Die Bilanz
Was für ein Land! Während in Deutschland großflächig über Gendersterne und ‑doppelpunkte, strukturellen Rassismus, Regenbogenfahnen, Herdenimmunität und einen klimaneutralen Kontinent phantasiert wird, sterben über 160 Menschen in einer Flutkatastrophe, von der man vier Tage vorher wusste, dass sie kommen würde.
Städte werden überflutet, Staudämme drohen zu brechen und mittelständische Existenzen werden vernichtet. Der Staat ist hilflos. Wie in der Flüchtlingskrise das „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ und in der Corona-Krise das „Robert Koch-Institut“ und die Gesundheitsämter, so zeigt jetzt das 2004 gegründete „Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe“, dass es keine klare Vorstellung von seinen Aufgaben und der Art ihrer Bewältigung hat.
Die Diskussion hat sich sehr schnell an technischen Versäumnissen festgebissen. Hinterher weiß man, dass im Warnvorfeld Staudämme kontrolliert hätten entlastet werden können, dass man Stauwehre hätte schließen müssen, dass man die Bevölkerung hätte warnen und ihr strukturierte Evakuierungsangebote hätte machen müssen. Das alles sagt sich im Nachhinein leicht. Ob das beim aktuellen Stand des deutschen Katastrophenschutzes technisch und organisatorisch möglich gewesen und etwas genutzt hätte, kann niemand sagen. Laien sollten sich in ihren Urteilen darüber zurückhalten. Es zeichnet sich aber auch für den Laien sichtbar ab, dass es für ein Unwetter dieser Größenordnung, mit denen man in dieser Region zwar in großen Abständen, aber eben doch rechnen muss, keine Katastrophenschutzpläne, keine Logistik und keine Infrastruktur gibt – anders übrigens als in Sachsen, wo man nach dem Elbe-Hochwasser von 2002 und 2013 systematisch in ein langfristiges Programm für Hochwasserschutz, Risikomanagement und Risikovorsorge investiert hat, wozu auch Waldumbau und Renaturierung von Mooren gehören.
Natürlich gibt eine Katastrophenschutzbehörde kein gutes Bild ab, wenn Alarmsirenen nicht funktionieren. Aber im Rheinisch-Bergischen Kreis hat man bewusst darauf verzichtet, funktionierende Sirenen zu betätigen – aus gutem Grund. Denn einen Sinn haben Sirenenalarme nur, wenn sie in Medien- und Kommunikationssysteme eingebettet sind, wenn die Bevölkerung sensibilisiert und informiert ist, sodass sie weiß, wie sie sich verhalten soll. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten WDR und SWR haben bei der Katastrophe ihre eigene fatale Rolle gespielt. Angeblich haben die Behörden von ihrem „Drittsenderecht“ im Katastrophenfall keinen Gebrauch gemacht, und von sich aus sind die Sender auch nicht darauf gekommen, die Bevölkerung zu informieren. Stattdessen veranstalten sie zehn Tage später eine „Spendengala“ mit Ingo Zamperoni und „zahlreichen Künstler:innen“ – wenigstens die Genderwelt ist noch intakt – unter dem Motto „Wir halten zusammen“. Gegen wen?
Ausreden
Es ist sehr zu bezweifeln, dass es in Deutschland einen strukturellen Rassismus gibt. Unbezweifelbar ist aber die strukturelle, nämlich eine in die Tiefenschichten der Gesellschaft hineinreichende Unfähigkeit zum Umgang mit Großrisiken und zum vorbeugenden Katastrophenschutz. Während Glaskugelwissenschaften wie die Klimaforschung mit enormen Mitteln gefördert und höchste politische wie mediale Aufmerksamkeit finden, verschwinden konkrete Unwetterwarnungen im Nirgendwo eines Behördendickichts.
Die nachträgliche Aufarbeitung seitens der Verantwortlichen folgte den Richtlinien der einschlägig kompetenten Bundeskanzlerin: „Ich kann nicht erkennen, etwas falsch gemacht zu haben“ und „im Großen und Ganzen haben wir alles richtig gemacht.“ Wahrscheinlich stimmt das sogar. Der Präsident des „Bundesamts für Bevölkerungsschutz“, der gerade erst vor einem halben Jahr wegen des Versagens seines Vorgängers in Amt gekommen war, hat wahrscheinlich gar nicht einmal so Unrecht, wenn er feststellt, dass er und sein Amt halt das ihre getan hätten. Offensichtlich hat das Bundesamt die vorliegenden Hochwasserwarnungen pflichtgemäß an die zuständigen Behörden auf Landes- und Kommunalebene weitergeleitet, ob per Telefon, Fax oder digital weiß man nicht, und damit die Sache als erledigt betrachtet.
Man muss es sich wohl so vorstellen, dass die zuständigen Mitarbeiter, Fachkräfte, Abteilungsleiter und Direktoren nach dem Versenden der Nachrichten um 17 Uhr die Faxgeräte abgestellt, das Licht ausgemacht und die Türen hinter sich verschlossen haben. Ein ähnliches Bild haben ja auch die Gesundheitsämter bei der inzwischen stillschweigend wieder aufgegebenen Nachverfolgung von Infektionsketten und bei der Ermittlung von Inzidenzzahlen abgeben, die weniger vom Epidemieverlauf als von den Urlaubs- und Wochenendregelungen der Behörden abhängig zu sein scheinen.
