„Caligula“

1894 veröffentlichte der angesehene deutsche Historiker Ludwig Quidde seine historische Studie „Caligula“. Darin entfaltete er ein Phänomen, das wenige Jahrzehnte zuvor Gustav Freytag „Cäsarenwahnsinn“ genannt hatte. Den „Cäsarenwahnsinn“ schrieb man einer ganzen Reihe römischer Kaiser zu, denen ihr politischer Aufstieg zu Kopf gestiegen war und die daraufhin den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatten. Neben Caligula, der zum Namenspaten von Quiddes Buch wurde, war der prominenteste dieser Fälle Kaiser Nero, der Tacitus zufolge nicht nur für den großen Brand Roms im Jahre 64 verantwortlich gewesen war, sondern der diesen Brand auch von einem Hügel aus beobachtet und musikalisch begleitet haben soll. Ob es so war, weiß man nicht.

Ludwig Quidde beschreibt den römischen Kaiser Caligula auf eine Weise, die bei den Zeitgenossen einige Assoziationen wachrief. Das war auch so gewollt. Unschwer konnte man erkennen, dass sich hinter dem Porträt Caligulas das des amtierenden deutschen Kaisers verbarg. Als Quidde wenig später den Fehler beging, diese Vermutung allzu deutlich zu bestätigen, bezahlte er das mit einigen Monaten Gefängnis wegen Majestätsbeleidigung. „Majestätsbeleidigung“ klingt etwas eleganter als „Delegitimierung des Staates“, aber gemeint ist das gleiche: Kritiker sollen zum Verstummen gebracht werden. 1927 bekam Quidde übrigens den Friedensnobelpreis, weil er einer der engagiertesten Vorkämpfer der internationalen pazifistischen Bewegung war. 1933 musste er aus Deutschland fliehen und starb 1941 verarmt in der Schweiz.

 

Die Schattenwelt der Politik

Das alles sind Vorgänge, die weit über ein Jahrhundert zurückliegen und die die Zeitgenossen der Gegenwart eigentlich nicht weiter bekümmern sollten. So ist es aber nicht. Die römische Antike ebenso wie das deutsche Kaiserreich sowie einiges von dem, was in der deutschen Geschichte danach noch kam, haben eine Lektion hinterlassen, die heute wieder in Vergessenheit geraten ist. Die Vorstellung, man könne einen Staat so regieren, als ob es keine Wirklichkeit gäbe, hat sich zwar nicht bewährt, aber sie scheint wieder zum Leitfaden politischen Handelns geworden zu sein.

Von Tag zu Tag verdichtet sich der Eindruck mehr, dass man es beim aktuellen Bundeskabinett und seiner engeren Umgebung mit unreifen Menschen zu tun hat. Die Außenministerin schwebt auf einer  rosaroten Wolke durch die Welt, überglücklich, dass sie es geschafft hat. Klimaneutral  ist die Wolke übrigens nicht. Mit ihren 67 Dienstreisen per Regierungsflugzeug im ersten Amtsjahr ist die Ministerin die CO2-Queen des Kabinetts. Ihre Emission beläuft sich auf 5000 Tonnen. Der zweite in dieser Kabinettsrangliste ist übrigens ihr Parteikollege, der Klimaschutzminister.

Die Außenministerin merkt wohl wirklich nicht, was um sie herum vorgeht. Der Kanzler hingegen tut so, als würde er es nicht merken oder er hat es vergessen. Beim Bundeswirtschafts- und Klimaminister allerdings hat man den Eindruck, dass er langsam begreift, auf was er sich eingelassen hat. Er reagiert darauf so, wie kleine Kinder es tun, wenn sie Welt nicht mehr verstehen: mit einer Mischung aus aggressivem Trotz und infantiler Weinerlichkeit.

Als der Minister darauf hingewiesen werden musste, dass seine Planungen zur Zerstörung funktionierender Wohnungsheizungen nicht praktikabel seien, äußerte er sich dazu in der Sprache eines Drittklässlers: „Wer kaputte Ölheizung oder Gasheizung hat, der kann sie heile machen.“ Seine Kollegin im Auswärtigen Amt steht ihm in nichts nach. Beim Besuch einer finnischen Bunkeranlage fühlt sie sich durch auf den Boden gemalte Quadrate dazu animiert, herumzuhüpfen und „Himmel und Hölle“ zu spielen, als ob sie sich auf dem Pausenhof einer Grundschule befände

