Der Freifahrtschein

Neun-Euro-Ticket. Wer denkt sich so etwas aus? Unverkennbar handelt es sich hier um eine Kopfgeburt, entstanden im sozialen Vakuum eines Bundesministeriums, das jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat. Wenn es je eine politische Entscheidung gegeben hat, an der sich die Wirkungsmechanismen des Populismus studieren lassen, dann ist es diese.

Es ist immerhin leicht vorstellbar, dass ein Minister, in diesem Fall der zuständige Minister für Digitales und Verkehr, die Idee gut gefunden hat. Denn er bewegt sich vorwiegend in einem chauffeurgesteuerten Dienstwagen Audi A8 L 60 TFSI e quattro mit 460 PS und einem CO2-Ausstoß von 258 g/km. Beängstigend ist aber, dass sich in dem gewaltigen Beamtenapparat dieses Ministeriums, das immerhin 1245 Personen jederlei Geschlechts beschäftigt, niemand gefunden hat, der das Thema zu Ende durchdenkt und vor allem durchrechnet. Wirklich überraschend ist das aber auch nicht. Irgendwann einmal muss die Durchideologisierung des ministeriellen Beamtenapparates schließlich ihre Früchte tragen.

Die aktuelle Bundesregierung hat bereits jetzt, nach einem halben Jahr Amtszeit, 271 Millionen Euro für externe Berater ausgegeben. Das Verkehrsministerium liegt mit 23 Verträgen über 6,8 Millionen Euro an zweiter Stelle; die meisten dieser Verträge betreffen die Deutsche Bahn. Normale Alltags-Bahnkunden oder der Fahrgastverband Pro Bahn hätten dem Minister sicher auch ganz ohne Vertrag den einen oder anderen Tipp geben können. Die Ahnungslosigkeit des Ministers in Mobilitätsfragen fügt sich übrigens gut ins Gesamtbild dieser Bundesregierung. Als der damalige Finanzminister und jetzige Bundeskanzler gefragt wurde, was ein Liter Benzin koste, antwortete er mit entwaffnender Schlichtheit: „Ich gehe selber nicht tanken.“  Das erklärt vieles.

Für den Audi-fahrenden Verkehrsminister war seine Idee ein Erfolg: „Schon jetzt ist das 9-Euro-Ticket ein Riesenerfolg“, und: „Ihr seid mega – ihr habt bereits 16 Mio. 9-Euro-Ticket​s gekauft!“ versicherte der Öffentlichkeit im Tonfall kumpelhafter Anbiederung, als ob wir alle seinesgleichen seien. Die Nachrichten sprechen eine andere Sprache. In vielen Regionen Deutschlands ist der Bahnverkehr phasenweise zusammengebrochen; Reisewillige konnten wegen Überfüllung der Züge nicht einsteigen; Züge mussten mit Polizeigewalt geräumt werden. Die Initiatoren dieser Kampagne gingen offensichtlich davon aus, dass in Deutschland ewiger Sonntag herrsche. Für einen Großteil der in Deutschland Lebenden gilt das auch, aber gut die Hälfte der Deutschen ist erwerbstätig und muss irgendwie morgens pünktlich zum Arbeitsplatz kommen. Rund 30 Prozent der Pendler benutzen dafür, ob sie wollen oder nicht, den öffentlichen Nahverkehr.

Das Neun-Euro-Ticket ist zunächst einmal ein Beleg dafür, dass die aktuelle Bundesregierung, genauso wie ihre Vorgänger, nicht in der Lage ist, auch nur die einfachsten Dinge des alltäglichen Lebens in Deutschland zu begreifen. Denn dass der öffentliche Personennahverkehr im allgemeinen und die Bahn im besonderen große Probleme damit haben, einen einigermaßen funktionierenden Betrieb aufrechtzuerhalten, ist seit langem kein Geheimnis mehr. Die Bahn hat allerdings auch wichtigere Probleme zu lösen als bloß die Sanierung des Schienennetzes. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat die Deutsche Bahn AG gerade dazu verurteilt, ab 2023 ihr Buchungssystem so umzustellen, dass neben „Herr“ und „Frau“ noch eine andere Ansprache-Option besteht. Außerdem musste sie dem Kläger 1000 Euro Entschädigung zahlen.

