Der Januskopf
In der römischen Mythologie gibt es den Gott Janus, nach dem der Monat Januar benannt wurde. Janus hatte ein doppeltes Gesicht: Er schaute voraus in die Zukunft und zurück in die Vergangenheit. Der Blick in die Vergangenheit zeigt das Auf und Ab der Geschichte, den ewigen Rhythmus von Zeiten des Wohlstands und Zeiten des Niedergangs. Was aber die Zukunft bringen wird, weiß niemand, auch Janus nicht.

Mit dieser Ungewissheit der Zukunft hat man sich jahrtausendelang nicht recht abfinden wollen, und über die Zukunft verfügen zu können, ist einer der großen Träume der Menschheit geblieben. Lange Zeit beschränkte sich der Traum darauf, die Zukunft vorhersagen zu wollen. Gut gegangen ist das in der Regel nicht. Die Weissagungen der Propheten des Alten Testaments haben sich nicht erfüllt, und noch weniger Glück hatte Kassandra. In der antiken Mythologie warnte sie die Trojaner davor, die Tore zu öffnen und das vor ihren Stadtmauern abgestellte hölzerne Pferd aus purem Übermut in die Stadt hineinzuschaffen. Kassandras Warnung verhallte ungehört, die unbedachte Maßnahme der Trojaner endete mit der Zerstörung der Stadt. Das war damals nicht anders als heute.
In allen Epochen glaubte man die Zukunft, in der Regel handelte es sich um den Weltuntergang, aus allerlei Warnzeichen ablesen zu können. In der Antike war die Vogel- und Eingeweideschau das Mittel der Wahl, im Mittelalter und der Frühen Neuzeit wollte man aus dem Auftauchen von Kometen, Sonnenfinsternissen und anderen Himmelserscheinungen den Weltuntergang berechnen. Heute benutzt man dazu Computersimulationen, die aber auch nicht zuverlässiger sind. Seit dem 18. Jahrhundert hatte man einen größeren Ehrgeiz. Im Zeitalter der Aufklärung gründete die Idee des „Fortschritts“ in dem Anspruch, die Zukunft nicht nur vorhersagen zu wollen, sondern sie gestalten zu können.

Die abendländische Antike hat der modernen Welt drei Zugänge zur Deutung des Geschichtsverlaufs hinterlassen. Die einen glaubten an eine Verfallsgeschichte, in deren Verlauf die Menschheit sich immer weiter von einem idealen Urzustand, dem „Goldenen Zeitalter“, entferne; die anderen sahen die Dinge optimistischer und propagierten eine Heils- und später Fortschrittsgeschichte, nach der die Menschheit sich unablässig zum Besseren fortentwickle bis hin zu einem idealen Endzustand. Die Idee eines kreisförmigen Geschichtsverlaufs hat sich hingegen im Abendland nicht durchsetzen können. Ihr einziger Propagandist, Friedrich Nietzsche, bleibt mit seiner Philosophie der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ ein einsamer Außenseiter.

Epochenbrüche: Die alte und die neue Zeit
Jede dieser Vorstellungen ging davon aus, dass die geschichtliche „Zeit“ ein Kontinuum sei, möge es sich nun vorwärts zum Besseren, rückwärts zum Schlechteren oder kreisförmig zum immer Gleichen entwickeln. Dass auch ein Epochenbruch möglich sei, dass die alte Zeit zu Ende gehen und eine neue Zeit beginnen könne, und dass es gar in der Hand des Menschen liege, diese neue Zeit herbeizuführen, ist eine genuin neuzeitliche Idee.

Epochenbrüche dieser Art hat es nicht viele gegeben. Die Französische Revolution gehört unabdingbar dazu, ebenso wie die Oktoberrevolution in Russland. Den Zweiten Weltkrieg mit seinen verheerenden Folgen wird man ebenfalls dazu rechnen, wenn man nicht schon den Ersten Weltkrieg als „Urkatastrophe“ betrachtet, und auch das Ende des Kalten Krieges mit seinem Zusammenbruch des Ostbereichs war zweifellos ein epochaler Einschnitt.
Ob die Gegenwart ebenfalls einen solchen Epochenbruch bereithält, werden erst spätere Generationen entscheiden können. Die deutsche Bundesregierung scheint es jedenfalls zu glauben und ihr Handeln danach einzurichten: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“, stellte der deutsche Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zwei Tage nach diesem Datum fest. Gemeint war der russische Angriff auf die Ukraine, der in der Tat die nach dem Ende des Kalten Krieges mühsam austarierte europäische Sicherheitsarchitektur außer Kraft setzte.

