Die „Formierte Gesellschaft“

Der Wirtschaftsminister Ludwig Erhard hat in den 1960er Jahren der Bundesrepublik einen Wohlstand beschert, von dem sie noch jahrzehntelang zehren konnte. Als Kanzler ist er gescheitert. Drei Jahre nach seinem Amtsantritt hatte er jede Akzeptanz verloren und musste zurücktreten – was er immerhin auch getan hat – und einer Koalitionsregierung mit dem Kanzler Kurt-Georg Kiesinger und dem Außenminister Willy Brandt Platz machen. Gescheitert ist er, weil er als Wirtschaftsfachmann die Klaviatur der Machtpolitik nicht beherrschte, die eine ganz andere ist als die der Ökonomie.

Verstanden hat Erhard das nicht. Als sich seine kurze Kanzlerschaft schon nach einem Jahr dem absehbaren Ende zuneigte, versuchte er noch einmal zu retten, was nicht mehr zu retten war, indem er gesellschaftliche Zustimmung für seine Person und seine Politik von Staats wegen organisierte. Dem Ökonomen war klar gewesen, dass Wohlstand nur dort entstehen kann, wo die Wirtschaft sich im Rahmen eines sozialstaatlichen Regelwerks im freien Spiel der Kräfte entfalten kann. Dem Politiker Erhard war das nicht klar. Nachdem die Zauberformel „Wohlstand für alle“ sich durch ihren eigenen Erfolg abgenutzt hatte, versuchten es Erhards Berater mit der weit weniger durchschlagskräftigen und am Ende auch erfolgslosen Formel der „Formierten Gesellschaft“, die der Kanzler beim Parteitag 1965 vorstellte. Im Kern meinte er nichts anderes als die Aufhebung der pluralistischen Gesellschaft. Er forderte die zahlreichen Verbände und Vereinigungen auf, ihre jeweiligen Gruppeninteressen aufzugeben und „kooperativ“ zusammen mit der Regierung an einem Strang zu ziehen. 1965 war die Demokratie in Westdeutschland noch so weit in Ordnung, dass diese verzweifelte Idee zur Rettung der Regierungs- und Kanzlermacht nur öffentliches Kopfschütteln hervorrief und sie schnell wieder im Dunkel der Geschichte versank.

 

Von der Verbändedemokratie …

Der Bonner Republik hat man den Vorwurf gemacht, in ihr gebe es eine „Herrschaft der Verbände“ – eine Herrschaft, welche die durch Wahlen und Verfahren legitimierten politischen Akteure entmachte. Ganz abwegig war das nicht. Tatsächlich hat es bis zur Jahrtausendwende und darüber hinaus mächtige Verbände gegeben, die einen maßgeblichen Einfluss auf das politische Geschehen nehmen konnten. Gewiss hatten und haben Verbände einen verfassungsrechtlich geringeren Status als Parteien. Sie können sich nur auf die „Koalitionsfreiheit“ des Art. 9 GG berufen, während der Art. 21 die Parteien bekanntlich ausdrücklich dazu auffordert, an der „politischen Willensbildung des Volkes“ mitzuwirken. Dass aber die auf freien Zusammenschlüssen beruhenden Verbände eine zentrale – und auch pazifizierende – Rolle bei der politischen Austragung von Interessenkonflikten spielten und damit substanzieller Teil der bundesrepublikanischen Demokratie waren, ist unbestritten.

Die Verbändedemokratie in ihrem kleinteiligen Interessenpartikularismus war eine Verhandlungsdemokratie, in der in mühsamer Kleinarbeit tragfähige Kompromisse ausgehandelt und überstürzte Entscheidungen vermieden wurden. Das hat ziemlich gut funktioniert und war das genaue Gegenteil von einer Parteienochlokratie, wie sie sich in der Berliner Republik etablierte. Diese Verbände ließen sich leicht sortieren: Es gab die Industrie- und Arbeitgeberverbände, die mächtigen Gewerkschaften des DGB, die ebenfalls ziemlich einflussreichen Lehrerverbände, die Industrie- und Handels- sowie Handwerkskammern, die Wohlfahrts‑ und Sozialverbände sowie die politisch sehr ambitionierten beiden christlichen Kirchen.

