Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind. Reinbek: Rowohlt, 2. Aufl. 2014.
Denken ist anstrengend. Nicht jeder ist dafür geboren, und auch an deutschen Universitäten ist nicht jeder dazu bereit, diese Mühsal auf sich zu nehmen. Davon handelt das schmale Büchlein, das Christiane Florin schon vor fünf Jahren vorgelegt hat. Sie zeichnet das Bild einer ebenso apathischen wie vergnügten Generation, die sich in den Hörsälen versammelt. Eine Generation, die mit der Welt und vor allem mit sich selbst zufrieden und der alles fremd geworden ist außer ihrem eigenen Ich. Eine Generation schließlich, die sich chamäleonhaft anpasst an alle Erwartungen, die an sie gestellt werden, ohne sie aber zu erfüllen.
Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als widerlegten die Krawalle an deutschen Universitäten diese Beobachtungen von 2014. Studentische Aktivist*innen kommen in Florins Buch noch nicht vor. Aber der studentische Alltag, den sie beschreibt, ist der Wurzelgrund dessen, was sich in Hamburg, Berlin und anderswo teilweise schon seit Jahren abspielt. Nun kann man sich weit in die Tiefenstrukturen der Gesellschaft hineinwühlen, um die Ursachen für diese Entwicklung zu finden. Man kann aber auch, und das ist gleichermaßen reizvoll wie lehrreich, sich die Oberflächenphänomene dieser unterirdischen Verwerfungen anschauen, um das Allgemeine im Besonderen zu finden.
In diesem Sinne schildert und kommentiert Florin Erfahrungen, die sie als Lehrbeauftragte für das Fach politische Wissenschaft an der Universität Bonn hat sammeln dürfen. Der Universaleinwand, es handele sich um das Ressentiment alter weißer Männer, entfällt damit vorab schon einmal. Als Lehrbeauftragte beschreibt sie die Situation mit dem Blick der Außenseiterin und bewertet sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen, in den späten 1980er Jahren gesammelten Studienerfahrungen. Ihre Eindrücke sind subjektive Impressionen und wollen auch nicht mehr sein. Erfahrene Universitätsdozenten können aber versichern, dass ihr Bericht einen größeren Realitätsgehalt hat als manche „Spiegel“-Reportagen.
Es beginnt mit den Wasserflaschen. Das Bedürfnis der Studenten, stets eine Wasserflasche griffbereit vor sich stehen zu haben und daraus permanent schluckweise trinken zu müssen, ist eine ebenso zutreffende wie interpretationsbedürftige Beobachtung. Mit der fehlenden Bereitschaft zum Triebaufschub – bekanntlich einer zentralen Voraussetzung für die Erbringung von Kulturleistungen – allein lässt sich das nicht erklären. Florin deutet das Phänomen anders: Die Wasserflaschen bieten Halt. Sie sind „etwas zum Festhalten, etwas Empfohlenes, etwas Richtiges in einer Welt potenzieller Fehler. Gegen Wasser kann niemand etwas haben.“ (13) So ist es: Inzwischen hat sich auch die Mineralwasserindustrie des Themas angenommen und stellt eine Unterrichtseinheit – allerdings zunächst nur für Grundschulen – „Coole Kids trinken richtig“ kostenlos zur Verfügung, weil nämlich „wissenschaftlich bewiesen“ ist, dass ein „Zusammenhang zwischen ausreichender Flüssigkeitsversorgung und geistiger sowie körperlicher Leistungsfähigkeit“ besteht.
Dieses Bedürfnis nach Halt setzt sich fort und wird auch befriedigt: Die erstarrten Studiengänge der Bolognamaschinerie sagen, welche Lehrveranstaltungen man besuchen muss und welche überflüssig sind, sie benennen die Zahl der ECTS-Punkte pro Semester und den Workload, der dafür aufgebracht werden muss. Wenn das offizielle Regelwerk nicht ausreicht, werden zusätzliche Regeln von der Dozentin erbeten: Sie wollen wissen, wie oft sie fehlen dürfen, wie lang die Hausarbeit sein muss, ob die Titelseite mitgezählt wird und wie viele Zeichen eine Seite haben muss. Aber wo die Regeln nicht zur eigenen Work Life Balance passen, wird verhandelt: dass man eben doch einmal mehr fehlen müsse als gestattet, weil man einen Billigflug nach New York bekommen habe. Das sind die Symptome einer ptolemäischen Rückwärtswende, in der das studentische Ich glaubt, dass die Welt sich um es drehe: „Unterm Strich zähl‘ ich“.
Ausreden gibt es genug. Die neuen Medien mit ihren Filterblasen seien schuld, die Bologna-Reform mit ihren verschulten Studiengängen, der unmenschliche Leistungsdruck, der an Universitäten herrsche, die Notwendigkeit zu arbeiten, um sich seinen Lebensunterhalt – gemeint ist wohl eher der Lebensstandard – zu verdienen, oder der Klimawandel, der der jungen Generation die Zukunft raube. Florin lässt diese Ausreden nicht gelten und trägt ihre Befunde vor, ohne sich von der virtuellen Gegenrede einschüchtern zu lassen: Es handele sich doch nur um die übliche Studenten- und Jugendschelte, wie sie es schon seit Jahrtausenden gebe, die Studenten seien nun einmal anders als früher und überhaupt müsse man sie dort abholen, wo sie stehen. Diese Gegenrede zielt aber am Kern der Sache vorbei, weil sie die Frage ungestellt lässt, wofür denn Universitäten da sind.
