Der schwarze Tag
Der Ostermontag 2024 war ein schwarzer Tag für die bayerischen Universitäten. An diesem Ostermontag trat jene Verordnung der bayerischen Staatsregierung in Kraft, die in der medialen Darstellung durchgehend als „Genderverbot“ bezeichnet wurde. Diese Verordnung hat die Universitäten bis ins Mark getroffen. Denn Bildungseinrichtungen, die ihren Wesenskern in der Verwirklichung von Gleichstellung, Diversität, Klimaneutralität und Antidiskriminierung sehen, müssen sich in ihrer Identität bedroht fühlen, wenn ihnen die Möglichkeit genommen wird, „geschlechterinklusiv und diversitätssensibel zu kommunizieren“. Stillschweigend hingenommen wurde diese Regelung nicht. An der Universität Regensburg gab es eine Demonstration: „Breite Front gegen Gender-Verbot: Rund 150 Menschen demonstrieren an der Uni Regensburg“ titelte die ortsansässige Zeitung. Ganz so breit ist die Front nicht, wenn 0,75 Prozent der Regensburger Studenten an ihrer Universität gegen das Genderverbot protestieren. Immerhin darf man unterstellen, dass sich hier die akademische Elite der Universität Regenburg versammelt hat. Das legt jedenfalls der sprachliche Duktus nahe: „Populist:innen verpisst euch“, heißt es auf einem Plakat.
Die Schreckensmeldung vom bayerischen Genderverbot hat nicht nur an bayerischen Universitäten und in bayerischen Medien, sondern auch außerhalb der Landesgrenzen hohe Wellen geschlagen. Der Präsident der Frankfurter Universität, die ausgerechnet den Namen Goethes trägt, meldete sich ebenso unerschrocken wie ungefragt zu Wort: Niemals werde er sich dem Diktat einer Obrigkeit beugen, die ihm einen genderungerechten Sprachgebrauch abverlange. Die Wissenschaftsfreiheit sei bedroht, und bis zum Letzen werde er jeden einzelnen Genderstern verteidigen. Seine hessische Obrigkeit wiederum versicherte, an derlei sei gar nicht gedacht. Wenn überhaupt, dann werde man allenfalls dann auf einem korrekten Gebrauch der deutschen Sprache bestehen, wenn es um „Auftragsangelegenheiten“ der Universitäten gehe, die ihren Autonomiestatus nicht berührten: Fragen des Verwaltungskostengesetzes, der Hochschulstatistik und der Festlegung der Vorlesungszeiten. Auch in Bayern hat man sich alle Mühe gegeben, einen einfachen Sachverhalt so kompliziert wie möglich zu machen. Gendersonderzeichen dürfen dort nicht verwendet werden, wo „Hochschulen als staatliche Einrichtungen“ auftreten, ins Belieben der Schreiber gestellt ist die Rechtschreibung jedoch dann, wenn „sie Körperschaftsangelegenheiten allein mit Körperschaftsvermögen“ ausführen. Das kommt dabei heraus, wenn man glaubt, lebensweltliche Selbstverständlichkeiten mit juristischen Mitteln klären zu wollen. Solche Regelungen sind weder verständlich noch praktikabel. Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass sie ernsthaft umgesetzt werden. Universitäten folgen ihren eigenen Regeln, und das sind gewiss nicht die der deutschen Rechtschreibung,
Ohnehin wurde die Gendersprache nicht verboten, weder in Bayern noch sonstwo. Bei der jetzt so heftig diskutierten bayerischen Regelung handelt es sich weder um ein „Gesetz“ noch um ein „Verbot“; es geht schlicht um eine Änderung der „Allgemeinen Geschäftsordnung“ (AGO) für Behörden. Eigentlich ist es nicht einmal eine Änderung, sondern nur eine Klarstellung: Die Hochschulen und andere Behörden wurden sanft daran erinnert, dass sie sich bitte an die Regeln der deutschen Rechtschreibung halten sollten, so wie es der § 23 des Verwaltungsverfahrensgesetzes lapidar vorscheibt: „Die Amtssprache ist Deutsch“. Als das Gesetz 1977 in Kraft trat, hielt man den Hinweis wohl noch nicht für nötig, dass es richtiges Deutsch sein solle. Aber auch dieser § 23 beinhaltet kein „Genderverbot“. Jeder darf schreiben und sprechen wie er will – sofern er es nicht in seiner amtlichen Eigenschaft tut. Aber niemand ist gezwungen, ein staatliches Amt als Lehrer oder Universitätsdozent wahrnehmen. Wem die dort geltenden Regeln nicht passen, kann kündigen und sich eine andere Stelle zu suchen. NGOs, in denen Genderkompetenz und Sprachinkompetenz Einstellungsvoraussetzung ist, gibt es genug.