Funktionieren kann diese Art des Politikverständnisses nur bei Menschen, die in einer imaginierten Schattenwelt leben, in der die Sachverhalte der natürlichen und sozialen Welt keine Gültigkeit mehr haben. Den Cäsaren von Caligula bis Putin und darüber hinaus ist es gelungen, sich immun zu machen gegenüber den Zumutungen der Wirklichkeit, indem sie sich ihr Umfeld nach ihren eigenen Bedürfnissen zurechtlegen konnten. Auch die deutsche Bundesregierung, und nicht erst die aktuelle, unternimmt alle Anstrengungen, um den Kontakt mit der sozialen Wirklichkeit zu vermeiden. In den Ministerien und nachgeordneten Behörden wurden nach dem Machtantritt der neuen Regierung umfangreiche Säuberungen vorgenommen. Das betrifft keineswegs nur die spektakulären Fälle in den Spitzenpositionen des Auswärtigen Amtes und des Wirtschaftsministeriums. Zum Regierungsantritt wurden 758 neue Stellen in den Ministerialbürokratien geschaffen, um die eigene Entourage zu versorgen. Bis zum Ende des ersten Regierungsjahres summierten sich die neugeschaffenen Stellen in den Ministerien und Bundesbehörden auf rund 10 000. Das ist sicher auch ein fiskalisches Problem, aber weit mehr noch ein soziopolitisches. Man entfernte damit nicht nur oft über Jahrzehnte gewachsenen Sachverstand aus den Ministerialverwaltungen, sondern rekonstruierte zugleich damit das Milieu, aus dem man selbst nach oben geschwemmt wurde –­ ein Milieu aus gleichgesinnten Ohrenbläsern, das nur noch zur Echokammer der eigenen politischen Befindlichkeit taugt.

Bereits vor knapp 20 Jahren hat der Reporter Jürgen Leinemann, ein intimer Kenner des deutschen Politikbetriebs, diese Entwicklung unter dem Begriff des „Höhenrauschs“ beschrieben. In diesen Rausch geraten Politiker, wenn sie von ihren eigenen Privilegien verblendet werden. Das ist also nicht neu. Neu ist allerdings die Unverfrorenheit, mit der man die eigene Schamlosigkeit zur Schau stellt. Die Außenministerin ist stolz auf die 136 000 Euro, die sie schon in ihrem ersten Amtsjahr für eine Visagistin ausgegeben hat und der Bundeswirtschaftsminister rühmt sich des Fotografen, den er für 350 000 Euro einstellt, um sich ins rechte Bild setzen zu lassen. Der letzte Leibfotograf, den sich ein deutscher Spitzenpolitiker leistete, hieß übrigens Heinrich Hoffmann.

Die Ergebnisse dieser Caligula-Welt kann man täglich am politischen Handeln ihrer Akteure ablesen. Das 16-seitige Beschlusspapier, das die Regierungskoalition Ende März 2023 nach 30-stündigen Gesprächen hervorgebracht hat, ist ein Manifest der Wirklichkeitsverweigerung. In den nächsten sechs Jahren soll die Zahl der Elektroautos auf Deutschlands Straßen von aktuell einer halben Million auf 15 Millionen steigen; an jeder Tankstelle soll eine Ladesäule bereitstehen, ohne dass gesagt würde, woher auch nur das Kupfer für die Stromleitungen, geschweige denn der Strom selbst kommen soll. Und wenn man schon dabei ist, kann man gleich auch die „ Negativemissionen“ der Jahre 2035, 2040 und 2045 festlegen.

Diesem Koalitionsausschuss ist es gelungen, zur Beschreibung seiner Zukunftsvisionen Sätze zu formulieren, die den Meisterwerken der dadaistischen Nonsens-Poesie an die Seite gestellt werden können: „Zur Beschleunigung des Markthochlaufs elektrisch betriebener schwerer Nutzfahrzeuge wird der Aufbau von Lkw-Ladeinfrastruktur sowie von Wasserstofftankinfrastruktur für Nutzfahrzeuge an Depots, Betriebshöfen und weiteren Hubs in logistischen Ketten unterstützt.“ Vielleicht ist es doch nicht ganz verkehrt, dass der Bundeswirtschaftsminister demnächst einen der höchstdotierten deutschen Literaturpreise verliehen bekommt.

 

Regierungsvandalismus: Ruinen schaffen ohne Waffen

Dass fast nichts von dem auch annähernd mit einer realistischen Einschätzung der Möglichkeiten politischen Handelns zu tun hat, ist das geringste Problem. Proble­matisch wird es aber, wenn die Unfähigkeit zur politischen Gestaltung in ihr Gegenteil umschlägt: in die Lust an der Zerstörung. Sie überwiegt bei weitem die produktive Gestaltungskraft dieser Regierung.

