„Umstrittene Professoren“
Das Hochschulrecht kennt W2- und W3-Professoren, Juniorprofessoren, außerplanmäßige Professoren, Honorarprofessoren und mancherlei mehr. Vielleicht kennen die Hochschulgesetze, zum Beispiel die in Hamburg oder Berlin, bald auch den „umstrittenen Professor“, der nur dann lehren darf, wenn es ihm die Aktivist*innen der Zivilgesellschaft erlauben; der nicht geschätzt und nicht geschützt wird vom Dienstherrn, sondern nur geduldet; und der von seiner eigenen Hochschulleitung im Stich gelassen oder verächtlich gemacht wird, wenn es die politische Opportunität erfordert. Faktisch gibt es die „umstrittenen Professoren“ schon. Sie heißen Münkler, Baberowski oder Lucke, sie lehren in Berlin oder in Hamburg, und ihr gemeinsames Merkmal ist es, dass sie von Studenten an der Ausübung ihres Lehramtes gehindert wurden.
Das ist nicht neu in diesem Land. Schon Max Weber wusste vor genau hundert Jahren in seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ darüber zu berichten, dass im „Hörsaal meines früheren Kollegen Dietrich Schäfer in Berlin pazifistische Studenten sich um das Katheder stellten und Lärm“ machten. Er zog daraus den Schluss, dass Politik, studentische wie professorale, pazifistische wie nicht-pazifistische, im Hörsaal nichts zu suchen habe. Das ist sicher ein guter Rat, aber den Grauzonen universitärer Wirklichkeit wird er nicht gerecht, schon damals nicht, und heute erst recht nicht.
In den vergangenen Jahren hat sich die Politisierung der Hochschulen unverkennbar verschärft. Manche Konflikte schwelen, wie an der Humboldt-Universität in Berlin, seit Jahren, und hin und wieder wird auch darüber berichtet. Größere Aufmerksamkeit fand das indes erst, als zum Beginn des Wintersemesters 2019/20 der aus dem Europaparlament zurückgekehrte Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg seine Vorlesungen wieder aufnehmen wollte. Das wurde von Studenten, nicht Studierenden, und anderen Personen verhindert. In einer gemeinsamen, von der „Exzellenzuniversität Hamburg“ verbreiteten „Stellungnahme der Wissenschaftssenatorin und des Universitätspräsidenten zur Störung der Vorlesung Makroökonomik II‘“ wurden diese Angriffe auf die Freiheit der akademischen Lehre, die den Professor wie seine studierwilligen Hörer gleichermaßen trafen, als „diskursive Auseinandersetzung“ bewertet. Das sei an Universitäten üblich und müsse von den Betroffenen eben ausgehalten werden. Weder der Universitätspräsident noch die Wissenschaftssenatorin – die schon gar nicht – sind Historiker. Sonst wüssten sie vielleicht, dass ihnen ihr Engagement für die gute Sache schlecht gedankt werden wird. Nach aller geschichtlichen Erfahrung werden sie selbst die nächsten oder übernächsten Opfer der Gewalt sein, der sie den Boden bereitet haben. Denn zur Dynamik totalitärer Systeme gehört es, dass sie am Ende auch ihre Wegbereiter fressen. Wer will, kann das bei Georg Büchner, Wolfgang Leonhard und in den Geschichtsbüchern über die Frühphase des „Dritten Reiches“ nachlesen.
