Florian Meinel: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus. München: Beck 2019.

Betriebsgeheimnisse des Parlamentarismus

„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“,  heißt es in Hegels „Rechtsphilosophie“. Diesen berühmten Sinnspruch hätte der vormalige Würzburger, jetzt Göttinger Lehrstuhlinhaber für Staatstheorie, Politische Wissenschaften und Vergleichendes Staatsrecht  als Motto seinem Buch voranstellen können. Aber Hegel kommt bei ihm nicht vor, und überhaupt interessieren ihn historische und speziell theoriegeschichtliche Aspekte seines Themas allenfalls am Rande. Sein Interesse gilt der Gegenwart, dem Regierungssystem der heutigen Bundesrepublik Deutschland

Ziemlich unbefangen plaudert er einige Betriebsgeheimnisse der Berliner Republik aus. Dazu gehört der Befund, dass es keine Gewaltenteilung gibt, dass also die Vorstellung, das Parlament kontrolliere die Regierung, zwar ganz nett, aber doch „hoffnungslos altmodisch“ sei; (166) oder dass die eigentliche Macht von der Verwaltung im Bundestag ausgeübt wird; dass weiterhin die Vorstellung,  „Europa“, gemeint ist die Europäische Union, unterläge irgendeiner demokratischen Kontrolle und habe entsprechend eine „demokratische Legitimation“ (183) eine bloße „Metapher“ ist. Das führt zu der  ja nicht uninteressanten Frage: „Wer kontrolliert Europa?“ So richtig weiß das niemand, auch Meinel nicht, und das Bundesverfassungsgericht hat, wie Meinel zu Recht vermerkt, mit seiner bloßen Metapher der „Rückkopplung“ der europäischen Institutionen an die nationalen Parlamente mehr Verwirrung gestiftet als Klarheit geschaffen. (183) Zugleich hat es das Parlament weiter entwertet und zu einer Monitoring-Institution mit Beobachtungspflichten herabgestuft. Meinel interessiert sich für diese Frage nicht wirklich. Das fröhlich eingestandene „Demokratiedefizit“ in der EU stört ihn nicht weiter, schließlich gibt es das auch in Deutschland.

Und das ist sein Thema: Wie funktioniert das Regierungssystem der Bundesrepublik? Kerngedanke und Ausgangspunkt von Meinels Überlegungen ist die Prämisse, dass das „parlamentarische Regierungssystem“ der  Bundesrepublik Deutschland  keine Gewaltenteilung im klassischen Sinne kennt. Für eine entsprechende Aussage wurde einmal ein anderer Autor in einer süddeutschen Qualitätszeitung von einer allerdings demokratietheoretisch ziemlich unbedarften Journalistin scharf gerügt und mit Rechtspopulisten und „Verschwörungstheoretikern“ in Verbindung gebracht.

Das Schicksal droht Meinel sicher nicht. Denn sein Befund ist empirisch wie politiktheoretisch gut abgesichert und für jeden aufmerksamen Beobachter mit Händen zu greifen. In der deutschen Demokratie gibt es keine Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament, was aus dem simplen strukturellen Befund folgt, dass der Bundeskanzler vom Parlament gewählt und seine Regierung vom Parlament gestützt wird. Eine Kontrollfunktion im Sinne von Montesquieus Theorie der Gewaltenteilung kann in dieser Tektonik dem Parlament als Ganzem nicht zukommen, sondern allenfalls der Opposition, die aber per definitionem in der Minderheit ist.

Das entspricht  nicht der reinen Lehre klassischer Demokratietheorie, aber verwerflich ist es auch nicht. Ob das von der Verfassung so gewollt oder  ob das eine hinzunehmende faktische  Entwicklung in der bundesrepublikanischen Geschichte ist, lässt  Meinel offen. Genauer gesagt: Es interessiert ihn nicht. Was ihn interessiert, sind die tatsächlichen Mechanismen der Macht, wie sie sich in den  sieben Jahrzehnten der bundesrepublikanischen Geschichte herausgebildet haben.