Vandalismus ist ein bekanntes, aber schwer erklärbares Phänomen moderner Gesellschaften. In ihm drückt sich, so hat Hans Magnus Enzensberger es zu erklären versucht, ein Hass aus gegen alles, was funktioniert; eine ohnmächtige Wut gegen gesellschaftliche Verhältnisse, die einem alles bieten und einen doch unbefriedigt lassen, weil etwas fehlt, von dem man nicht weiß, was es ist. Vandalismus greift über bloße Zerstörungswut hinaus. Er zerstört nicht nur die Dinge, gegen die er sich richtet, sondern auch die sozialen Verhältnisse, aus denen diese Dinge hervorgegangen sind. Das gilt auch für den Regierungsvandalismus. Er richtet sich in erster Linie gegen die gemeinschaftsstiftenden Infrastrukturen, die zum Teil über eineinhalb Jahrhunderte hinweg aufgebaut wurden und die zwei Weltkriege überstanden haben. Der Vandalismus nimmt, so hat Wolfgang Sofsky es ausgedrückt, „die Dinge ins Visier, mit denen die Menschen ihr Leben ausgestattet haben“.

Dass man die technischen Infrastrukturen hat verrotten lassen und weiter verrotten lässt, ist das sichtbarste Zeugnis dieser Entwicklung. Die deutsche Bahn ist praktisch unbenutzbar geworden; Autobahnbrücken der wichtigsten deutschen Verkehrsadern müssen gesprengt werden, weil sie marode sind. Die Kriminalstatistik zeigt von Jahr zu Jahr drastischer, dass der öffentliche Raum, in dem Fremde sich jahrzehntelang begegnen konnten, ohne sich fürchten zu müssen, zu einem gefährlichen Ort geworden ist, den man besser meidet.

Von dieser Wirklichkeit, die sie ihrem Volk zumuten, halten die Mitglieder der Regierung sich selbst weit entfernt. Die Außenministerin hält es für richtig, während der Klausurtagung des Kabinetts in Weimar vor laufenden Kameras eine halbe Stunde joggen zu gehen. Für sie ist das Laufen im Park völlig ungefährlich, da sie von zwei Bodyguards begleitet wird. Wer über dieses Privileg nicht verfügt, muss hingegen erst einmal eine Risikoabwägung vor dem Betreten des öffentlichen Raums vornehmen. Die über 8000 Messerangriffe, welche die Polizeiliche Kriminalstatistik für 2022 verzeichnet, sprechen ihre eigene Sprache.

Das unschuldigste Opfer dieser Zerstörungswut ist die Natur geworden. In der Öffentlichkeit wurde kaum wahrgenommen, dass in den vergangenen vier Monaten praktisch alle Gesetze zum Natur- und Artenschutz, die über 150 Jahre lang erkämpft wurden, ausgehöhlt oder ganz außer Kraft gesetzt wurden, ebenso wie die Schutz- und Einspruchsrechte, welche die Bürger gegen die monströsen Anlagen der Windkraft‑ und Photovoltaikindustrie noch hatten. In der Sprache der neuen Politik heißt diese Aufforderung zur Naturzerstörung jetzt „Beschleunigung und Effektivierung des Naturschutzes“.

 

Die Wohlstandsgesellschaft und der „gesunde Menschenverstand“

Dass der Cäsarenwahnsinn ein bei Politikern immer mal wieder auftretendes Phänomen ist, lehrt die Geschichte. Ludwig Quidde hat ihn als das „berauschende Gefühl der Macht“ beschrieben, als „das Bewußtsein, nun plötzlich an erster Stelle zu stehen“; er entspringt dem „Wunsch, etwas Großes zu bewirken und vor allem der Trieb, in der Weltgeschichte zu glänzen“.

Das ist leicht zu verstehen. Weniger leicht zu verstehen ist hingegen, wenn solchen Menschen in einer schwierigen welt- und wirtschaftspolitischen Situation die Regierung einer der wichtigsten Industrienationen der Welt anvertraut wird. Diesen Fehler haben die deutschen Wähler begangen. Erstmals in der Geschichte hat eine Bevölkerung ihre Caligulas selbst gewählt.

Es muss eine geheime Verwandtschaft bestehen zwischen den Erwählten und ihren Wählern. Der Kern des Problems liegt wohl darin, dass Deutschland inzwischen von einer Generation bevölkert wird, der die gesellschaftliche wie die natürliche Realität fremd geworden ist. Das ist die unvermeidbare Folge einer Wohlstands- und Überflussgesellschaft, wie es sie historisch noch nie zuvor gegeben hat und die leicht das trügerische Gefühl entstehen lässt, dass die Erfüllung aller möglichen Wünsche ohne Gegenleistung greifbar nahe sei. Das kann dazu führen, dass fast eine halbe Million Menschen in der Bundeshauptstadt glauben, sie könnten darüber abstimmen, welches Klima man 2030 gerne hätte. Anderen wiederum wird versichert, sie könnten jedes Jahr ihr Geschlecht frei wählen, während ihnen im Gegenzug das Recht verweigert wird, selbst darüber zu entscheiden, wie sie ihre Wohnung heizen.