In dieses Bild passt auch jene Presskonferenz vom 19. Juli 2021 mit ihrem Loriot-würdigen Wortwechsel. Eine Sprecherin des Bundesministeriums für Verkehr und „digitale Infrastruktur“, die über die Warnmeldungen im Vorfeld der Katastrophe Auskunft geben sollte, wusste dazu einiges zu sagen: „Wann jetzt wer wie wo informiert wurde, da liegen mir jetzt gerade keine Informationen vor“, und: „Also ich muss dazu sagen: Wie jetzt das Europäische Warnsystem konkret mit unserem zu tun hat, muss ich jetzt zugeben, die Info habe ich gerade nicht im Kopf. Das kann ich gerne nochmal nachfragen.“ Und so ging es minutenlang weiter. Der neben ihr sitzende Innenministeriums Sprecher wusste hingegen Beruhigendes zu berichten: „Nach meinen Erkenntnissen haben in manchen Kommunen auch Sirenen funktioniert.“
Man darf die verheerende Wirkung solcher Auftritte nicht unterschätzen. Pressekonferenzen in Katastrophensituationen sind kein lästiges Beiwerk, das man Leuten aus der dritten und vierten Reihe überlassen darf. Krisenkommunikation spielt eine Schlüsselrolle im Katastrophenmanagement. Regierungen und Behörden, die hier versagen, verspielen das Vertrauen der Bevölkerung und dürfen nicht erwarten, dass ihre Warnungen, ihre Empfehlungen, ihre Maßnahmen ernst genommen werden und ihnen Folge geleistet wird.
Abgerundet wird das Ganze noch von jener RTL-Reporterin, die sich mit Schlamm einrieb – und sich dabei auch noch unbemerkt filmen ließ –, um vor der Kamera authentischer zu wirken.
Die Bildungskatastrophe
Wo kommen diese ganzen Leute her? Was haben sie gelernt, wer hat sie eingestellt? Darauf gibt es Antworten: Sie kommen von deutschen Universitäten, gerne auch mit Auslandssemester und Gap-Year, gelernt haben sie biographische Selbstoptimierung und eingestellt wurden sie von ihresgleichen.
Die besagte Ministeriumssprecherin weist eine generationstypische Bildungslaufbahn auf, wie mit dem Lineal gezogen: Studium der „European Studies“ in Frankfurt an der Oder, ein knappes Jahr „Affaires Européennes“ in Paris , dann „Communications“ an der früheren „Ernst Moritz Arndt“-Universität Greifswald. Hinzu kommen ein paar Trainee-Stellen hier und dort, eine Sonderausbildung „Netzwerken im politischen Berlin“, Mitautorenschaft bei einer Publikation „Flüchtlingsstandort Deutschland“ der Peter Ustinov Stiftung, 1 Monat „work shadow“ – das klingt besser als „Hospitantin“ – bei einer Grünen-Bundestagsabgeordneten. Das reicht, um 2020 Sprecherin in einem Bundesministerium zu werden. Es reicht aber nicht zu der Einsicht, dass man sich auf eine Pressekonferenz ordentlich vorbereiten muss oder vorher wenigstens Zeitung lesen sollte. Natürlich liegt hier auch ein Führungsversagen vor: Man schickt keine Berufsanfänger in eine hochbrisante Pressekonferenz.
Nun darf man vermuten oder möchte wenigstens hoffen, dass in den Fachbehörden, den Wasserwirtschaftsämtern, den Straßenbaudirektionen, den Bauämtern, den höheren und unteren Naturschutzbehörden Fachleute sitzen, die eine sachgerechte Ausbildung an Technischen Universitäten erfahren haben. Das ist gewiss auch so, aber ob es so bleiben wird, steht auf einem anderen Blatt. Denn die bis heute nachwirkende Vorstellung, dass die Ingenieur- und Naturwissenschaften eine Zitadelle des rationalen Denkens und ein Bollwerk gegen die Zeitgeistanfälligkeit der deutschen Universitäten darstellten, ist eine fromme Illusion. Auch Technische Universitäten finden es schick, wenn statt Professuren für Hochwasserschutz solche für „Gender in Ingenieurwissenschaften“ eingerichtet werden. Nach einer Bestandsaufnahme des Deutschen Bundestags von 2017 sind rund zehn Prozent der damals 185 Gender-Professuren in den MINT-Fächern – „Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik“ – angesiedelt. Hier lernt man sicher, wie man den Gender-Gap korrekt ausspricht – nämlich in der Form eines simulierten Schluckaufs –, aber vielleicht lernt man bald nicht mehr, wie man hydraulische Modellversuche durchführt oder gekoppelte dreidimensionale Strömungsprogramme auswertet.
Längst genießen die Glasperlenspiele der Klimaforschung mit ihren phantasievollen Modellierungen künftiger Entwicklungen wesentlich mehr Reputation, und das heißt auch wesentlich mehr staatliche Förderung, als das Fachwissen von Maschinenbau- oder Wasserwirtschaftsingenieuren.
Hubert oder Luisa?
Hochwasserkatastrophen entstehen im Zusammenwirken von topographischen Gegebenheiten, hydrologischen Dynamiken, meteorologischen Ereignissen und oft genug auch menschlichen Eingriffen in diese Abläufe. Sorgfältig ausgebildete Wissenschaftler in den einschlägigen Einrichtungen wissen sicher einiges darüber. