Die politischen Kannegießer
1722 wurde die Komödie „Der politische Kannegießer“, „Den politiske Kandestøber“, des dänischen Nationaldichters Ludvig Holberg in Kopenhagen uraufgeführt. Das ist lange her. Aber die Lektüre des Stücks erscheint angesichts der aktuellen politischen Zeitläufte durchaus noch einmal angebracht. Amüsant ist sie allemal, und lehrreich außerdem noch. Die Komödie mokiert sich über die Bürger, die sich im Wirtshaus versammeln und sich über Dinge äußern, von denen sie nichts verstehen und darüber ihre eigentlichen Geschäfte vergessen.
Das Wort „Kannegießern“ ist längst aus dem deutschen Wortschatz verschwunden, aber die Sache, die es bezeichnet, ist aktuell wie eh und je. Stammtische gibt es heute noch, und die Stammtischkultur hat sich in den dreihundert Jahren, die seit Holbergs Komödie vergangen sind, wenig geändert. Der Stammtisch hat die Jahrhunderte überdauert. Es gibt ihn heute noch in seiner Urform als gesellige Runde politischer Kannegießer im Wirtshaus, auch wenn diese Urform, den sich wandelnden Geselligkeitsformen folgend, stark an Bedeutung verloren hat.
Aber nach wie vor erfüllt der Stammtisch ein wichtiges Bedürfnis in der Kommunikationslandschaft. Denn der Stammtisch ist ein merkwürdiger sozialer Ort; er nimmt eine Zwischenstellung ein zwischen dem privaten Gespräch, das nur die Beteiligten etwas angeht, und dem öffentlichen Diskurs, der sich an eine potentiell unbegrenzte Öffentlichkeit wendet. Die Stammtischbrüder – von Stammtischschwestern hat man noch nichts gehört – meinen es ernst mit dem, was sie reden, zumindest so lange, wie sie am Stammtisch sitzen. Nicht von ungefähr gibt es die Rede vom „Bierernst“. Aber zugleich vertraut das Stammtischgerede darauf, dass es nicht beim Wort genommen wird. Aber wenn genau das geschieht, kann es kein gutes Ende nehmen – es sei denn, es handelt sich um eine Komödie im Schauspielhaus.
Holberg macht sich den Spaß, den Stammtischbruder Herman von Bremen ernst zu nehmen. Dem politisierenden Kannegießer wird eingeredet, er sei zum Bürgermeister gewählt worden, ihm wird vorgegaukelt, dass er nun in Amt und Würden sei und Entscheidungen treffen könne, wie sie nun einmal ein Bürgermeister zu treffen hat. Ziemlich wirklichkeitsnah und zeitlos wirkt die Darstellung der folgenden Ereignisse.
Nicht nur der plötzlich aufgestiegene Herman von Bremen ist davon überzeugt, dass ihm das so plötzlich zugefallene Amt auch wirklich zusteht. Auch seine Frau, die seinen politischen Ambitionen höchst skeptisch gegenüberstand, findet sich im Nu in der Rolle der vornehmen Bürgermeistergattin zurecht; und selbst der Knecht Heinrich weiß, was man im Umfeld eines Regierenden tut: Er steckt Bestechungsgelder ein und wird zum Intriganten. Macht korrumpiert und verblendet. Es kommt wie es kommen muss, zumindest in einer Komödie. In seinem neuen Amt ist der Kannegießer maßlos überfordert, er trifft bizarre Fehlentscheidungen, die ihm zunächst das Gelächter, sodann aber auch den Unmut der Umgebung eintragen.
Am Ende sieht Herman von Bremen ein, dass er für ein solches Amt nicht geeignet ist. Die Verwirrungen lösen sich, wie es sich für eine Komödie gehört, in Gelächter auf. Er schwört der Politik ab, verbrennt seine politischen Bücher und übt wieder redlich seinen erlernten Beruf des Kannegießers aus.
In der Phantasie von Komödienschreibern kann ein solcher glücklicher Ausgang vorkommen; in der politischen Wirklichkeit ist er eher selten. Wer ein Amt hat, gibt es freiwillig nicht mehr her. Aber zum Konzept „Stammtisch“ gehört es eben, dass man nicht beim Wort genommen wird. Das Privileg des Stammtischgeredes ist nicht nur das offene Wort, das man ohne Sanktionsfurcht aussprechen darf, sondern auch das Recht, von nichts eine Ahnung zu haben und über alles mitreden zu dürfen. Nur in Diktaturen ist es üblich, dass Stammtischgerede belauscht und mit Strafen bedroht wird.