 

Institutionenkunde für Fortgeschrittene

Hierzu entwickelt er Beschreibungsmodelle,  die mal mehr, mal weniger plausibel sind. Als die  eigentlichen Träger der Macht sieht  er drei Institutionen, auf die der laienhafte Betrachter, der nicht mehr weiß als das, was er im Gemeinschaftskunde­unterricht gelernt hat, nicht so ohne weiteres kommen würde:  die Volksparteien, das Bundeskanzleramt und das Bundesverfassungsgericht. (49)

Meinels Überlegungen verlieren sich gerne in weniger bekannten Artikeln des Grundgesetzes oder in den Paragraphen der Geschäftsordnung der Bundesregierung oder des Parlaments.  Das klingt manchmal allzu detailverliebt, ist aber für den, den es interessiert, immer interessant. Dass es nicht die schwer­gewichtigen ersten 20 Artikel der Verfassung, sondern die kleinen Raffinessen des Geschäftsordnungs­alltags sind, die den politischen Betrieb nicht nur funktionell, sondern auch eminent politisch-ideologisch prägen, ist in jüngerer Zeit bei den öffentlich gewordenen Diskussionen über Ausschussbesetzungen und Vizepräsidentenwahlen des Bundestags und der Landesparlamente ziemlich deutlich geworden. Dass der Artikel 43 GG eine „schlechterdings fundamentale Vorschrift“ enthalte, ist aber für den naiven Leser doch etwas gewöhnungsbedürftig. Der Artikel behandelt das Verhältnis der Bundestagsausschüsse zu den Regierungsmitgliedern.  (62)

Aber wenn man Meinel folgt, wird das Parlament ohnehin überschätzt. In hübscher Beiläufigkeit gelingen ihm dann Feststellungen wie die, dass die gängige und viel kritisierte Praxis der „Parteienpatronage“, also die Besetzung öffentlicher Ämter nach Parteibuch,  eine „verfassungsmäßige Notwendigkeit“ darstelle. (86f.) Das wird man in den Bundes- und Landesregierungen gerne hören. Nicht falsch ist sicher der Hinweis, dass das Verfassungsgericht keine moralische Institution sei, auch wenn es sich gerne als solche aufspielt und so wahrgenommen wird  – aber richtig ist: „Verfassungsrecht ist politisches Recht“, kein moralisches Gesetz. (89) Richtig ist sicher ebenso  die Beobachtung, dass das Verfassungsgericht – und der Europäische Gerichtshof folgt diesem Vorbild gerne – seinen Einflussbereich immer weiter ausgedehnt und zugleich das Grundgesetz nicht mehr nur interpretiert, sondern „normativ ungestaltet“. (98)

Sehr sonderbar kommt Meinel die Vorstellung vor, „dass Demokratie vor allem etwas mit Transparenz“ zu tun“ habe. (165) Die Kontrollfunktion gegenüber der Regierung, die in klassischen Demokratietheorien beim Parlament liegt, sieht Meinel anderswo besser aufgehoben: bei Rechnungshöfen, Medien und NGOs. (166) Ob es bloße Originalitätssucht ist oder Meinels  wirkliche Überzeugung, ist schwer ersichtlich. Kurz und bündig: Das  Parlament ist nicht zum Diskutieren da, sondern zum Entscheiden. (58)

Regierungspolitik vollzieht sich also in wechselseitigen Prozessen der Duldung und Anerkennung verschiedener Institutionen.  Die einfache Frage, welche Rolle denn in diesen Mechanismen der Art. 20 GG – ­„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – spielt,  umgeht Meinel weiträumig und belässt es bei einer flüchtigen Erwähnung. (118) Aber das ist doch eigentlich die Grundfrage der Demokratie, die in den sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre wieder in den Blick gerückt ist. Und auf diese Frage sollten Staatsrechtler und Politologen eine Antwort geben können, die sich nicht in der Feststellung erschöpfen kann, dass das Parlament in Deutschland ein größeres „Näheverhältnis“ zur Regierung als zum „Volk“ hat. (100f.)