Diese klare Struktur gibt es nicht mehr. Die alten Verbände haben ihre überragende Bedeutung verloren und sind versunken in einem unüberschaubaren Gewimmel von partikularen Interessenvereinigungen. Man schätzt, dass es in Deutschland aktuell rund 200 000 Interessenvereinigungen aller Art gibt, darunter etwa 40 000 Sportvereine sowie etwa 5 000 Verbände im engeren Sinne und 1 200 registrierte Lobbygruppen.

 

… zur „Zivilgesellschaft“

Im Februar 2024 feierte die Verbändedemokratie eine merkwürdige Wiederauferstehung im neuen Gewand. Tausende von Organisationen meldeten sich zu Wort und riefen zu Demonstrationen auf. An diesen Demonstrationen haben sich einige hunderttausend Menschen beteiligt – die offiziellen Zahlenangaben unterliegen enormen Schwankungen –, und beteiligt haben sich auch Vereinigungen aller Art. Die Liste der „unterzeichnenden Organisationen“ der federführenden Bewegung „Hand in Hand“ umfasst inzwischen über 2000 Einträge – man wusste gar nicht, dass es so viele politische Vereinigungen überhaupt gibt. Aber als „politische Vereinigung“ fühlt sich inzwischen jeder Kreisliga-Fußballverein in der Provinz: Deshalb ist auch die „SG Borussia Fürstenwalde e.V.“ mit dabei. Und sie steht nicht allein: Das Alphabet führt den „Bund der Antifaschisten Treptow e.V.“ in enge Nachbarschaft mit dem „Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ)“ und der wiederum wird flankiert vom „Bund der Freien Waldorfschulen e.V.“; beteiligt sind neben der „Deutschen Nationalbibliothek“ ein halbes Dutzend Bibliotheken, von Universitätseinrichtungen bis hin zu Stadtbüchereien; und wer gerne Äpfel ist, kann sich durch die „Solawi Gärtnerei Apfeltraum“ – „Solawi“ steht für „Solidarische Landwirtschaft“ – politisch vertreten fühlen, während die Honigliebhaber durch die „Stadtbienen gGmbH“ repräsentiert werden. Und wo so viele im Namen der Vielfalt versammelt sind, darf die Hockey-Abteilung der „Neuköllner Sportfreunde e.V.“ genauso wenig fehlten wie der „1. GBC Berlin e.V. – Bogensport für LSBTIQA“, die „Stiftung Tinnitus und Hören Charité“ und die „Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung e.V. (BAG-SB)“. In dieser sonderbaren Vielfaltsliste wächst zusammen, was ganz und gar nicht zusammengehört.

Und das ist noch nicht alles. Vier einstmals bedeutende Zeitungen und ein Online-Medienunternehmen haben eine Kampagne unter dem albernen Schlagwort „#Zusammenland – Vielfalt macht uns stark!“ initiiert. Sie will ein „Zeichen gegen Rechtsextremismus“ setzen, das im Wesentlichen aus Anzeigenkampagnen bestehen soll. Über 500 Firmen, darunter auch solche im Staatsbesitz, schalteten großformatige – und teure – Anzeigen unter dieser Überschrift „Zusammenland“. Bereits im August 2023 lancierte der „Paritätische Wohlfahrtsverband“ mit seinen 18 Mitgliedsorganisationen eine ähnliche Kampagne. Den Zeitungen wird diese Werbeaktion ein dankbar angenommenes Zubrot verschaffen, nachdem die Corona-Anzeigenkampagnen weitgehend weggefallen sind.

Diese Bewegung wird freundlich unterstützt von den Parteien und den Regierungen in Bund und Ländern, Spitzpolitiker marschieren gerne vorneweg; die Oberbürgermeisterin Augsburgs ermuntert die Angehörigen ihrer Stadtverwaltung sanft zur Teilnahme; die nordrhein-westfälische Schulministerin forderte Lehrer und Schüler ebenfalls zum Demonstrieren auf – die Schüler lernen das Zeichensetzen nicht mehr im Deutschunterricht, sondern auf der Straße.  Beide Politikerinnen sind übrigens als CDU‑ oder CSU-Mitglieder Angehörige von Parteien, gegen die die Demonstrationen „gegen rechts“ sich auch richten.