 

Infrastruktur

Das Zugunglück am Anfang des Monats bei Garmisch-Partenkirchen, bei dem fünf Menschen – darunter zwei ukrainische Flüchtlinge, die sich in Deutschland wohl in Sicherheit wähnten – ums Leben kamen, hat erneut den desolaten technischen Zustand des Bahnnetzes vor Augen geführt. Dass das deutsche Schienennetz seit Jahrzehnten auf Verschleiß gefahren wird und durchgehend, jenseitsb aller Prestigeprojekte,  sanierungsbedürftig ist, weiß man seit langem. Aber für das Straßennetz gilt das nicht minder. Anfang des Jahres teilte die Autobahn GmbH mit, dass von den von ihr betreuten rund 28 000 Brücken jährlich rund 400 saniert werden müssen. Spektakulär sind die Vollsperrungen der Leverkusener Rheinbrücke (A1), der Salzbachtalbrücke in Wiesbaden (A66) und der Talbrücke Rahmede (A45), die dazu führen, dass die Versorgung ganzer Regionen ins Stocken gerät..

Und dass schließlich der Flugverkehr neuerdings ebenfalls Probleme hat, zeigte sich, parallel zum Neun-Euro-Ticket-Desaster, im Juni 2022. Zum Ferienbeginn in Nordrhein-Westfalen hat allein die größte deutsche Fluggesellschaft 3000 Flüge wegen Personalmangels kurzfristig gestrichen, es wurde von kilometerlangen Schlangen am Düsseldorfer und Köln-Bonner Flughafen berichtet, von Fluggästen, die drei Tage auf ihre Flüge warten und im Flughafen übernachten mussten. An deutschen Flughäfen fehlen aktuell über 7 000 Beschäftigte. Das gehört zu den unabsehbar vielen Folgelasten der Corona-Politik. Um wenigstens die Flughafenmisere zu beheben, hatte der Bundesarbeitsminister eine originelle Idee: Es sollen kurzfristig Fachkräfte aus der Türkei im vierstelligen Bereich herbeigeschafft werden. Irgendein Berater wird dem Minister sagen müssen, dass Beschäftigte in deutschen Flughäfen langwierigen Sicherheitsüberprüfungen nach § 9 Abs. 1a LuftSiG unterzogen werden müssen, die zehn Jahre in die Biographie der Bewerber zurückreichen. Wie das mit in aller Eile rekrutierten türkischen Fachkräften ablaufen soll, verrät der Minister nicht. Auch das gehört zum Phänomenbereich alltagsuntaugliche Ahnungslosigkeit in deutschen Ministerien.

Aber das Problem reicht viel tiefer. Moderne Gesellschaften sind extrem vernetzt und von funktionierenden Infrastrukturen abhängig. Die Infrastrukturen der Daseinsvorsorge gehören nicht nur zu den Voraussetzungen, sondern auch zu den Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt in westlichen Gesellschaften. Sie sind den Menschen zur zweiten Haut geworden, die sie unbemerkt umgibt, auffällig nur dann, wenn sie verletzt wird.

Die Klimaterroristen haben das besser verstanden als jene staatlichen Akteure, denen die Pflege und der Schutz dieser Infrastrukturen anvertraut ist. Die kurz skandalisierte und dann wieder heruntergespielte Drohung einer führenden Klimaaktivistin, man werde Pipelines in die Luft sprengen, war nicht die erste ihrer Art. Vor einem halben Jahr bot ein bekanntes Hamburger Samstagsmagazin einem Klimaterroristen, damals noch „Referent für Klimagerechtigkeit“ in der staatlich alimentierten Rosa-Luxemburg-Stiftung, breiten Raum zur Selbstdarstellung seiner ökofaschistischen Phantasien: „Zerdepperte Autoshowrooms, zerstörte Autos, Sabotage in Gaskraftwerken oder an Pipelines“ findet er legitim und verspricht: „Das wird es nächsten Sommer auf jeden Fall geben“.

Die britische Innenministerin Priti Patel hat vor zwei Jahren diese Art von Angriffen auf die Mobilitätsinfrastruktur als Angriff auf unsere Lebensweise, „our Way of Life“, bezeichnet. Dem werden wohl beide Seiten zustimmen, die Aktivisten wie die Betroffenen. Gemeint ist mit der „Lebensweise“ der Wohlstand der westlichen Gesellschaften. Er hängt wesentlich von der Leistungs‑ oder doch zumindest Funktionsfähigkeit seiner Infrastrukturen ab.

