- Die Angststatistik
Die Deutschen haben Angst. Das ist nichts Neues. Seit Jahrzehnten wird ihnen nachgesagt, dass sie sogar eine besondere Art von Angst hätten, „the German Angst“, wie es sie auf der Welt sonst nicht gibt. Besonders politisch korrekt ist die aktuelle Angst aber nicht. Die R+V-Versicherung erhebt seit über dreißig Jahren in repräsentativen Befragungen die „Ängste der Deutschen“. In der aktuellen Ausgabe vom Oktober 2023 zeigt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen den Wunschvorstellungen, die in der Politik und den Medien verbreitet sind, und dem Angstempfinden der Bevölkerung.
Eigentlich, so wünscht man es sich, sollten die Deutschen Angst vorm Klimawandel haben, denn der bewege sich unablässig auf eine Klimakatstrophe hin, die nur unter Anspannung aller Kräfte vermieden werden könne. Aber hier bleiben die sonst so unterwerfungswilligen Deutschen halsstarrig. Sie beharren auf ihrer falschen Angst. Ihre Hauptangst gilt der Inflation. Denn Inflation bedeutet Wohlstandverlust, verbunden mit Abstiegsängsten, und das ist die elementare Angst der Deutschen seit einem Jahrhundert. Über lange Zeiträume hinweg, fast sieben Jahrzehnte lang, konnte diese Angst in der Bundesrepublik politisch und vor allem ökonomisch gezähmt werden. Die Urangst vor materieller Unsicherheit trat in den Hintergrund; an ihre Stelle traten eine ganze Reihe anderer Ängste.
Die Republik der Angst
Der Historiker Frank Biess hat in seiner großen Studie über die „Republik der Angst“ – gemeint ist die Bundesrepublik – gezeigt, dass die politischen Bewegungen in Westdeutschland seit dem Kriegsende vom Leitmotiv der „Angst“ geprägt waren: Angst vor der Vergeltung derer, die unter dem NS-Regime gelitten haben, Angst vor dem Krieg, Angst vor dem Kommunismus, Angst vor der Modernisierung, Angst vor dem Atomtod in seiner militärischen wie seiner zivilen Variante, Angst vor dem Terrorismus und schließlich, alles überbietend, Angst vor der Apokalypse, die von der Umwelt- und Friedensbewegung ins politische Spiel gebracht wurde. Diese Ängste hatten ein unterschiedliches Gewicht und einen unterschiedlichen Realitätsgehalt. Ganz abwegig waren sie nicht, am realsten war wohl die Gefahr, dass der „Kalte Krieg“ in einen heißen, vielleicht sogar in einen Atomkrieg münden könnte.
Regierungsangst
Angst ist ein schlechter Ratgeber, das weiß der Volksmund¸ aber mit der Angst lässt sich leicht regieren, das wissen die Regierenden. Wer Angst hat, unterwirft sich gerne dem, der ihm Sicherheit verspricht. Es liegt auf der Hand, dass die Bereitschaft zur Aufgabe von Freiheitsansprüchen zugunsten von Sicherheitsversprechen umso höher ist, je stärker das Gefühl der Bedrohung wächst.
Im politischen Sprachgebrauch hat sich die Redeweise durchgesetzt, „populistische Parteien“ erkenne man daran, dass sie die „Ängste der Bevölkerung schüren“, um ihnen dann anschließend mit dem Angebot „einfacher Lösungen“ diese Ängste wieder zu nehmen. Aufmerksamen Beobachtern der Tagespolitik wird indes nicht entgehen, dass das Schüren von Ängsten in der politischen Auseinandersetzung keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal populistischer Parteien ist. Heute wird speziell in der Klimadiskussion die Panikbereitschaft als politische Tugend gefeiert. Von ikonischer Bedeutung war der Auftritt einer 16-jährigen Schülerin beim Weltwirtschaftsforum 2019 in Davos, die den Reichen und Mächtigen dieser Welt zurief: „I want you to panic! I want you to feel the fear I feel every day and then I want you to act!“
Spätere Forschergenerationen werden vielleicht herausfinden, warum erwachsene Menschen sich in dieser Weise selbst zum Narren machen konnten. Hilfreich bei der Klärung dieser Frage ist ein Blick auf das 1979 erschienene Buch „Das Prinzip Verantwortung“ des Heidegger-Schülers Hans Jonas. Das Buch hat der heutigen Umwelt- und speziell Klimadiskussion wirkmächtige Denkmuster an die Hand gegeben. Dazu gehört auch die Rehabilitation der „Angst“ als einem Mittel der Politik. Seitdem pflegt die deutsche Umwelt- und Klimapolitik in allen ihren Facetten eine permanente Katastrophenstimmung, die von der klimaforschenden Panikindustrie immer wieder neu geschürt werden muss.
Die Wohlstandsgesellschaft
Aber es hilft alles nichts: Die Urangst des deutschen Bürgertums ist nicht die Klimakatastrophe, sondern die Abstiegsangst. Apokalyptische Bedrohungsszenarien verlieren ihren Reiz, wenn reale Wohlstandsverluste drohen und wenn die alltägliche Lebensführung unsicher wird, weil staatliche Institutionen versagen. Den Bundesbürgern ging es jahrzehntelang gut, und mit jedem Jahrzehnt ging es ihnen besser. An diese materielle Sicherheit kann man sich gewöhnen und sie am Ende für unantastbar halten. Wenn auch die individuellsten Lebensentwürfe bis hin zur lebenslangen Arbeitsverweigerung unter dem verfassungsgerichtlichen Schutz der „Menschenwürde“ stehen, für die am Ende die schrumpfende Gemeinschaft der Steuerzahler aufkommen muss, dann kann man schon auf den Gedanken kommen, eine umfassende materielle Versorgung durch den Staat sei ein unanfechtbares Naturrecht.
Aber die Zeiten ändern sich. Die Wohlstandszusicherung des Staates stößt an ihre ökonomischen Grenzen und auch die elementare Daseinsvorsorge, die seit dem 19. Jahrhundert zu den Kernaufgaben des Staates gehört, ist brüchig geworden. Vor einem Jahrfünft noch hätte man es als Verschwörungstheorie zurückgewiesen, wenn man das Schreckgespenst eines Zusammenbruchs aller Versorgungssysteme an die Wand gemalt hätte. Inzwischen lassen die Landratsämter in bayerischen Gemeinden Flugblätter verteilen mit Maßregelungen für einen längeren Stromausfall, bei dem als sechste und letzte Ursache „externe Energieknappheit“ aufgeführt wurde. Den Bürgern werden notstromversorgte „Anlaufstellen vor Ort“ genannt, die ausgerechnet den schönen Namen „Leuchttürme“ tragen
„Rechte Ängste“
Der Durchgang des Historikers durch die „Republik der Angst“ endet mit der Angst, die es nicht geben darf. Das sind die „rechten Ängste“: die Angst vor der europäischen Währungs- und Migrationspolitik sowie die Angst vor dem Verlust der kulturellen Identität. In der R+V-Studie sind die ersten drei Plätze von materiellen Verlust- und Gefährdungsängsten besetzt. Sie beziehen sich auf die Inflation, unbezahlbar werdenden Wohnraum und Steuererhöhungen. Der vierte Platz jedoch wird von der Angst vor der „Überforderung des Staates durch Geflüchtete“ eingenommen. Dieser statistische Befund berührt eine Tabuzone, und er scheint Zukunft zu haben. Denn nicht einmal auf die Jugend ist Verlass. In der Shell Jugendstudie von 2019 – sie befragt Jugendliche im Alter von 12-25 Jahren – kam die „Angst“ vor dem Klimawandel erst an dritter Stelle nach Umweltverschmutzung und Terroranschlägen; und selbst die politisch ganz und gar inkorrekte Angst vor „Zuwanderung nach Deutschland“ erhält noch stattliche 30 Prozent. Bei einer Jugend, die von ihrem ersten Lebensjahr darüber unterrichtet wurde, dass Zuwanderung immer und unbedingt eine Bereicherung bedeutet, sind diese 30 Prozent doch ein bemerkenswerter Wert.
Der öffentliche Raum als Gefahrenzone
Es war eine der großen Errungenschaften der europäischen Zivilisationsgeschichte, dass sich im öffentlichen Raum Fremde begegnen können, ohne einander fürchten zu müssen. Diese Verhaltenssicherheit im Umgang mit Fremden ist nicht angeboren; sie ist anthropologisch kontraintuitiv und deshalb das Resultat mühsam erarbeiteter Zivilisationsprozesse. Wo diese jahrhundertelange Tradition fehlt, wird das Zusammenleben schwierig. Darüber kann man jahre- und jahrzehntelang Stillschweigen bewahren, aber irgendwann lässt sich das Offensichtliche nicht mehr verschweigen. Auch in Deutschland ist das friedliche Zusammenleben mit den Fremden nicht selbstverständlich gewesen. In den 1990er Jahren mussten Ausländer um Leib und Leben fürchten. Die Stichwörter heißen Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen. Auch diese Ortsnamen gehören zur Angst- und Gewalt-, aber eben auch zur Zivilisationsgeschichte der Bundesrepublik. Denn Akzeptanz in der Bevölkerung haben solche Ausschreitungen nie gefunden.
Im Gegenteil: Die Reaktion war eine weltweit beispiellose „Willkommenskultur“, die alles in den Hintergrund drängte, was Soziologen, Politologen, Psychologen, Kriminalisten und Historiker über das Thema „Zuwanderung“ zu sagen gehabt hätten. Es blieb dem Modeschöpfer Karl Lagerfeld vorbehalten, bereits vor sechs Jahren das auszusprechen, was zu erkennen der Crème de la Crème der deutschen Soziologen, Journalisten und Politiker offensichtlich nicht möglich war: „Selbst wenn Jahrzehnte dazwischen liegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde holen.“
Der brutale Überfall einer paramilitärischen islamischen Terrororganisation auf israelisches Staatsgebiet hat Schockwellen ausgelöst, die auch die 4000 Kilometer entfernte Bundesrepublik erreicht haben. Viele deutsche Großstädte, Berlin allen voran, mussten die Erfahrung machen, dass Deutschland nur noch einen Schritt weit entfernt ist vom offenen Bürgerkrieg. Die deutsche zivilisatorische Ordnung wird von einem sozialen Milieu herausgefordert, das sich um diese Ordnung nicht schert und eigene Vorstellungen vom Zusammenleben mitgebracht hat. Jetzt darf man unter Polizeiaufsicht auf Berliner Straßen wieder den Reim skandieren: „„Hamas, Hamas, Juden ins Gas“.
Diese Ausschreitungen haben den Charakter eines offenen Bürgerkriegs, aber dahinter verbirgt sich mehr: Der öffentliche Raum wird umgewidmet zum Ort kultureller Machtdemonstration. Die palästinensischen Ausschreitungen sind nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die mit Hochzeitskorsos auf Autobahnen beginnt, in deren weiterem Verlauf Schwimmbäder und Badeseen zu feindlichen Orten für die autochthone Bevölkerung werden und an deren vorläufigem Endpunkt verschiedene Migrantenmilieus ihre mitgebrachten Konflikte auf deutschem Boden austragen.
Der Alltag
Der Bürger kann sich von diesen Vorfällen entfernt halten, sofern er nicht gerade dort wohnt, wo sie sich abspielen. Wenn er einen weiten Bogen um diese allzu bekannten Territorien im eigenen Land macht, muss er keine Angst um Leib und Leben haben. Aber man muss nicht unbedingt nachts im Görlitzer Park in Berlin spazieren gehen, um zu erleben, was „Angst“ in der realen Lebenswelt bedeutet. Inzwischen reicht der bloße Gedanke an eine Zugfahrt aus, um Angstgefühle zu bekommen. Wer ernsthaft überlegen muss, ob er zusammen mit der Fahrkarte eine stichfeste Weste kaufen sollte, wie sie inzwischen für 199 Euro im Online-Handel angeboten wird, lebt in einer anderen Welt als noch vor fünf Jahren.
Die Kriminalstatistik dient auch hier, wie so oft, dazu, Sachverhalte eher zu verschleiern als offen zu legen. Wenn man die verstreut vorliegenden Zahlen aus den Bundesländern zusammenführt, kommt man auf die beeindruckende Zahl von 22 000 „Straftaten unter Verwendung des Tatmittels ‚Messer‘“ im Jahr 2022, also rund 60 am Tag. Zusammenfassende Zahlen über die Nationalität der Täter gibt es nicht, Baden-Württemberg berichtet aber, dass knapp 50 Prozent der Tatverdächtigen einen „deutschen Pass“ hatten, was immer das heißen mag.
Diese Zahlen kann man, je nach Gemütslage, beruhigend oder bedrohlich finden. Das tatsächliche Risiko, dass man bei 60 Messerattacken am Tag und rund 83 Millionen Einwohnern selbst Opfer einer Messerattacke wird, ist verschwindend gering. Aber wie immer bei solchen Statistiken: Man weiß es eben nicht. Für die Kriminalstatistik spielt aus gutem Grund nicht nur die Zahl der tatsächlich erfassten Straftaten eine Rolle. Auch das „Sicherheitsgefühl“ der Bevölkerung, das mit diesen Straftaten im unmittelbaren Zusammenhang steht, ist ein harter Faktor, mit dem gesellschaftspolitisch gerechnet werden muss.
Auf die zunehmende Unsicherheit im öffentlichen Raum reagiert der durchschnittliche Bürger üblicherweise nicht mit der Selbstbewaffnung. Charakteristisch ist vielmehr die Selbstbeschränkung in der Lebensführung: Man meidet die Räume, die bedrohlich erscheinen. Das gilt besonders für Frauen und ältere Menschen. Damit kann zweifellos ein Sicherheitsgewinn erzielt werden, der aber einhergeht mit dem Verlust an Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung und an Lebensqualität. Aus der Perspektive des Statistikers mögen solche Ängste irrational erscheinen; soziologisch sind sie ein harter Faktor, der sich am Ende im Wahlverhalten spiegelt.
Was macht der Staat?
Der Bundeskanzler hat in der Hauptnachrichtensendung des Ersten Deutschen Fernsehens am 11. Oktober 2023 eine eigene Antwort auf die Gefährdungslage gefunden: Er bat „um die Unterstützung aller Bürgerinnen und Bürger dabei, dass wir die Sicherheit unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gemeinsam gewährleisten können“. Das ist sicherlich nur so dahingesagt, weil es sich passgenau in die große Erzählung vom „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ einfügt. Aber durchdacht ist diese Äußerung nicht. Wie soll man sich das vorstellen, dass „wir“ alle „gemeinsam“ die Sicherheit unserer Mitbürger schützen? Sollen die Deutschen jetzt Bürgerwehren gründen, um jüdische Einrichtungen zu schützen? Sollen sie sich bewaffnen? Fast sieht es so aus, als sei die deutsche Bevölkerung schon von sich aus auf den Gedanken gekommen – jedenfalls steigt seit einigen Jahren die Zahl der „Kleinen Waffenscheine“, die zum Führen von Schreckschuss-, Reizstoff‑ und Signalwaffen berechtigen, kontinuierlich um etwa fünf Prozent jährlich.
Tatsächlich stellt die Äußerung des Bundeskanzlers eine der elementarsten Errungenschaften der abendländischen Neuzeit in Frage: Das Gewaltmonopol des Staates. Die Grundidee des neuzeitlichen Gesellschaftsvertrags, wie ihn Thomas Hobbes in der Mitte des 17. Jahrhunderts formuliert hat, ist einfach: Der Staat garantiert die Sicherheit seiner Bürger, und dafür treten die Bürger dem Staat einige ihrer Freiheitsrechte ab und versprechen ihr Wohlverhalten. Hobbes‘ Staat darf alles, nur eins darf er nicht: versagen. Diese Lektion müssten die deutschen Regierungen der Zukunft wohl wieder neu lerrnen.
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Am Sonntag, 15. Oktober 2023, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag
Idee und Wirklichkeit der deutschen Universität
Von Humboldt zu „Cancel Culture“
von Peter J. Brenner gesendet.
Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.
Die deutsche Universität ist schlechter als ihr Ruf. Fast zweihundert Jahre lang, von ihrer Neubegründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, hat sie sich ein enormes Renommee erworben, das sie um die Jahrtausendwende innerhalb weniger Jahrzehnte verspielt hat.
Der globale Trend zur akademischen Massenbildung führte seit den 1960er Jahren zu einem umfangreichen Ausbau und zur organisatorischen Umgestaltung der Hochschulen. Damit wurde der Weg bereitet für die Transformation der Universität von einer Stätte autonomer Forschung und Lehre zum Ausführungsorgan gesellschaftspolitischer Wunschvorstellungen.