Die Frage nach der  Legitimität dieser Praktiken, in denen die Feinmechanik der Machtausübung justiert wird, bleibt ungestellt.  In der Summe  kommt Meinel  zu dem effektvollen Ergebnis, dass in den ganzen Wirren und Undurchschaubarkeiten des „parlamentarischen Regierungssystems nur das Bundeskanzleramt in seiner Machtfülle unangefochten“ sei. (158) Am Ende laufe das System auf eine monokratische Herrschaft des Kanzlers hinaus; ganz so, wie Bismarck es gewollt und praktiziert habe. (163)

 

Kampfbegriff  „Demokratie“

Aber für Meinel hat „Demokratie“, das erklärt er gleich zu Anfang, längst die „Züge eines prekären und diffusen Kampfbegriffs“ angenommen, (8) sodass, so darf man weiter folgern, jeder, der sich auf die Demokratie und ihre Verfassung beruft, unter Populismusverdacht gerät. Dass sich diese Entwicklungen in wechselseitigen Anerkennungsprozessen und im Zweifel mit Hilfe des Verfassungsgerichts Legalität verschafft haben, hat man hingenommen. Aber ob die von Meinel beschriebene, sehr weitgehende Entfernung der politischen Praxis von den Leitideen der Verfassung noch legitim ist, bleibt eine ungestellte Frage. Genau um diese Frage geht es aber im sich verschärfenden politischen Alltag. Wohin das führt, hat sich in der Corona-Krise gezeigt.

Die „Vertrauensfrage“, von der der Titel des Buches spricht, entfernt sich von den gewohnten Bahnen politologischen Denkens: Es geht nicht um das Vertrauen, das das Wahlvolk der Regierung entgegen‑  und in  Wahlentscheidungen zum Ausdruck bringt. Es geht vielmehr um das Vertrauen, das die tatsächlich herrschenden Akteure und ihre Institutionen – Regierung, Parteien, Bürokratie – untereinander aufbringen. Wenn Meinel einen Beitrag zur Politikverdrossenheit und zur Elitenverdrossenheit leisten will, ist das sicher ein gangbarer Weg. Der Demokratiemissachtung, die sich bei den politischen, besonders den EU-Eliten, längst als Normalfall etabliert hat , verleiht Meinel höhere akademische Weihen. Ob er sich einmal Gedanken darüber gemacht hat, dass die von ihm so missgünstig betrachtete ziemlich stabile Etablierung einer Partei „rechts von der CSU“  genau damit zusammenhängen könnte? Und was soll man davon halten, dass das Buch auch als „Lizenzausgabe der Bundeszentrale und der Landeszentralen für politische Bildung“ verbreitet wird? Es ist sicher kein Zufall, dass Meinel auch „Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der Carl-Schmitt-Gesellschaft“ ist.

Der Bundesinnenminister der 1960er Jahre, Hermann Höcherl,  pflegte, nur halb im Scherz, zu sagen, als Minister könne er nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen. Das ließ man ihm als bayerische Folklore durchgehen, und immerhin implizierte diese etwas fragwürdige, aber sicher zutreffende Aussage, dass das Grundgesetz selbst  dann der Maßstab für das Regierungshandeln bleibe, wenn man es beugen oder umgehen müsse.

Worin denn nun die im Untertitel beschworene „Krise des heutigen Parlamen­tarismus“ besteht, erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Denn eigentlich wirkt Meinel doch sehr zufrieden mit dem, wie es ist. Die Antwort auf die Frage nach der „Krise“ findet sich gleich am Anfang des Buchs: Die Krise wurde und  wird von denen hervorgerufen, die sich „traditionell stark“ – allzu stark? – „für die Grundrechte und die materiellen Verfassungsprinzipien“ interessieren statt für die Institutionen unterhalb des Verfassungsrecht und für informellen „Spielregeln“, die den Betrieb dort am Laufen halten, wo niemand hinschaut. (8)  Die Krise wird, um es unverblümt zu sagen, von der AfD befeuert. Im Bundestag ist sie zwar nur eine marginale Kraft, aber ihre Neigung, den Betrieb zu stören, die eingespielten Gewohnheiten nicht zu akzeptieren und die Spielregeln zu missachten stören die Verlässlichkeit und die Fähigkeit zur „Kompromissbildung“. (10)  Und wer, wie der „wutbürgerliche Gelehrte“ Egon Flaig und andere, den „Fraktionszwang“ als grundgesetzwidrige Beeinträchtigung der freien Meinungsbildung bei den Angeordneten tadelt, macht sich zum Anwalt eines „rechte[n] Antiparlamentarismus“. (42)  Sein flockiger Stil erlaubt es dem Verfasser, seine politischen und persönlichen Präferenzen zu Ausdruck zu bringen, ohne dass sie so anstößig wirken wie sie tatsächlich sind. Man muss Meinel dankbar sein, dass er ungeniert ausspricht,  was jeder weiß und kaum jemand sagt.