Deutschland 2019: Der Staat und seine Universitäten
Zeitzeugen wissen zu berichten, dass Anfang der 1970er Jahre gewaltsame Vorlesungsstörungen an der Universität Regensburg durch einen Anruf des Wissenschaftsministers unterbunden wurden, der den Universitätsrektor darauf hinwies, dass er den störungsfreien Verlauf von Lehrveranstaltungen zu gewährleisten habe. Der Wissenschaftsminister hieß Hans Maier; er war selbst ein herausragender Wissenschaftler in seinem Fachgebiet und ein gestandener Wissenschaftspolitiker, der qua Fach und Amt wusste, was er sagte und was er tat. Heute heißen die für die Wissenschaft zuständigen Personen, in Hamburg zum Beispiel, Katharina Fegebank, haben ziemlich lupenreine Parteikarrieren hinter sich gebracht und wissen ganz offensichtlich nicht mehr, was sie sagen und was sie tun. Und über einen Universitätspräsidenten, Dr. Dr. h.c., Träger des Bundesverdienstkreuzes, Hochschulmanager des Jahres 2008, der seinem politisch missliebigen Kollegen mit unverhohlener Häme öffentlich in den Rücken fällt, muss man gar nicht weiter reden. Seiner Universität, der auch sein 1933 unter dem beifälligen Schweigen der Kollegen vertriebener Amtsvorgänger Ernst Cassirer angehörte, hat er zum 100-jährigen Jubiläum jedenfalls keinen Dienst erwiesen. Denn das wäre doch eine Lehre, die man „insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte“ ziehen müsste, auf den sich Senatorin und Präsident so anspielungsreich berufen: dass man die eigenen Kollegen nicht im Stich lässt, wenn sie von einem politisierten Mob bedroht und an ihrer Berufsausübung gehindert werden.
Nur sehr vereinzelt wird in der öffentlichen Debatte die Frage gestellt, warum das alles so ist, warum die Aktivisten der Zivilgesellschaft sich so unzivilisiert aufführen. Die Antwort ist ganz einfach: weil man sie lässt. Die immer wieder ausbrechenden gewaltsamen Auseinandersetzungen an den Hochschulen sind das Werk einer winzigen Minderheit unter den heute knapp drei Millionen deutschen Studenten, die ihre Bedeutung dadurch erhält, dass man sie unter medialem Applaus gewähren lässt. Und man lässt sie nicht nur gewähren, sondern man ermuntert sie noch dazu, jede unerwünschte Meinung zum Schweigen zu bringen. Die Ermunterung kommt aus den Medien, aus der Politik und nicht zuletzt auch von den Gerichten. Auch diese haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass nötigende Gewalt und vulgärste Beleidigung zu legalen Mitteln der politischen Auseinandersetzung, links wie rechts, geadelt wurden, sodass sich auf den Straßen und in den Hörsälen die Lautesten und Skrupellosesten durchsetzen.
Universitätspräsident und Wissenschaftssenatorin haben gewiss darauf vertraut, dass ihre Erklärung wie üblich mit beifälligem medialen Gemurmel aufgenommen werden würde. Diesmal kam es anders. Warum, weiß man nicht genau – wahrscheinlich war der unverfrorene Zynismus der gemeinsamen Erklärung der Tropfen, der das Fass dann doch einmal zum Überlaufen bringen musste. Als den Akteuren der mediale Wind ins Gesicht blies, war es mit dem Schulterschluss vorbei. Der Universitätspräsident fand sich politisch wie medial allein gelassen und kam nolens volens zur Besinnung auf das, was er seinem Amt und seinem Beruf schuldig ist. Eine gewisse Wendigkeit gehört zum Berufsprofil des Universitätsmanagers neuen Typs. In einem bemerkenswerten Gastbeitrag im „Hamburger Abendblatt“ unter dem Titel „Ich habe es satt – im Hörsaal wird keine Politik gemacht“, machte der Präsident eine 180o-Wende und beschwor die „Freiheit der Wissenschaft“, die vom Staat zu schützen sei.
Ohne schäbige Winkelzüge geht aber auch das nicht ab. Damit die Hamburger Studenten „angstfrei“ studieren können, wird ihnen nicht etwa ohne Wenn und Aber ein störungsfreier Vorlesungsbetrieb garantiert, sondern – das ist kein Scherz – die „Psychotherapeutische Hochschulambulanz der Universität Hamburg“ bietet, wie das „Hamburger Abendblatt“ berichtet, zur Schadensbegrenzung „Ad-hoc-Therapien zur Bewältigung von Posttraumatischen Belastungsstörungen“ an. Vor allem aber: Es ist eine zweite Vorlesung „Makroökonomie II“ von einer anderen Dozentin geplant, damit die Studenten nicht mit der traumatisierenden Belastung konfrontiert werden, bei einem „umstrittenen Professor“ studieren zu müssen. In der dritten Semesterwoche konnte dann die Vorlesung erstmals stattfinden, unter dem Schutz einer Polizeihundertschaft. Gleichzeitig kursierte eine anonyme Liste im Netz mit dem Namen von 16 Personen, die sich durch Äußerungen zugunsten des „umstrittenen Professors“ verdächtig gemacht haben: Deutschland 2019.