 

„Zusammenhalt“ im „Zusammenland“

Früher hieß das „Formierte Gesellschaft“, heute nennt man es „Zivilgesellschaft“. Diese Begriff zehrt immer noch vom Glanz seiner Anfangsjahre, als man dachte, dass mit den zivilgesellschaftlichen Bewegungen die Bürger jenseits von Staat, Regierung und Behörden ihre Angelegenheiten selbstbestimmt und selbstbewusst in die Hand nehmen. Das ist längst vorbei. Was sich heute „Zivilgesellschaft“ nennt, ist nichts anderes als ein hochsubventionierter verlängerter Arm der Regierungspolitik, mit der sich der Staat die Gesellschaft bis in die letzten Verästelungen hinein gefügig macht.

Die Idee einer „Formierten Gesellschaft“ verschwand sehr schnell wieder aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sie scheiterte, weil ausgerechnet der Ökonom Ludwig Erhard vergessen hatte, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält: das Geld. Diesen trivialen Antriebsmechanismus der aktuellen Protestbewegungen sollte man nicht unterschätzen. Viele der beteiligten Organisationen sind gemeinnützig und damit steuerbegünstigt, etliche werden direkt vom Staat subventioniert und wieder andere hoffen darauf, dass das bei ihnen auch einmal der Fall sein wird.

Ein großer Teil dieser Gelder kommt vom unscheinbaren Familienministerium, das nach den Worten eines SPD-Bundeskanzlers eigentlich eher für „Gedöns“ zuständig ist. 2023 hat das Familienministerium 182 Millionen Euro für mehr als 700 Projekte ausgegeben – und „Projekte“ heißt, dass hier Menschen mit Immatrikulations­hintergrund beschäftigt werden, Pädagogen, Politologen, Sozial- und Geisteswissenschaftler aller Art, die sonst auf dem Arbeitsmarkt schwer zu vermitteln wären und die alles tun, damit ihre Projekte „verstetigt“ werden. Das gerade von der Regierung auf den Weg gebrachte „Gesetz zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung (Demokratiefördergesetz)“ dient genau diesem Zweck: Zur Stärkung der „engagierten Zivilgesellschaft“ soll die „längerfristige, altersunabhängige und bedarfsgerechtere Förderung von Maßnahmen Dritter“ ermöglicht werden. Das Zauberwort heiß „längerfristig“ – das lässt auf lebenslängliche Beschäftigung im Dienst der Demokratieförderung hoffen.

Aber nicht nur die „Zivilgesellschaft“ im engeren Sinne erfreut sich der pekuniären Gunst der Regierung. Auch das Schweigen der großen Wirtschaftsverbände zur desaströsen Energie-, Sozial‑ und Migrationspolitik ist leicht erklärlich: Sie wurden zum Schweigen gebracht. Ihnen wurden Milliardenzuwendungen verspochen und auch schon ausgehändigt für die Herstellung von „grünem Stahl“, für klimagerechte Produktion, für menschenrechtskonforme Lieferketten, für Elektromobilität, für Heizungstausch, Wärmedämmung und Wohnungsbau; die Arbeitnehmer- und Sozialverbände wiederum wurden ruhiggestellt mit dem Versprechen auf immer höhere Mindestlöhne, Vier-Tagewoche und Bürgergelderhöhungen.

Aber Geld allein kann die psychosoziale Dynamik dieser Demonstrationshysterie nicht erklären. Es geht auch um Politik. Die politischen Motive sind indes schwer greifbar. Eine eigentliche politische Programmatik ist nicht zu erkennen, die zahlreichen Schlagwörter und Hashtags, mit denen die Massen mobilisiert werden, sind unscharf und ziemlich variabel: gegen rechts, gegen Rechtsextremismus, für die Verteidigung einer offenen und demokratischen Gesellschaft, für Selbstbestimmung und Humanität, Menschenrechte für Alle, gegen Rassismus, Antisemitismus „und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“.

Im Kern laufen sie immer auf das Gleiche hinaus: „Zusammenhalt“. Das ist das Schlagwort, das seit Jahren von den Repräsentanten der Regierung gepredigt wird und das jetzt seinen Widerhall auf den Straßen findet. Aber nicht einmal die treuesten Anhänger der Regierungsparteien demonstrieren für ihre Regierung. Vielmehr ist der Protest gegen die Opposition der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die schmelzende Schar der Regierungsanhänger noch einigen kann.

 

Was treibt sie an?