Dass eine simple Änderung der „Allgemeinen Geschäftsordnung“ eine so hellauflodernde Empörungswelle auslösen kann, ist nur mit den messianischen Erwartungen zu erklären, die sich auf eine gendersensible Sprache richten. Dem Genderstern oder neuerdings dem Gender-Doppelpunkt im Wortinneren sagt man magische Wirkungen nach: Er inkludiere eine unbegrenzte Zahl von Geschlechtern, die sich alle mitgemeint fühlen dürfen, er sorge für Geschlechtergerechtigkeit und am Ende eröffne sich mit ihm der Sprache ein Reich der Freiheit, in dem alle Ungerechtigkeiten dieser Welt verschwunden seien. Es bleibt eine der bemerkenswertesten Leistungen des deutschen Bildungssystems, dass es ihm gelungen ist, einer ganzen Generation von Schülern, die inzwischen auch schon wieder Lehrer, Universitätsdozenten, Journalisten oder Politiker geworden sind, einen solchen Unsinn einzureden. Denn am Ende ist der Genderstern einfach nur ein Rechtschreibfehler.
Oder auch nicht. Denn vor einer klaren Regelung in dem Bereich, auf den es ankommt, schreckt man auch in Bayern zurück mit der Festlegung, „dass vom amtlichen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung abweichende Sprachregelungen bei der Bewertung von Prüfungsleistungen und Auswahlentscheidungen grundsätzlich kein bewertungsrelevantes Kriterium darstellen können.“ Damit begibt sich der Minister auf morastigen Grund: Fehlerhafte Rechtsschreibung darf nicht mehr negativ bewertet werden – auch nicht bei Lehramtsstudenten, die bald darauf Erstschreibunterricht an Grundschulen erteilen werden?
Sprachnormierung: Rechtschreibung als Kulturleistung
Rechtschreibung ist eine Kulturleistung. In Deutschland hat es rund 400 Jahre gedauert, bis eine einheitliche Rechtschreibung geschaffen und umgesetzt werden konnte. Begonnen hat es mit dem Buchdruck des 16. und 17. Jahrhunderts und mit Luthers Bibelübersetzung, die sich auf die sächsische Kanzleisprache stützte. Einen vorläufigen Endpunkt fanden diese Entwicklungen mit den Wörterbüchern Konrad Dudens, welche die Grundlage einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum schufen. Der Gymnasiallehrer Konrad Duden hat seit den 1870er Jahren an seinem Regelwerk gearbeitet, nicht zufällig also in dem Jahrzehnt nach der Gründung des Deutschen Reichs. Sein Ideal war eine radikal phonetische Schreibung: Die Wörter sollten so geschrieben werden, wie sie gesprochen werden.
Das war einleuchtend, aber nicht so einfach, wie es klingt. Das Deutschland dieser Zeit war gerade erst vereint worden. Es setzte sich aus einer großen Zahl von Landschaften und Regionen zusammen, die alle ihre eigenen Dialekte hatten. Deren phonetische Verschriftlichung hätte zu einem heillosen Durcheinander geführt, in dem jeder Landstrich seine eigene Schriftsprache gehabt hätte – der gebürtige Hesse Goethe konnte noch reimen: „Ach neige, / du Schmerzensreiche“. Eine einheitliche Schriftsprache musste also eine Kunstsprache werden, die es nur auf dem Papier gab und die keiner gesprochenen Wirklichkeit entsprach.
Dudens zweites Problem ergab sich aus der Einsicht, dass es die Sprache, die er normieren wollte, schon gab. Er konnte sie nicht am Schreibtisch entwerfen, sondern musste allerlei ungewollte und ungeliebte Rücksichten nehmen auf den tatsächlichen orthographischen Sprachgebrauch. Dazu gehörten insbesondere die wortgeschichtlichen Zusammenhänge, wie etwa Doppelkonsonanten, die zu unphonetischen Schreibweisen führen, oder die sprachgeschichtlichen Restbestände in Fremd- und Lehnwörtern – kurz: Duden musste einsehen, dass eine phonetische Schreibung, die dem Sprachgebrauch folgt, der internen Logik des orthographischen Sprachsystems widerspricht. Die gesprochene und die geschriebene Sprache sind zwei unterschiedliche Systeme, die sich nur mühsam und nicht friktionslos aufeinander beziehen lassen.
1880 erschien Dudens „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“. Damit war der Boden bereitet für eine einheitliche deutsche Rechtschreibung. Ab 1901 wurden die Regeln des „Duden“ zunächst im Deutschen Reich, dann auch in Österreich und in der Schweiz als amtliche und schulische Orthographieregeln verbindlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die Rechtschreibungen in Ost- und Westdeutschland leicht auseinander, beide übrigens auf je eigenen Versionen des „Duden“, dem Leipziger und dem Mannheimer, beruhend. In Westdeutschland wurde deshalb der Mannheimer Duden 1955 erneut zum verbindlichen Regelwerk erklärt. Die Rechtschreibreform von 1996 beseitigte diesen lukrativen Sonderstatus. Das Dudenmonopol wurde aufgehoben und durch das “Amtliche Regelwerk“ des Deutschen Rechtschreibrates ersetzt.
Die Vorstellung also, „der Duden“ habe heute noch irgendetwas mit der verbindlichen deutschen Rechtschreibung zu tun, ist immer noch weit verbreitet, aber falsch. Der „Dudenverlag“ ist ein Verlag wie jeder andere, der noch von seinem alten Renommee zehrt und es dazu nutzt, ein kämpferisches Genderprogramm auf dem Buchmarkt zu etablieren.
Sprache in der Gesellschaft
Der Aufbau einer einheitlichen Rechtschreibung hat Jahrhunderte gedauert, ihr Abbau ist in wenigen Jahrzehnten gelungen. Nachdem sich einmal die Vorstellung durchgesetzt hatte, dass aus einer regel‑ eine wertebasierte Rechtschreibung werden müsse, richten sich politische und moralische Begehrlichkeiten aller Art auf die deutsche Sprache. Das hat ihr nicht gutgetan.
„Die Unterzeichner:innen distanzierten sich eine:r nach dem bzw. der anderen vom Unterzeichneten“. So etwas kann man heute in Büchern einstmals renommierter Verlage lesen – aber wer will so etwas lesen? Und vor allem: Wer kann so etwas lesen? Die Gendersprachaktivisten der Universitäten und Medienhäuser haben sich eine Sondersprache geschaffen, deren avancierte Formen nur noch von Gleichgesinnten verstanden werden können. Auch einfachste Texte sind komplizierte Gebilde und der Ehrgeiz der Gendersprachaktivisten besteht darin, sie noch komplizierter zu machen. Dass sie damit nebenbei auch den Spracherwerb für die erschweren, die sich ohnehin schon schwer tun, Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache, Behinderte, wird als Kollateralschaden billigend in Kauf genommen. Am Ende ist es wichtiger, dass sich jede „pansexuelle, feminin-genderqueere liberale politische Aktivistin mit weiblichen Pronomen“ – das gibt es, es handelt sich um eine FDP-Politikerin aus Baden-Württemberg – mitgemeint fühlt.
Bereits bei der großen Rechtschreibreform der 1990er Jahre mussten sich Gerichte mit Fragen der Rechtschreibung befassen. Das Bundesverfassungsgericht wurde 1998 mit der Frage konfrontiert, ob der Staat denn überhaupt das Recht habe, Rechtschreibregelungen für Bildungseinrichtungen vorzuschreiben. Das Gericht bejahte diese Frage mit einer verblüffend einleuchtenden, also ganz und gar unjuristischen Begründung: Es stellte fest, dass es eine „grundrechtlich verbürgte Kommunikationsmöglichkeit“ gibt, die im „im gesamten Sprachraum ein hohes Maß an Einheitlichkeit voraussetzt.“ Der „Deutsche Rechtschreibrat“ hat in erfreulicher Nüchternheit diesen Grundgedanken einer jeden Rechtschreibregelung ausformuliert: Texte sollen sachlich korrekt sowie verständlich und lesbar sein; weiterhin sollen sie auch vorlesbar sein, schließlich sollen sie die Konzentration auf die wesentlichen Sachverhalte und Kerninformationen nicht beinträchtigen. Niemand wird behaupten wollen, dass diese Kriterien von einer gendergerechten Sprache erfüllt werden. Denn Gendersprache ist oft unverständlich und erzeugt Unklarheiten; sie ist in weiten Bereichen systemwidrig und führt bei komplexeren Texten notwendig zu grammatisch fehlerhaften Konstruktionen.
Das Ende der Rechtschreibung
Aber während sich die Genderaktivisten noch über die Verbannung der Gendersprache aus amtlichen Schriftstücken grämen, stehen längst andere Themen auf der Tagesordnung. Inzwischen stellt sich die Frage, ob, unabhängig von allen Genderdiskussionen, Rechtschreibung überhaupt noch gebraucht wird. Die Beherrschung der Rechtschreibung galt einmal als sicherstes Indiz für den Bildungsstand eines Menschen, und auch heute soll es noch Unternehmer geben, welche Rechtschreibfehler in Bewerbungsschreiben für einen Ausschlussgrund halten. Das hat durchaus seinen Grund. Denn wie so vieles, was in der Schule gelehrt wird, ist auch im Rechtschreibunterricht ein heimlicher Lehrplan, ein „hidden curriculum“, verborgen. Die Rechtschreibung hat Regeln; die muss man lernen und die kann man lernen, auch wenn es mühsam ist und einige Disziplin erfordert. Aber die Regeln sind nicht alles. Neben den Regeln gibt es, wie Konrad Duden schmerzlich eingestehen musste, die Ausnahmen und die Zweifelsfälle, die einmal einen eigenen Band der alten „Duden“-Reihe, den Band 9, gefüllt haben. Dass „Rechtschreibung“ zwei Jahrhunderte lang ein so hohes Ansehen genoss, hatte darin seine Rechtfertigung: Wer die Rechtschreibung beherrschte – das war bis vor zwei Generationen jeder deutsche Volksschüler – hatte in der Schule gelernt, sich auf disziplinierte Art Wissen anzueignen, allgemeine Regeln auf Einzelfälle anzuwenden und sich durch breite Lektüre auch mit Ausnahmefällen vertraut zu machen.
Aber das ist vorbei. Damit kann man niemanden mehr beeindrucken, auch Arbeitgeber nicht. Denn die locken ihre potenziellen Auszubildenden mit dem Versprechen, dass sich eine Bewerbung ohne den Gebrauch von Wörtern, einfach nur mit einem QR-Code, erledigen ließe. Speziell Bäckereien – das ist der Beruf, bei dem man sehr früh aufstehen muss – bieten diese Bewerbungsoption an, aber auch die Deutsche Bahn verzichtet auf Bewerbungsschreiben: „Wir wollen es den Bewerbern so einfach wie möglich machen.“
Und vielleicht haben sie ja auch Recht. Der baden-württembergische Ministerpräsident hält den Erwerb von Rechtschreibkenntnissen für einen überflüssigen Aufwand, weil es ja inzwischen Rechtschreibprogramme gibt, aber immerhin: „Jeder Mensch braucht ein Grundgerüst an Rechtschreibkenntnissen, das ist gar keine Frage.“ Aber inzwischen ist auch das eine Frage geworden. Die Computer-und Smartphonekommunikation hat sich von allen konventionellen Regeln befreit und ihr eigenes Regelwerk geschaffen, ein verrätselte Schrumpfsprache, die sich wesentlich auf Autokorrektur, Worterkennung und Wortergänzung stützt und die nicht immer das ausdrückt, was der Schreiber sagen will
Denn es ist tatsächlich eine nahe Zukunft denkbar, in dem das Verfassen von Texte genauso funktionieren wird: Man reiht Textbausteine aneinander, die von Algorithmen der Firmen Android, Apple, Microsoft, vorfabriziert wurden. Sie drücken vielleicht nicht das aus, was man eigentlich sagen will. Dafür werden sie aber gut verstanden, weil sie sagen, was die anderen ohnehin schon erwarten. Politiker, die nur Textbausteine im Kopf haben, die ihnen auch noch von anderen aufgeschrieben wurden, sind ihrer Zeit womöglich voraus.
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Am 21. April 2024, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag
Immanuel Kant. Die Herrschaft der Vernunft
von Peter J. Brenner gesendet.
Immanuel Kant gehört zu den bedeutendsten Philosophen des Abendlandes. Wenn 2024 sein 300. Geburtstag gefeiert wird, gibt das Gelegenheit, an die epochalen Leistungen seiner Vernunftkritik zu erinnern und zugleich deutlich zu machen, aus welchen biografischen, philosophie- und zeithistorischen Umständen sein Werk hervorgegangen ist. Heute werden vor allem die staats- und geschichtstheoretischen Arbeiten Kants diskutiert. Das führt leicht zu Verurteilungen oder auch Vereinnahmungen von zweifelhaftem Wert. Gegen beides muss Kant geschützt werden.
Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.