Nun ist es mit dem Wohlstand so eine Sache. „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ schrieb Brecht 1928. Wohlstand für die breite Bevölkerung war in diesen Jahren ein fernes Versprechen. Hundert Jahre später sieht das anders aus. Die mittlere und die junge Generation der Bundesdeutschen ist im Wohlstand aufgewachsen und mit seinen Segnungen so verwöhnt worden, dass sie seiner zusehends mehr überdrüssig wird. Sie glaubt, Wohlstandsverzicht zu leisten, wenn sie vegan isst, mit dem Lastenfahrrad im Bioladen einkauft, die Kinder mit der 6000-Euro-Rikscha zur Kita fährt und die jährlichen Urlaubsreisen auf drei reduziert. Aber wer glaubt, das Wohlstandsmodell habe ausgedient, es habe angesichts der nahenden Klimakatastrophe seine Attraktivität verloren, sollte sich die globalen Migrationsströme anschauen: Sie gehen von Süden nach Norden und nicht umgekehrt.

 

Verkehrswende

Dass sich die bestehenden Verkehrsstrukturen und das Mobilitätsverhalten langfristig ändern müssen, steht außer Frage. Diese Einsicht ist um einiges älter als das Wort „Klimawandel“. Die Endlichkeit fossiler Brennstoffvorkommen wurde schon vor 50 Jahren im Bericht des Club of Rome ins öffentliche Bewusstsein gerufen, auch wenn man sich, wie in der Zukunftsbranche üblich, mit allen Prognosen grob verschätzt hatte. Aber Luftverschmutzung, Lärm, Raummangel, Dichtestress in urbanen Regionen und umgekehrt mobile Unterversorgung im ländlichen Raum sind allein schon in den westlichen Gesellschaften lösungsbedürftige Probleme. Wer sich dann noch die Verkehrsverhältnisse im „Globalen Süden“ anschaut, wird eine Ahnung davon bekommen, dass sich hier noch ein ganz anderer Problemstau aufbaut.

Als der Bericht des Club of Rome erschien, waren in der Bundesrepublik rund 14 Millionen PKW zugelassen, in der DDR ungefähr 200 000. Heute sind es dreieinhalb Mal so viele, und es ist nicht zu erkennen, dass der Zuwachs abflauen wird. In Deutschland sind 2022 gut 48 Millionen PKW zugelassen. Den größten Zuwachs verzeichnete neben den Wohnmobilen das politisch geächtete Segment der SUV. Elektroautos machen mit rund 310 000 Einheiten 0,6 Prozent des gesamten PKW-Bestandes aus, trotz massiver finanzieller und politischer Förderung. Eine Politik, die in den nächsten Jahren auch noch die restlichen 99,4 Prozent des PKW-Bestandes auf Elektromobilität umrüsten will, hat sich also einiges vorgenommen.

Und wenn man diese Segmente des Verkehrs auf Elektromobilität und Öffentlichen Nahverkehr umgestellt hat, steht immer noch ein Elefant im Raum, über den man lieber nicht spricht: Der Schwerlastverkehr. In Deutschland sind 3,5 Millionen LKW zugelassen, und die werden gebraucht. Über drei Milliarden Tonnen Güter werden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mit inländischen LKW transportiert, während der Schienentransport gerade einmal ein Zehntel dieses Umfangs ausmacht. Die Forderung, nun auch die LKW auf Elektromobilität umzustellen, hat noch keiner erhoben, ganz zu schweigen von landwirtschaftlichen Maschinen, Baustellenfahrzeugen und schweren Waffen.

Nun kann man diese Zustände und die Entwicklungen für falsch halten. Sie sind es sicher auch. Wer glaubt, mit dem Verbot des Verbrennermotors irgendetwas anderes zu erreichen als die Verlagerung einer Hochleistungsindustrie nach Asien, wird eines Besseren belehrt werden. Wer heute „Elektromobilität“ sagt, muss erklären können, wie damit die Mobilitäts- und Transportbedürfnisse gedeckt werden, wie der zusätzliche Strombedarf erzeugt wird und wie die ausdienten halbtonnenschweren PKW-Batterien entsorgt werden. Ein Großteil landet sicher auf einer der größten Elektroschrott-Müllkippen Afrikas in Ghanas Hauptstadt Accra, wo er mit Kinderarbeit ausgeschlachtet wird. Es werden neue globale Abhängigkeiten entstehen. Die EU bezieht rund 80 Prozent ihres Lithium-Bedarfs aus Chile. Der enorme Wasserbrauch des Abbaus zerstört das Ökosystem und damit die Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerung, und über die Sozialverträglichkeit des Arbeitskräfteeinsatzes denkt man lieber nicht nach, Lieferkettengesetz hin oder her. Bei der Kobalt-Förderung im Kongo, wo rund 60 Prozent der Vorräte vermutet werden, sieht es nicht besser aus. Genau betrachtet, erlebt die Welt gerade eine neue Welle der Kolonisierung, diesmal im Zeichen des Klimawandels.