Wenn Politiker anfangen, über die „Zeit“ zu reden, sollte man genau hinhören. Denn die Bedeutung des Wortes „Zeitenwende“ greift weit über diesen konkreten Anlass hinaus. Die moderne Politikauffassung hatte sich eigentlich schon von der Vorstellung verabschiedet, dass es möglich oder auch nur wünschenswert sei, Epochenbrüche herbeizuführen und die politische Praxis in Jahrhundertzyklen planen. Das in Schutt und Trümmern untergegangene „Tausendjährige Reich“ ließ ein solches Denken zumindest im westlichen Teil Deutschland mehr als sieben Jahrzehnte lang als äußerst unattraktiv erscheinen. Im „Dritten Reich“ hat übrigens das Wort von der „Zeitenwende“ seinen Ursprung, das der Bundeskanzler in der ihm eigenen semantischen Unbekümmertheit wieder eingeführt hat

Die „Fortschrittskoalition“
Wenn der Bundeskanzler anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine von einer „Zeitenwende“ sprach, dann bezog er sich einerseits auf ein konkretes historisches Ereignis, griff aber anderseits auf einen politischen Denkansatz zurück, der ein Vierteljahr zuvor schon bei der Begründung der neuen Regierungskoalition durch einen „Koalitionsvertrag“ Pate gestanden hatte. Dieser Koalitionsvertrag ist ein eigenartiges Dokument. Es formuliert den Anspruch dieser Regierung, erstmals seit mehr als fünfzig Jahren, seit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler, einen epochalen politischen Neuaufbruch zu realisieren. „Mehr Demokratie wagen“, hieß es bei Willy Brandt. Die aktuelle Regierung ersetzte – wohl mit Bedacht – in ihrem Koalitionsvertrag die „Demokratie“ durch den „Fortschritt“: „Mehr Fortschritt wagen“, heißt der Titel der Koalitionsvereinbarung, und wenn es nicht anders geht, muss die „Demokratie“ eben hinter dem „Fortschritt“ zurückstehen.

Zwei Jahre nach dem Regierungsantritt, zur Halbzeit der Legislaturperiode also, lohnt sich noch einmal ein kurzer Blick in dieses Papier. Im journalistischen Sprachgebrauch hat sich für die aktuelle Regierung der Begriff „Ampelkoalition“ eingebürgert. Verdient hat sie sich diese Bezeichnung durch ihre Regierungspraxis, die, wie eine Ampel, mal diese und mal jene Farbe zeigt und mal diese oder jede Richtung freigibt, meistens aber auf „grün“ steht.

In ihrem Gründungsdokument als Regierung haben sich die drei Parteien selbst aber einen wohlklingenderen Namen ausgedacht: Nicht „Ampel-“, sondern „Fortschrittskoalition“ wollen sie heißen. Das ist eine seltsame Begriffsschöpfung. Denn wer im Jahre 2021 noch den „Fortschritt“ zum Leitmotiv seines politischen Handelns macht, wirkt etwas aus der Zeit gefallen. Die Zukunft gehört seit Jahrzehnten schon den „Fortschrittsfeinden“, den Skeptikern, die der Moderne mit ihren technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften die Gegenrechnung präsentieren – eine Rechnung von Naturzerstörung und Artenschwund, Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung.

Die Fortschrittskoalition weiß davon nichts. Sie verheißt eine glänzende Zukunft, denn sie hat „den Aufbruch in ein innovatives Bündnis verabredet, das Erneuerung, Fortschritt und Chancen bringt zur Lösung der großen Herausforderungen“. Dieses innovative Bündnis verspricht denen, die daran glauben, „Sicherheit und Respekt auch in Zeiten des Wandels. Wir machen aus technologischem auch gesellschaftlichen Fortschritt“. In dem 143 Seiten langen Gründngsdokument der „Fortschrittskoalition“ kommt das Wort „Fortschritt“ einerseits derart vollmundig, andererseits aber doch nur selten und verzagt vor: „wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden.“ Wer wollte hier widersprechen?