 

Legitim ist, was funktioniert

Meinels Buch endet mit einer etwas rätselhaften Schlussbemerkung, mit der Frage an die „westlichen Gesellschaften“ nämlich, „wie weit ihr politischer Begriff der Staatsangehörigkeit heute noch trägt.“ (213) Die Frage bleibt offen, wer der Souverän sein wird, von dem Parlament und Regierung ihre Legitimität beziehen, wenn  es keine „Staatsangehörigen“, also kein „Staatsvolk“ mehr gibt. Ganz offen bleibt sie aber doch nicht. Meinel legt eine Antwort nahe: das Regierungshandeln legitimiert sich selbst, solange es reibungslos funktioniert.  Meinels Buch handelt ja davon, dass sich Legitimitäts­forderungen, wie sie sich aus dem Grundgesetz und aus der neuzeitlich-westlichen Souveränitätslehre ergeben, „altmodisch“ sind, unnützer historischer Ballast. Das „parlamentarische Regierungssystem“ der Berliner Republik bezieht seine Legitimität aus sich selbst und aus dem Zusammenspiel  der Institutionen und der Bürokratie. „Legitim“ ist nicht, was das „Volk“ als Souverän legitimiert hat, legitim ist, was funktioniert, Volk hin oder her.

Der aufmerksame Beobachter des deutschen Politikbetriebs wird Meinels Analysen weitgehend zustimmen und sich in vielem belehrt finden. Aber es sind nicht nur Analysen, die Meinel vorträgt,  sondern auch der Befund, dass sich die deutsche Regierungswirklichkeit immer weiter von der geschriebenen Verfassung und von den geschriebenen wie ungeschriebenen Ideen der westeuropäischen Demokratie­tradition  entfernt.

Das alles hört sich recht systemkritisch und umstürzlerisch an, aber gemeint ist das Gegenteil: so wie es ist, ist es gut, und ändern braucht man eigentlich nichts, am besten lässt man den Dingen ihren Lauf. So ist es wohl heute Professorenart. Von ferne erinnert  Meinels Haltung  an die Entwicklung, die der deutsche Journalismus in den letzten Jahren erfahren hat:  ein Wandel von der Berichterstattung zur aktivistischen Teilhabe an den Prozessen.

Meinels Buch ist die akademische Besiegelung einer Attitüde, welche sich in der jüngeren Professorengeneration und überhaupt im aktuellen Diskurs fest etabliert. Markant ist ihr Desinteresse an den Grundfragen der Demokratietheorie, welche die erste, die bundesrepublikanische Gründergeneration der Politologen mehr als alles andere interessiert hat – die Frage, wie sich die unterschiedlichen Auffassungen und Interessen der Bevölkerung in den Institutionen der repräsentativen Demokratie auffangen lassen, die Frage nach dem Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten, die Frage nach der Vermittlung von sachlichen Erfordernissen  einer modernen Industriegesellschaft und politischen Positionen. Das alles interessiert Meinel nicht.  Meinels Buch enthält eine starke Wertung, die mit dem Gestus lässiger Nonchalance überdeckt wird, sodass man sie leicht übersieht: Die traditionellen Verfahren der Demokratie sind nur ein Störfaktor im Betriebsablauf..

Hegel, dem enorm einflussreichen Verfasser der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, hat man seine schulbildende Staatsgläubigkeit vorgeworfen. Die war bedenklich genug. Die Geschichte des Linkshegelianismus hat allerdings gezeigt, dass Hegels Rechtsphilosophie, gut dialektisch, in das Gegenteil, Umsturzwilligkeit, umschlagen konnte. Das ist bei Meinel nicht zu befürchten. Bei ihm ist an die Stelle der  Staatsgläubigkeit die Regierungshörigkeit getreten, und damit erweist er sich als professorales Kind des Zeitgeistes.