Die Universität ist für die Wissenschaft da. Dem neuen studentischen Ich muss die Universität unheimlich werden, wenn die Regeln aufhören und die Wissenschaft anfängt. Hier wird das Eis dünn, gerade in einem Fach wie der Politischen Wissenschaft – für die Naturwissenschaften gilt das übrigens auch, da merkt man es nur später, in den höheren Semestern. In der Wissenschaft gibt es konkurrierende Ideen, diese und jene Theorien, von denen man nicht weiß, welche die richtige ist, verschiedene Methoden, die zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen und überhaupt einen permanenten Diskussionsbedarf, dem einen Raum zu bieten eben der Sinn von Universitäten ist. Da das alles recht mühsam ist, bietet sich die Flucht ins Bild an. Der Beamer hängt „wie ein Damoklesschwert“ – aber wer weiß schon, was das ist? – über der Dozentin und erinnert sie unablässig daran, dass die vor ihr sitzende studentische Jugend nicht nur einen unersättlichen Flüssigkeits-, sondern auch einen ebensolchen Bilderbedarf hat.
In dieses Panorama fügen sich die gewalttätigen Aktionen studentischer Minderheiten ein, von denen Florin noch nichts wissen konnte. Sie entspringen, nicht anders als die Wasserflasche, dem Bedürfnis nach Halt. Das Bedürfnis wird befriedigt durch die unerschütterliche Überzeugung, im Namen einer übergeordneten Moral zu handeln, die kein Wenn und kein Aber verträgt. Die deutschen Universitäten haben eine Generation hervorgebracht, die nicht nur diskursunwillig, sondern auch diskursunfähig ist. Während die 68er über alles und überall diskutieren wollten, wollen die Aktivisten der Zivilgesellschaft alles überall zum Schweigen bringen, was sich ihrem kleinen Weltbild nicht fügt. Ihnen fehlen schlicht die intellektuellen Instrumente für die politische Auseinandersetzung. Die dafür notwendige geistige Grundausstattung ist auf drei Wörter geschrumpft: „Nazi!“, „Rassist!“, „Klimaleugner!“. Und für noch schlichtere Gemüter lässt sich das auf die sinnleere, aber karriereträchtige und subventionsgeschwängerte Wortfolge „Kampf gegen rechts!“ eindampfen. So erfüllen die Studenten mit ihren Krawallen und Klimastreiks einfach brav die Erwartungen, die eine moralgesättigte Zivilgesellschaft an sie stellt.
Florin beschreibt Phänomene und lässt offen, warum das alles so ist. Die Antwort liegt auf der Hand. Die Universitäten haben die Studenten, die sie verdienen, mehr noch: sie haben die Studenten, die sie brauchen. Die Universität Bonn, an der Florin ihre Erfahrungen gesammelt hat, benennt ihren Auftrag so: „Unsere Mission ist es, unseren Studierenden und jungen Forschenden ein hohes Maß an Bildung und Unterstützung zu bieten und ein Umfeld zu schaffen, das der freien akademischen Diskussion und dem wissenschaftlichen Austausch förderlich ist.“ Eine Aufforderung an die Studenten, was in diesem förderlichen Umfeld von ihnen erwartet wird, lässt sich aus diesem Leitbild nicht herauslesen.
Aus gutem Grund. Denn nichts käme den deutschen Universitäten so ungelegen wie jene Studenten, die man sich wünschen würde. Motivierte, neugierige, wissbegierige, lernwillige und geistig anspruchsvolle junge Menschen würden den Betrieb empfindlich stören. Sie könnten vielleicht verlangen, dass sie auch einmal ihre Professoren zu Gesicht bekommen und nicht nur deren Assistenten oder wiederum deren Hilfskräfte, dass Lehrveranstaltungen Woche für Woche ordentlich vorbereitet werden – oder überhaupt erstmal stattfinden – und nicht im Abspulen studentischer Powerpoint-Präsentationen bestehen, dass in der Konzeption von Studienordnungen, Vorlesungen und Prüfungen fachdidaktische Expertise ablesbar ist, dass Prüfungsleistungen nicht der einfacheren Korrigierbarkeit halber auf Multiple-Choice-Formate heruntergeschrumpft werden und die Korrektur trotzdem noch Wochen und Monate dauert, dass sie nicht von Servicecentern betreut, sondern von ihren Dozenten beraten werden.
Aber Universitäten und Studenten haben sich stillschweigend auf einen Nichtangriffspakt geeinigt: Die einen arbeiten ihr Bologna-Programm ab, die anderen widmen sich ihren Karrieren an den Wettbewerbs- und Exzellenz- und „unternehmerischen“ Universitäten. Sie werben Drittmittel ein, erstellen „Studien“ für alle möglichen Auftraggeber, nehmen weltweit an Tagungen und Kongressen teil, zeigen sich im Fernsehen und lassen sich in der Presse interviewen. Für die Kärrnerarbeit im Hörsaal bleibt da keine Zeit, obwohl sie doch eigentlich der Lohn aller Mühen ist.
Eine hübsche Pointe hält Christiane Florin am Schluss bereit: Kurz vor dem Erscheinen ihres Buch wurde ein junger Mann eben dieser gerade gescholtenen Generation, der nichts als ein abgebrochenes Jurastudium aufzuweisen hatte, Außenminister der Republik Österreich. Vier Jahre später war er Bundeskanzler. Da kommt nicht nur die Autorin ins Sinnieren. Ob am Ende nicht doch der Generation Studienabbruch die politische Zukunft gehört? Auch in Deutschland gäbe es Belege dafür.