Der Stammtisch ist ein attraktives Gesprächsformat, das irgendwann aus der Halböffentlichkeit der Wirtstube auf die große Bühne der Medienöffentlichkeit vorgedrungen ist. Diese Entwicklung lässt sich in der bundesdeutschen Medienwirklichkeit gut nachzeichnen; sie ist fast linear verlaufen: Am Anfang stand der „Internationale Frühschoppen“ mit sechs Journalisten aus fünf Ländern unter Moderation des jovialen Werner Höfer, der die Sendung seit 1952 zunächst im Radio, dann im Fernsehen bis 1986 leitete. Bei Höfer stand unverkennbar noch der Stammtisch Pate: Es wurde geraucht und es wurden alkoholische Getränke während der Sendung ausgeschenkt.
1998 wurde mit der Sendung „Sabine Christansen“ und ihren ungezählten Nachfolgern dieser Typus des Fernsehstammtisches in die Regionalprogramme verdrängt. Die „Talkshow“ übernahm die Rolle der seriösen Politiksimulation und des Parlamentsersatzes. Jetzt sitzen Menschen zusammen, in aller Regel Politiker und Journalisten – gleich und gleich gesellt sich gern –, die allen Ernstes erwarten, ernst genommen zu werden. Ergänzt wird das Personaltableau durch die neu geschaffene Figur des – oft professoralen – Talkshow-Experten. Deren gibt es je nach Saison unterschiedliche. Mal sind es Klimaexperten, dann wieder Virusexperten und dann wieder Militärexperten, die traditionell eine besonders große Verbreitung haben: Am Stammtisch und in der Talkshow kann jeder Kriege gewinnen, auch der Wehrdienstverweigerer.
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Social Media
Der Urvater der modernen Medientheorie, Marshall McLuhan, hat die Metapher vom „globalen Dorf“ geprägt. So sah es zu Beginn der digitalen Kommunikationskultur aus: Jeder ist über alles informiert; die Menschen verständigen sich weltweit so miteinander, als seien sie Nachbarn einer dörflichen Gemeinschaft. Im Gefolge dieser optimistischen Zukunftserwartung entstand die Hoffnung, dass das Internet ein Medium der Aufklärung und der Demokratie werde, in dem jeder ohne technische und finanzielle Einschränkungen Informationen erhalten und auch versenden könne. Im freien Austausch der Meinungen und Argumente werden sich die jeweils besten und demokratietauglichste sich durchsetzen, so glaubte man.
Es ist anders gekommen. Die Social Media genießen einen so schlechten Ruf, dass satirisch begabte Sprachkünstler sie gerne auch als „asoziale Medien“ bezeichnen. Die Liste der Vorwürfe ist lang: X, „früher Twitter“, Facebook, Instagram, YouTube, TikTok, Telegram und wie sie alle heißen, dienten als Plattform, so heißt es, einer „Emotions-“ , einer „Erregungs-“, einer „Empörungsdemokratie“, in der jeder seinen schlechten Instinkten freien Lauf lassen könne; Desinformationen würden verbreitet; Menschen bewegten sich hier in Filterblasen, in denen nur noch die Bestätigung der eigenen Meinung gesucht und gefunden werde. Dem müsse Einhalt geboten werden.
Jetzt wird kontrolliert und sanktioniert. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, mit dem die deutsche Bundesregierung eine vorbildliche Pionierrolle eingenommen hat, wurde vom EU-weiten Digital Services Act weitergeführt. Selbst der Großmeister des „herrschaftsfreien Diskurses“, Jürgen Habermas, weiß sich angesichts der neuen Unübersichtlichkeit der digitalen Kommunikationsverhältnisse, nicht mehr anders zu helfen, als nach „Torhütern“ zu rufen, professionalisiertem Personal, das für die Medien, aber auch für die Nachrichtendienste arbeiten und die unkontrollierbar gewordenen Informationsflüsse kontrollieren sollen.
Die Geschichte zeigt, dass Zensur und Einschüchterung durchaus wirksam sein können. Aber jetzt sieht die mediale Wirklichkeit anders aus. Die digitalen Medien mit den Mitteln des Polizeistaates einzudämmen, wird nicht funktionieren, auch wenn führende Politiker ihre bescheidenen Abgeordnetendiäten und Ministergehälter mit aberhunderten von Anzeigen aufbessern, unter willfähriger Unterstützung der staatlichen Sicherheitsorgane. Aber gesellschaftliche Probleme lassen sich nicht mit den Mitteln juristischer oder geheimpolizeilicher Repression zu lösen.
Feindliche Übernahme
Der Vorwurf einer vom Netz befeuerten Radikalisierung der politischen Ränder und der Verwahrlosung der medialen Sitten enthält sicher mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Das alles und manches andere mag richtig sein, auch wenn sich kaum abschätzen lässt, in welchem Verhältnis die demokratisierenden und aufklärerischen Effekte der digitalen Informationstechnologien zu den wahrscheinlich maßlos überschätzten demokratiegefährdenden stehen. Zweifellos haben die digitalen Kommunikationsmedien neue Möglichkeiten zur beschleunigten und globalen Verbreitung von Dummheit geschaffen. Aber das können die alten Medien auch.
Das eigentliche Problem liegt tiefer. Nicht die Tatsache, dass die Stammtischkultur ihren Weg ins Netz und damit potentiell in eine globale Öffentlichkeit – die sich aber kaum dafür interessiert – gefunden hat, ist besorgniserregend. Besorgniserregend ist vielmehr, dass sich in den Social Media die sozialen Sphären der Öffentlichkeit wechselseitig infiltrieren. Hier wächst zusammen, was nicht zusammen gehört. Die Herrschenden und die Beherrschten, die Regierenden und Regierten begegnen sich im halböffentlichen Diskursraum der Social Media, als ob sie ihresgleichen wären. Tatsächlich aber gehören sie verschiedenen Welten, unterschiedlichen Sphären des Politischen an.
In den Social Media versammelt sich nicht nur das traditionelle Stammtischpublikum, das seiner Unzufriedenheit mit dem politischen Tagesgeschehen auf befreiende Weise Luft verschafft. Das Netz ist auch zur Plattform derer geworden, gegen die sich der Unmut richtet. Wenn nun aber die Repräsentanten der Macht, die Regierenden und ihre medialen Büchsenspanner, den Schulterschluss mit dieser Gegenöffentlichkeit suchen und damit in eine Kommunikationssphäre eindringen, die nicht die ihre ist, handelt es sich um einen Akt der feindlichen Übernahme.
Die Lachkultur
Die Sprache des Volkes ist nicht die Sprache der Herrschenden. Nicht jeder hat in Harvard oder in London studiert, und das ist auch gut so. Die Sprache des Volkes ist derb und vulgär. Sie sucht nicht das bessere Argument und sie dient nicht der Überzeugung des Gegenübers. Sie dient dem Ausdruck der eigenen Affekte. Kluge Regierungen, und das müssen nicht immer demokratische gewesen sein, haben gewusst, dass man dem Volk einen geschützten Raum lassen sollte, in dem es seiner Unzufriedenheit freien Lauf lassen und reden kann, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Man hat sich angewöhnt, diese Ausdrucksweise als „Hass und Hetze“ zu bezeichnen und sie damit, wie im „Dritten Reich“ und in der „DDR“, in den Bereich des Justiziablen zu verschieben.
Das hat durchaus eine gewisse politische Logik, auch wenn es am Ende keinen Erfolg haben wird. Denn gerade durch diesen Verdrängungs- und Ächtungsprozess gewinnt die Sprache des Volkes wieder eine soziale Macht, die sie zur Waffe der gesellschaftlich randständigen Volksgruppen werden lassen kann. Die lebensweltlich und inzwischen zunehmend auch juristisch gut verankerten Äußerungsverbote, die Beleidigungen diesseits der strafrechtlichen Ahndung, Fluchen, Obszönitäten wurden im Prozess der westeuropäischen Zivilisation immer stärker verpönt und aus dem Bereich des Sagbaren herausgedrängt. Der russische Rabelais-Forscher Michail Bachtin hat diesen Bereich unter die Formel „Sprache des Marktplatzes“ zusammengefasst. Er hat gezeigt, dass die demonstrative Verwendung eines gesellschaftlich geächteten Vokabulars die Waffe einer volkstümlichen Gegenkultur ist. Sie ist sprachlicher Ausdruck einer Marktplatz- und Lachkultur, die sich provokativ gegen die gebändigte Sprache der zivilisierten Gesellschaft wendet.