Aber es steckt noch mehr dahinter, und die grundlegende Frage ist schwer zu beantworten: Was treibt sie an? Bei einer Mehrheit dabei zu sein, fühlt sich immer gut an, zumindest für den, der so etwas mag. Aber es steckt noch mehr dahinter. Hinter der „Vielfalts“-Rhetorik und den – eigentlich gegenläufigen – Beschwörungen des „Zusammenhalts“ verbirgt sich die Ahnung einer gescheiterten Gesellschaft. Die Medienkampagnen und Straßendemonstrationen sind die Symptome einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, der in den vergangenen zwanzig Jahren die sozialen, kulturellen und zuletzt auch die materiellen Bindekräfte abhanden gekommen sind. Diese Gesellschaft muss jetzt die unangenehme Erfahrung machen, dass nach zwei Generationen des Wachstums das große Versprechen des unablässigen Aufstiegs und des zunehmenden Wohlstands nicht mehr eingehalten werden kann, dass die sozialen Sicherheitssysteme durch eine fahrlässige Wohlfahrts- und Migrationspolitik vor einem Kollaps stehen und dass die äußere Sicherheit gefährdet ist.

Die Wohlstands- und Überflussgesellschaft hat über zwei Generationen hinweg einen hedonistischen und narzisstischen Ich-Kult hervorgebracht, unter dessen Herrschaft soziale Identitäten mürbe geworden sind und sich aufgelöst haben. Jetzt werden sie neu sortiert. Politische, soziale, ökonomische, kulturelle und nationale Zugehörigkeiten verlieren an Bedeutung. Sie wurden ersetzt durch die „neuen sozialen Bewegungen“, dann durch ein immer weiter ausgedehntes Spektrum an Geschlechtsidentitäten und schließlich sogar durch die Hautfarbe. Auch die Tausend und Abertausend sozialen Mikroorganismen, die sich gerade im „Kampf gegen rechts“ zusammentun, gehören zu dieser Simulation einer sozialen Bindungsfähigkeit die es real nicht mehr gibt.

Seit einem Jahrhundert schon beschreiben Soziologen diese Entwicklung als eine notwendige Begleiterscheinung gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse. Sie führen notwendig zur Herausbildung einer amorphen „Massengesellschaft“. Diese „Masse“ besteht aus atomisierten Einzelnen, die von den faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen des Westens und später den sozialistischen des Ostens nach Belieben neu formiert, in staatlich gelenkte Massenorganisationen eingebunden und mühelos in Marschkolonnen auf die Straße und später auf die Schlachtfelder zu bringen waren.

Der Spanier José Ortega y Gasset hat in seiner kulturphilosophischen Analyse „La rebelión de las masas“, „Der Aufstand der Massen“, in den 1920er Jahren eine präzise Beschreibung dieser Phänomene gegeben, die seine Zeit beunruhigten und die auch die Gegenwart wieder beunruhigen sollten: „Die Masse haßt bis auf den Tod, was sie nicht ist“, heißt es hier; sie setzt sich aus einem Menschentyp zusammen, der „weder Gründe angeben noch Recht haben will, sondern der einfach nur entschlossen ist, anderen seine Meinung aufzuzwingen“.

Darin unterscheidet sich die Massengesellschaft „von einer Demokratie, die immer damit leben muss, und leben kann, dass es auch andere Meinungen geben muss und geben kann, mit denen man irgendwie friedlich, wenn auch nicht zwingend freundlich zusammenleben muss.“ Das wurde vor einem knappen Jahrhundert geschrieben und bietet auch heute noch reichlich Stoff zum Nachdenken.

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Am 25. Februar 2024 wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag

„Die zweite Natur“ – Deutschland und seine Infrastruktur

von Peter J. Brenner gesendet.

Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.

Verkehrswege und Wasserstraßen, später Eisenbahnlinien, Stromleitungen, Kanalisationssysteme begleiten die Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Diese Infrastrukturen umgeben die Menschen wie eine zweite Natur. Mit ihrer Einrichtung werden Entscheidungen darüber gefällt, wie Menschen leben müssen und wie sie miteinander und mit der Natur umgehen. Ihr Bau ruft Widerstände hervor, sie sind ungerecht verteilt, nicht jedem zugänglich, und oft werden sie auch zu prestigeträchtigen Objekten politischer Machtdemonstrationen. Aktuell stehen die Infrastrukturen in Deutschland vor einem Kipppunkt: Die alten und bewährten Systeme sind verrottet, die neuen erfüllen ihre Aufgaben in der Daseinsvorsorge nicht.