio anlässlich der Verleihung des „Europapreises für politische Kultur der Hans-Ringier-Stiftung“ an den Philosophen zu halten. Diese Laudatio für den Duz-Freund Sloterdijk vom August 2021 nachzulesen lohnt sich. Sie enthielt Aussagen zu den Themen Migration, Klima und vor allem Corona ­– Aussagen des damaligen FDP-Oppositionspolitikers Lindner, von der der Regierungspolitiker Lindner nichts mehr wissen will.

Neben dem Brautkleid und dem Philosophen erregte das Flugzeug eines Hochzeitsgastes besondere mediale Aufmerksamkeit. Durchgehend wurde berichtet, der deutsche Oppositionsführer – der eigentlich alt genug ist, um es besser zu wissen – sei mit einem eigenhändig pilotierten „Privatjet“ nach Sylt zur Hochzeit angereist. Der deutsche Politik-Journalismus kennt sich bei Brautmoden zweifellos besser aus als in der Flugzeugtechnik. Tatsächlich war der Privatjet ein zweimotoriges Propellerflugzeug DA 62 des österreichischen Herstellers Diamond Aircraft, das schon für eine Million Euro zu haben ist, immerhin dem Sechsfachen des Preises, den die Braut für ihren Porsche Targa gezahlt hat, mit dem sie bei der Kirche vorgefahren ist. Ein „Privatjet“ – das ist etwas anderes als ein Propellerflugzeug – ist aber für nicht unter drei Millionen Euro zu haben.

 

Was treibt sie an?

Man könnte und sollte das alles einfach mit Schweigen übergehen. Aber interessant ist es doch. An den Preisen ihrer Verkehrsmittel oder den Namen der geladenen Gäste lässt sich, anders als die Regisseure dieser Inszenierung glauben, keine soziale Rangordnung mehr ablesen. Wohl aber lässt sich aus ihnen ein Rückschluss ziehen auf das Selbstverständnis derer, die sich in dieser Weise öffentlich dem Publikum präsentieren.

Wer seine Distinktionsbedürfnisse derart penetrant durch die Anhäufung von materiellen Prestigesymbolen der Öffentlichkeit vor Augen führt, demonstriert zunächst einmal nur seine eigene Statusunsicherheit. Vor nunmehr fast einem halben Jahrhundert hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu sein berühmtes Buch „La Distinction“ veröffentlicht, in der deutschen Übersetzung noch treffender mit „Die feinen Unterschiede“ betitelt. Bourdieu beschreibt das Zeichensystem, mit dem in der mdoernen Gesellschaft soziale Unterschiede nicht nur markiert, sondern auch hergestellt werden. Ein wesentliches Merkmal ist der „Geschmack“, an dem sich die gesellschaftliche Schichtung ablesen lässt. Bei der oberen Klasse ist der Zugang zu ästhetischen Werten gekennzeichnet durch „Distanz zur Notwendigkeit“, das Kleinbürgertum zeichnet sich durch seine Bildungsbeflissenheit aus, während die untere, die Arbeiterklasse, einen vulgären „Geschmack am Notwendigen“ habe.

Was Bourdieu nicht vorhergesehen hat, ist eine Klasse, die überhaupt keinen Geschmack mehr hat. Dieses Phänomen entsteht, wenn man glaubt, man sei auf der Geschmackskala ganz oben, während man tatsächlich ganz unten steht. Dann glaubt man, ästhetische Werte oder Bildungsgüter durch Geld ersetzen zu können So gedeutet, zeigt die Sylter Inszenierung eine tiefe soziale Verunsicherung. Die Spitzenpolitiker dieser Republik wissen offensichtlich nicht mehr, welchen Ort sie in der Gesellschaft haben und wofür sie da sind.

Nun könnte man sagen, Politiker sind dazu da, Politik zu machen, am besten Politik „zum Wohle des Volkes“, wie es irgendwo an prominenter Stelle heißt. Aber so einfach scheint es nicht mehr zu sein. Seine dreitägigen Hochzeitsfeierlichkeiten haben den Finanzminister von seinem Dienstsitz in Berlin ferngehalten. Sein Platz blieb leer, als der Bundestag über die nicht ganz unwichtigen Fragen der künftigen Energieversorgung debattierte. Während der Finanzminister mit seinen Hochzeitsfeierlichkeiten beschäftigt war, brach in Deutschland zudem das Computer­programm der Finanzämter zusammen: „Aufgrund enormen Interesses an den Formularen zur Grundsteuerreform kommt es aktuell zu Einschränkungen bei der Verfügbarkeit“. Dabei hätte man eigentlich wissen müssen, dass nach zwei langen Corona-Jahren ein Großteil der Deutschen auf nichts sehnlicher wartet als auf neue Anweisungen der Regierung. Diesmal kamen sie vom Finanzamt mit der Aufforderung an alle Wohneigentümer, auf den Böden ihrer Wohnungen herumzukriechen und die Tiefe von Heizkörpernischen auszumessen. Dass sie das sofort tun würden,  dann an den Computer eilen, eine FFP2-Maske aufsetzen und die Daten spornstreichs ans Finanzamt übermitteln wollen würden, war leicht vorauszusehen. Vorauszusehen war freilich ebenso, dass das nicht funktionieren würde, ebenso wie im Augenblick in Frage steht, ob die im Mikrozensus erhobenen Daten – die sich interessanterweise ebenfalls auf den Wohnraum bezogen – von den zur Verfügung stehenden Computerprogrammen überhaupt verarbeitet werden können.

Das wären nun freilich Dinge, um die sich eine Regierung kümmern sollte. Wenn politische Führungsfiguren rauschende Feste feiern, statt sich um ihre Alltagsgeschäfte in den Griff zu bekommen, hinterlässt das einen schlechten Eindruck, und der schlechte Eindruck verstärkt sich, wenn die Regierung parallel zu den Feierlichkeiten ihre deutschen Landsleute zum Wohlstandsverzicht, zum Sparen und zum Frieren auffordert.

Das alles ist ja nicht neu. Wiederum Heinrich Heine hat schon vor fast 200 Jahren in seinem „Wintermährchen“ dazu gesagt, was dazu zu sagen ist:

„Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn’ auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.“

 

„Nach uns die Sintflut“

Aber es steckt noch mehr dahinter. Dass man sich auch  in schlimmen Verhältnissen gut zurechtfindet, haben jene beiden Mitglieder des Bundeskabinetts gezeigt, die als Touristen an die Front in Kiew gereist sind, um der dortigen Regierung ihre Solidarität auszudrücken. Ganz ungeniert verbreiteten sie ein Foto, auf dem sie gemeinsam mit dem Kiewer Bürgermeister in bester Partylaune und mit breitem Grinsen Sektgläser in die Kamera halten.

Erklärbar sind solche eklatanten Fehlgriffe, die jeden politischen Instinkt vermissen lassen, nur aus einer Endzeitstimmung heraus. Dieses seltsame Phänomen konnte man schon 1989 in der DDR beobachten: Am 7. Oktober gab es eine Ehrenparade der Nationalen Volksarmee zum 40. Jahrestag der DDR, sechs Wochen später war alles vorbei. Auch die Herren des Politbüros, die sich in der Waldsiedlung Wandlitz eingebunkert und vom Volk abgeschottet hatten, hielten ihren spießbürgerlichen, aus westdeutschen Warenhauskatalogen bezogenen Lebensstil für luxuriösen Glamour, von dem sie glaubten, das Volk werde sich davon blenden lassen, während er sie nur selbst blendete.

Ob sie in der Endphase ihrer Deutschen Demokratischen Republik geahnt hatten, was auf sie zukam? Vielleicht haben sie irgendwann bemerkt, dass sie zwar nicht auf der richtigen Seite der Geschichte, aber auf der richtigen, nämlich der angenehmen Seite des Lebens gestanden haben. Ihre Vorgänger in der Berliner Regierung wussten das jedenfalls. Als der preußische Ministerpräsident, Reichsmarschall, Reichsjägermeister, Kunsträuber und Kriegsverbrecher Hermann Göring sich am 7. Mai 1945 im Salzburger Pinzgau der 36. US-Infanteriedivision ergab, bemerkte er lapidar: „Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt.“

Etwa eleganter hat das die Marquise von Pompadour ausgedrückt. Die Nachricht von der Niederlage der französischen Truppen gegen Friedrich II. in der Schlacht bei Roßbach 1757 erreichte Paris während einer rauschenden Ballnacht. Die Marquise kommentierte die Störung mit dem geflügelten Wort: „Après nous le déluge“ – „nach uns die Sintflut!“

 

Der Volksaufstand

In einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sprach die Außenministerin in der ihr eigenen Unbefangenheit von ihrer Befürchtung, eine Gaskrise könne einen „Volksaufstand“ auslösen. Da kann man sie beruhigen. Wo kein Volk ist, kann es keinen Volksaufstand geben. Man kann sich darauf verlassen, dass die schon länger hier Lebenden jede beliebige Drehung an der Gas- und Strompreisspirale hinnehmen werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Außenministerin ausgeplaudert hat, was im Bundeskabinett als mögliches Szenario diskutiert wird. Schließlich hat die Innenministerin schon vor ihrem Galaauftritt in Kiew der Öffentlichkeit versichert, man sei gut gerüstet gegen Proteste, denn die kämen von rechts, und da kenne man sich aus.

Das mag so sein. Aber wahrscheinlich wird der Aufstand nicht von dort kommen. Als 1952 die staatliche Wohnungsbauprämie eingeführt wurde, soll Adenauer sie mit dem lapidaren Hinweis begründet haben: „Hausbesitzer machen keine Revolution“. Da hatte er wohl Recht. Hausbesitzer besetzen keine fremden Wohnungen und sie plündern keine Ladenlokale, allenfalls müssen sie damit rechnen, selbst geplündert zu werden – und das nicht nur vom Staat.

Anders gesagt: Man muss nicht ernsthaft damit rechnen, dass die, die schon länger hier wohnen, so rechts sie auch sein mögen, jemals einen Aufstand in Erwägung ziehen. Im Innenministerium geht man offensichtlich davon aus, dass der größte anzunehmende Aufstand darin bestehen könnte, dass Bürger sich eine FFP2-Maske anlegen und in 1,50-Meter-Abständen auf der Straße spazieren gehen. Dass sie damit fertig werden zu können glaubt, nimmt man der Innenministerin gerne ab. Aber es kann auch ganz anders kommen.

Ein deutscher Soziologe hat einmal bemerkt, dass man Straßenbahn fahren müsse, wenn man eine Gesellschaft kennenlernen wolle. Das gilt umgekehrt ebenso. Wer sich im Dienstwagen durch das Land chauffieren lässt, lernt es nicht kennen. Und es steht zu befürchten, dass in den allmorgendlichen Pressemappen der Minister die entscheidenden Schlagzeilen fehlen: „Männer des Abou-Chaker-Clans randalieren an der Charité“; „Hochzeitskorso bremst 45 Minuten lang Verkehr auf Autobahn Richtung Franken aus“; „Reizgas-Attacke bei Streit im Europapark Rust – 27 Menschen verletzt“; „Erneut Schlägerei und Tumult in Berliner Freibad: 250 Badegäste bedrängen Wachleute“; „Toter in Neukölln – Ermittler fürchten Kämpfe im Clanmilieu“.

Wenn aus der Wohlstandsgesellschaft eine Mangelwirtschaft wird, werden die, die den Wohlstand einst geschaffen haben, geduldig warten, bis sie an der Reihe sind. Bei den neu Hinzugekommenen weiß man das nicht so genau. Sie sind anders sozialisiert, und wie sie auf ein Regime der Mangelbewirtschaftung reagieren werden, sollte man vielleicht besser nicht ausprobieren. Dass es hier immer nach Recht und Gesetz vor sich geht, darf man jedenfalls nicht erwarten.

Der comte de Salvandy sollte übrigens mit seiner dunklen Vorahnung, kurz vor einem Vulkanausbruch zu stehen, recht behalten. Wenige Wochen später kam es zu einem Aufstand der Handwerker und Arbeiter in Paris, in dessen Gefolge die französische Monarchie zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahrhunderts weggefegt wurde. Eugène Delacroix. hat diese Vorgänge in seinem berühmten Gemälde „La Liberté guidant le peuple“ symbolisch verdichtet. Nur wird es diesmal nicht die Freiheit sein, die das Volk führt, und es wird auch nicht das Volk sein, das der Fahne folgt..

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Zusätzlich zum „Bildungsblog“ werde ich künftig einmal im Monat eine einstündige Sendung für kulturhistorisch interessierte Hörer anbieten. Die Serie trägt den Titel: „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ und wird gesendet von „Kontrafunk. Die Stimme der Vernunft“, dem von Burghard Müller-Ullrich begründeten Internetradio.
Der erste Vortrag wurde am Sonntag, 31. Juli 2022, ausgestrahlt:

Prof. Peter J. Brenner

„Die deutsche Südsee – Ein koloniales Missverständnis“

Die Sendung kann als Podcast heruntergeladen werden