 

Der Mythos des Reisens

Dass es mit dem Reisen etwas Besonderes auf sich habe, ist eine Vorstellung, die fest im europäischen Denken ver­wurzelt ist. Es diene der Horizont­erweiterung; es ver­mittele Kenntnisse über die Sitten fremder Länder und könne dazu führen, die eigenen Wertvorstellungen zu prüfen und zu relativieren, schließlich trage es zur Bil­dung des reisenden Subjekts bei. Wer an diese Traditionen anknüpft, und sei es auch nur mit einem Neun-Euro-Ticket und einem Tankgutschein, rührt an tiefverwurzelte Emotionen. Von den alten Mythen des Reisens ist freilich nicht mehr viel übrig geblieben. Denn das Reisen ist zur Ware geworden. Der Tourismus ist einer der wachstumsstärksten Wirtschaftszweige weltweit; er trägt bereits jetzt etwa 10 Prozent zur globalen Wertschöpfung bei.

Über Jahrhunderte hinweg war das Reisen ein hochwirksames Instrument sozialer Distinktion. Es zog eine scharfe Grenze zwischen denen, die es sich leisten können und denen, die es sich nicht leisten können. Der Massentourismus hat diese Grenze aufgehoben, so scheint es.. Aber der Schein trügt. Zu den Symbolereignissen dieser Tage gehören nicht nur die überfüllten Züge nebst Polizeieinsatz am Münchener Hauptbahnhof. Dazu gehört auch das G 7-Treffen in Elmau, 100 Kilometer weiter südlich. 18 000 deutsche Polizisten bewachen die Mächtigen, die aus der ganzen Welt angereist sind, um sich selbst zu feiern, nur wenige Kilometer vom Ort des tödlichen Zugunglücks entfernt. Wer die Bilder vom Münchener Hauptbahnhof und die vom Elmauer Gipfeltreffen nebeneinander stellt, bekommt eine Ahnung von der Schieflage in dieser Gesellschaft, in der die globalen Eliten und die lokalen Heloten immer weiter auseinanderdriften.

Ändern wird sich so schnell nichts daran. Funktionierende Infrastrukturen sind untrennbar verknüpft mit der Idee der guten Gesellschaft. Sie prägen das Leben des einzelnen mehr, als ihm je bewusst werden kann. Man kann sie nicht einfach hinter sich lassen, und über sie lässt sich nicht beliebig verfügen. Die Beharrungs­kraft einmal gewachsener Verkehrsnetze und Mobilitätsgewohnheiten hat Pfadabhängigkeiten geschaffen, die stärker sind als noch so viele Aufrufe, Programme, Maßnahmenpakete und Gipfeltreffen zur „Verkehrswende“. Komplexe Systeme dieser Art vertragen keine disruptiven Eingriffe von außen, schon gar nicht solche, die von vollkommener fachfremder Ahnungslosigkeit gesteuert werden.

Solche Systeme müssen langfristig umgebaut werden, und auch das funktioniert nur, wenn zugleich ebenso langfristig ein Mentalitätswandel eingeleitet wird. Das sind Generationenprojekte, die sich dem Rhythmus von Legislaturperioden und Gipfeltreffen entziehen. Mit den Mitteln, die Politik und Klimaaktivisten heute im Schulterschluss anzubieten haben, lässt sich die sich immer weiter zuspitzende Problemlage gewiss nicht entschärfen. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass eine solche Politik sowohl die binnengesellschaftlichen wie die globalen Konflikte verschärft. Zusammen mit den Wohlstandsverlusten des globalen Nordens und den Wohlstandsansprüchen des globalen Südens ergibt das eine brisante Mischung. Es bleibt spannend.