Versprochen wurde viel: „Wir verpflichten uns, dem Wohle aller Bürgerinnen und Bürger zu dienen“, heißt es im Dezember 2021 wohlgemut. Zwei Jahre später weiß man es besser. Die Fortschrittskoalition hat inzwischen ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, innerhalb von zwei Jahren aus einer florierenden Wohlstandsgesellschaft eine wirtschaftliche und soziale Trümmerlandschaft zu machen. Denn das Wohl „aller Bürgerinnen und Bürger“ muss im Zweifelsfall zurückstehen hinter höheren Zielen: „Wir wollen Europa zu einem Kontinent des nachhaltigen Fortschritts machen und international vorangehen. Durch europäische Standards setzen wir Maßstäbe für globale Regelwerke“.

Diese neue Tonlage hat die Ministerin des Auswärtigen aufgegriffen und auf die ihr eigene Art weitergeführt. Wenige Monate nach ihrer Amtseinführung entwickelt sie in ihrer Rede zur Eröffnung des „Berlin Energy Transition Dialogue“ am 29. März 2022 schwindelerregende Zukunftsperspektiven: Die „Klimakrise ist die größte internationale Herausforderung des 21. Jahrhunderts für unsere Weltgemeinschaft“, erläuterte sie. Der Planet müsse gerettet werden, und zwar sofort, und dafür seien in erster Linie die Deutschen zuständig. Und diese Rettung hätten „wir“, „als Bundesrepublik Deutschland, als neue Bundesregierung bereits vor diesem furchtbaren Krieg in unserem neuen Koalitionsvertrag verankert“.

Die Vorstellung, man könne die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nach Belieben umformen, „transformieren“, versetzt Politiker in einen Rauschzustand. Aber Politiker im Höhenrausch sind gefährlich. Am Ende stellt sich die Frage, wovor sich die Bürger in diesem Land mehr fürchten müssen: Vor der künftigen Klimakatastrophe oder vor denen, die diese Katastrophe verhindern wollen. Denn inzwischen weiß man, wie sich diese Regierung die Rettung des Planeten vorstellt. Das Mittel der Wahl heißt De-Industrialisierung; denn die gegenwärtig und schon länger hier Lebenden müssen zurückstehen gegenüber den anderswo und in der Zukunft Lebenden. Die Aufforderung, die Gegenwart zugunsten des guten Lebens künftiger Generationen zu opfern, gehört zum Kernbestand einer jeden totalitären Ideologie ebenso wie die Vorstellung, man könne die Gesetze der Physik außer Kraft setzen, sobald sie unbequem werden.

Tempo, Tempo, Tempo
Ein auffälliges Merkmal dieses Regierungshandelns ist seine atemlose Hast. Während man einerseits in planetarischen Dimensionen denkt, kann im Hier und Jetzt nichts schnell genug gehen. Man bewegt sich mit seinen umstürzenden Plänen in einem Planungshorizont von 20 bis 30 Jahren – spätesten 2050, besser noch 2030, muss alles anders sein. In diesen zwei oder drei Jahrzehnten muss die „Zeitenwende“ bewältigt, der gesamte Verkehr auf Elektromobilität umgestellt, müssen sämtliche Gebäude der EU wärmegedämmt, alle fossilen Heizungen durch Wärmepumpen ersetzt, 30 000 neue Windkraftanlagen in die Wälder gestellt, 30 bis 50 Gaskraftwerke neu gebaut, das gesamte Fernleitungsnetz wasserstofftauglich gemacht und nebenbei der Krieg gegen Putin gewonnen und alle Flüchtlinge integriert sein. Und wenn es nicht schnell genug geht, wird eben per Gesetz beschlossen, dass es schneller gehen und in der Zukunft besser werden müsse. Eine Regierung, die von ihrer Parlamentsmehrheit ein „LNG-Beschleunigungsgesetz“ beschließen lässt oder gar ein „Zukunftssicherungsgesetz“ plant, hat unverkennbar großes Vertrauen in die Kraft von Wörtern, wenn sie nur in Gesetzestexte gefasst sind.