Für eine Generation, die in einer wohlstandsversorgten, ent­materialisierten und weitgehend vir­tualisierten Welt heimisch geworden ist, ver­schieben sich die Vorstellungen von Wirklichkeit und Illusion, von Wahrheit und Lüge. Raum und Zeit verlieren ebenso an Bedeutung wie die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Medien.

Von Helmut Schelsky bis Niklas Luhmann haben Soziologen darauf hingewiesen, dass fast alles, was Menschen in der modernen Gesellschaft über die Wirklichkeit außerhalb ihrer unmittelbaren Nachwelt wissen, ihnen durch die Massenmedien vermittelt wird. Dadurch wird die Unterscheidung zwischen Nähe und Ferne zusehends unwichtiger. Zur Lebenswelt zählt nicht mehr nur die unmittelbare, mit den eigenen Sinnen und durch persönliche, primäre Kommunikation wahrnehmbare Wirklichkeit. Zur Lebenswelt gehört prinzipiell die gesamte Welt – jeder Teil der Welt, über den in Medien, insbesondere im Fernsehen und im Internet, berichtet wird. Diese mediale Entgrenzung der Wirklichkeit entwertet die Aussagekraft der eigenen Sinne und sie nährt zugleich den Irrglauben, dass man nicht nur die Pflicht, sondern auch die Möglichkeit habe, überall auf der Welt helfend und korrigierend eingreifen zu sollen.

Eine überakademisierte Generation, die große Teil ihrer Kinder- und Jugend- und auch der frühen Erwachsenenzeit in den safe spaces von Schulen und Hochschulen verbracht haben und die inzwischen auch an den Schalthebeln der politischen und medialen Deutungsmacht sitzen, kommt in dieser Welt sicher besser zurecht als die anderen, die die Arbeit tun. Der Straßenbauarbeiter, der die maroden Brücken saniert oder die Bäckerin, die morgens um drei Uhr in der Backstube steht, werden sich wohl nicht allzu viele Gedanken über das Klima des nächsten Jahrhunderts oder ihr Geschlecht im nächsten Jahr machen. Wahrscheinlich denken sie nicht einmal darüber nach, ob sie demnächst einen Tesla oder einen VW ID.3 Pro als Zweitwagen anschaffen. Hier wird es wohl eher darum gehen, wie man die nächste Stromrechnung bezahlt oder wie sich die demnächst aufgezwungene Wärmepumpe finanzieren lässt.

In einer aktualisierenden Durchsicht von Hannah Arendts klassischer Studie über die „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ hat Eva Rex unter dem Titel „Rettet den gesunden Menschenverstand!“ einige der Voraussetzungen beschrieben, die solche Entwicklungen erst möglich machen. Ihre wichtigste ist der Abschied vom gesunden Menschenverstand. Der „gesunde Menschenverstand“ ist das, was allen Menschen gemein ist. Kant hat es den „Gemeinsinn“ genannt, der auf Urteilskraft und auf der Bereitschaft beruht, den eigenen Sinnen und möglichst auch noch den Grundrechenarten sowie elementaren Naturgesetzen zu vertrauen. Eine Gesellschaft, der diese Bereitschaft verloren gegangen ist, wird noch einige bittere Lektionen zu lernen haben.

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Am 19. März 2023 wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag

 

Vom „Heimatschutz“ zum Klimastaat – Wege und Irrwege der Umweltpolitik

 

 

von Peter J. Brenner gesendet.

 

Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.

 

Zusammenfassung:

 Mit der Errichtung des Klimastaates gerät der Umweltschutz in Bedrängnis. Um 1900 war Naturschutz Teil eines umfassenderen „Heimatschutzes“; eine bürgerliche Gegenreaktion gegen die Traditionsverluste einer sich modernisierenden Gesellschaft. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Naturschutz zum „Umweltschutz“ politisiert, bürokratisiert und von neuen sozialen Bewegungen okkupiert. Diese Entwicklung mündete in weit ausgreifende UN-Konferenzen und EU-Richtlinien. Mit dem „Klimaschutz“ wurde schließlich ein neues Politikfeld etabliert, das dem Naturschutz den Rang abläuft.