Die eigentliche Waffe des Volkes ist das Lachen, nicht das bessere Argument. Im Lachen spricht das Volk seine eigene Wahrheit aus; und das ist nicht die Wahrheit der Obrigkeit. Michail Bachtin schrieb seine erst viel später als bahnbrechend wahrgenommenen Arbeiten über die Entstehung und Entwicklung der „Lachkultur“ während der Stalinzeit, in den 1920er und 1930er Jahren. Seine Arbeiten zu literarhistorisch weit entfernten Autoren, zu Rabelais und zu Dostojewski, sind als versteckte politische Stellungnahmen lesbar. Sie sind ein Plädoyer für eine Lachkultur und eine Karnevalskultur, die als genuin kulturelle Äußerungen des Volkes ihr eigenes Recht gegenüber der Hochkultur behauptet haben – so lange eben, bis Stalin kam, und unter Hitler und in der DDR war es nicht anders. Davor handelte sich um geduldete Tabubrüche, nicht anders als der Witz, der in diktatorischen Regimes zum Flüsterwitz verkümmert, und nicht anders auch als eben das Stammtischgerede.
Die Lachkultur ist eine Kultur der Freiheit und der Befreiung – einer Freiheit, die sich über die Schranken des Erlaubten hinwegsetzt, und die dennoch geduldet wird. Das Lachen, so stellt Bachtin fest, errichtet keine Scheiterhaufen. Die befreiende Kraft des Lachens richtet sich nicht nur nach außen; in dieser Richtung ist seine Wirkung begrenzt, Es richtet sich vor allem nach innen – wer lacht, befreit sich von den Zwängen der Furcht und dem eingeborenen Respekt vor der Macht.
Aber vielleicht ist die Zeit des Lachens vorbei. Auch das Lachen ist regierungskonform und damit fernsehtauglich geworden. Ausgerechnet aus Bayern, der Trutzburg der Stimmtischkultur, kamen in jüngster Zeit Signale, dass es mit dem Lachen über die Obrigkeit ein Ende haben müsse. Im fränkischen Bamberg – das allerdings erst seit 1803 zu Bayern gehört – hat ein Gericht die Verbreitung harmloser Witze über Regierungsmitglieder in den Social Media, drakonisch, mit einer Hausdurchsuchung und einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe auf Bewährung geahndet. Das ist neu.
Der neben Holberg zweite und weitaus bekanntere dänische Nationaldichter Hans Christian Andersen schrieb 1837 sein berühmt gewordenes Märchen „Des Kaiser neue Kleider“, „Kaiseres nye Klæder“. Das Märchen ist bekannt, es wird bis heute gerne zitiert, aber seine ernüchternde Pointe wird meist übersehen. Es handelt von dem Kaiser, der sich von geschickten Spindoktoren zum Kauf von Kleidern hat überreden lassen, die so fein gewebt sind, dass sie unsichtbar wirken. Den Untertanen bleibt nichts anderes übrig, als das zu glauben, bis das berühmte Kind die Wahrheit ausspricht: „Der Kaiser ist ja nackt!“. Das ist die Lehre der Aufklärung: genau hinschauen und die Wahrheit aussprechen. Es ist aber nicht die Lehre dieses Märchens, denn das geht noch weiter: Das Kind spricht die Wahrheit aus, aber niemand hört darauf. Das Publikum hört es, zuckt die Achseln und wendet sich ab; der Kaiser macht einfach weiter, als ob er nichts gehört hätte.
Das kommt der gegenwärtigen Wirklichkeit ziemlich nahe.
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Am Sonntag, 20. April 2025, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag
Die Frankfurter Schule –
ein halbes Jahrhundert Kritische Theorie
von Peter J. Brenner gesendet.
Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.
Vor über hundert Jahren wurde in Frankfurt das Institut für Sozialforschung gegründet. Freundliche Historiker schreiben dieser Frankfurter Schule eine enorme politische Wirkungsmacht, gar die „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“, zu. Die historische Wirklichkeit sieht anders aus. Das Institut war eine Forschungseinrichtung, die sich in bewegten Zeiten behaupten musste und manche Wandlungen erfuhr. Was bleibt, sind die herausragenden Werke einzelner seiner Mitglieder, die viel zum Verständnis der modernen Gesellschaft beigetragen haben.