Diese atemlose Hast steht in einem merkwürdigen Gegensatz zum Lebensgefühl einer Bevölkerung, die sich gerade anschickt, mit dem Ratschlag ernst zu machen, der ihr seit zwei Generationen von Philosophen, Psychologen, Erziehungsratgebern und Lehrkräften gegeben wird. Er heißt: „Entschleunigung“. In der Praxis bedeutet „Entschleunigung“ Work-Life-Balance, Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich, Gap Year und bedingungsloses Grundeinkommen in Form von „Bürgergeld“.

Politik im Höhenrausch
Was der Bundeskanzler und seine politische Entourage als Epochenbruch und Zeitenwende wahrnehmen, ist für den Historiker die Rückkehr zur politischen und gesellschaftlichen Normalität. Die Vorstellung, man könne anstrengungslosen Wohlstand von Generation zu Generation einfach weiterreichen und alle Welt teile „unsere westlichen Werte“, war eine Illusion, die von der Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit den 1970er Jahren genährt wurde und die dank glücklicher Umstände zwei Generationen aufrecht erhalten werden konnte. Sie erhielt sogar einen neuen Schub durch das Epochenjahr 1989.

Aber anstrengungsloser Wohlstand führt zum Übermut. Mit seinen planetarischen Zukunftsphantasien hat sich das diskursbeherrschende Milieu in eine Wahnidee verstrickt, aus der es sich selbst nicht mehr befreien kann. Ein wesentlicher Grund dafür sind die substanziellen Bildungsdefizite der Akteure. Ihr stark verengter Bildungshorizont hält sie davon ab, ihr eigenes Denken und Handeln zu reflektieren und in größere Zusammenhänge einzuordnen, es abzuwägen und zu relativieren, das Wünschenswerte vom Gefährlichen und das Mögliche vom Unmöglichen zu scheiden. Dafür ist das deutsche Bildungswesen verantwortlich.

Eigentlich müsste man keinen höheren Bildungsgang mit Abitur und Studium durchlaufen haben um einzusehen, dass die aktuelle Energie-, Wirtschafts-, Migrations- und Sozialpolitik nicht funktionieren kann. Dazu reicht eine gewisse Aufmerksamkeit beim Erlernen der Grundrechenarten. In Bayern lernt man in der 5. Klasse – in Hannover oder Lübeck mag das anders sein –, dass eine negative Zahl herauskommt, wenn man eine größere Zahl von einer kleineren subtrahiert. Und in der anschließenden beruflichen Ausbildung lernt man dann, dass man im Geschäftsbetrieb negative Zahlen vermeiden soll.

Das Aushängeschild des deutschen Bildungssystems ist die Ministerin des Auswärtigen. Ihre unablässig der Öffentlichkeit vorgeführten historischen und geographischen Kabinettstückchen werden von den einen amüsiert zur Kenntnis genommen und von den anderen als belanglose Bagatelle beiseite gewischt. Aber sie sind weder amüsant noch belanglos. Sie sind der Kern des Übels. Wer nichts über die Grenzen weiß, welche die Geographie und die Geschichte dem menschlichen Handeln setzen, von der Physik ganz zu schweigen, der muss notwendig zu maßloser Selbstüberschätzung neigen, sobald ihm die Möglichkeiten eines hohen politischen Amtes in den Schoß fallen.

Die Griechen nannten es Hybris, im Deutschen heißt es „Vermessenheit“. Das Wort kommt aus dem Althoch-deutschen farmeʒʒan: „anmaßend sein, das Maß seiner Kräfte falsch einschätzen“. Das trifft es wohl. Davor könnte Bildung bewahren, aber an der fehlt es eben.

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Am Heiligabend, 24. Dezember 2023, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag

Das Fest. Über den Wandel einer bürgerlichen Lebensform

von Peter J. Brenner gesendet.

Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.

Menschen brauchen Feste; und das Weihnachtsfest ist in Deutschland wie in manchen anderen europäischen Ländern das Fest aller Feste. In den langen Jahrhunderten seines Bestehens hat es manche Zeitenwende überdauert, seinerseits auch manche Wandlungen erfahren und viele Angriffe überstanden. Seit zwei Jahrhunderten wird es als Familienfest gefeiert und ist Teil einer übergreifenden bürgerlichen Festkultur geworden, mit der sich die Gesellschaft ihrer kulturellen Identität versichert.