Meinungsfreiheit und „Freiheit der Wissenschaft“
Am 21.Oktober 2019 musste man auch in den obersten Etagen der Politik einsehen, dass es bei Angriffen auf „umstrittene Professoren in Hörsälen und Seminarräumen“ nicht bleiben wird, sondern dass als nächste „vermeintlich unbequeme Politikerinnen und Politiker“ an der Reihe sein werden: Der ehemalige Bundesminister Dr. jur. Thomas de Maizière war von „Aktivisten“ oder auch „Aktivist*innen“, wie es durchgehend in der Medienberichterstattung hieß, in Göttingen am Reden gehindert worden. Nach diesen Angriffen auf seinen ehemaligen Kabinettskollegen nahm am 25.Oktober 2019 mit dem Bundespräsidenten erstmals ein Politiker aus der ersten Reihe zu den „Einschüchterungen und Angriffen“ Stellung, die sich „jüngst in Göttingen und Hamburg“ zugetragen hatten. Aber die Causa Lucke ist eine andere als die Causa de Maizière.
Bei Lucke geht es, darauf hat der Hamburger Universitätspräsident in seinem Zeitungsbeitrag zu recht hingewiesen, um Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaftsfreiheit ist etwas anderes als Meinungsfreiheit. Deshalb wird die Freiheit der Wissenschaft in Art. 5 Absatz 3 Grundgesetz – wie schon in der Paulskirchenverfassung von 1848 und in der Weimarer Verfassung, nicht aber in der Verfassung der DDR – in einem eigenen Absatz unabhängig von der Meinungsfreiheit gewährleistet. Wo diese Freiheit beschränkt wurde, und das wurde sie in den letzten beiden Jahrzehnten, haben die Wissenschaft und ihre Akteure es sich selbst zuzuschreiben, weil sie sich ohne jede Not Bolognaregeln, Drittmittelzwängen, der Entmachtung der akademischen Selbstverwaltung unterworfen und sich damit zum Spielball wirtschaftlicher Interessen und politischer Begehrlichkeiten gemacht haben. In der jüngsten Zeit haben zudem Wissenschaftler der populären Vorstellung kräftig Vorschub geleistet, Wissenschaft sei so etwas wie die Fortsetzung des politischen Kampfes mit anderen Mitteln. Mit ihrer Beteiligung an Aufmärschen – „March for Science“ –, ihrer Bereitschaft, Unterschriften unter Listen mit politischen Forderungen aller Art zu setzen und überhaupt „Haltung“ zu zeigen, haben sie ohne Not die Wissenschaftsfreiheit in Misskredit gebracht.
Aber zwischen politischen Meinungen und wissenschaftlichen Aussagen besteht eine unüberbrückbare Kluft. Über politische Entscheidungen und ihre ideologischen Prämissen kann man „Meinungen“, auch unterschiedliche Meinungen, haben. In der Politik werden Interessen ausgehandelt und Machtkämpfe im Rahmen institutionalisierter Verfahren ausgefochten, es werden Entscheidungen unter Zeit- und Handlungsdruck getroffen und sie werden, sofern es sich um eine Demokratie handelt, durch Wahlen und kontroverse Abstimmungen im Parlament legitimiert. Nichts davon trifft auf die Wissenschaft zu. Für das Behaupten oder Bestreiten von wissenschaftlichen Aussagen reichen keine Meinungen. In der Wissenschaft muss man über Kenntnisse verfügen, das methodische Instrumentarium der Forschung beherrschen, Gründe für seine Aussagen anführen können und sich der fachwissenschaftlichen Diskussion stellen. Bloße Meinungen, ob politisch oder nicht, haben hier keinen Platz.
Eine Gesellschaft, welche die Freiheit der Wissenschaft zur bloßen Meinungsfreiheit herunterdefiniert, entzieht der modernen Zivilisation den Boden. Die Zeichen an der Wand sind nicht zu übersehen.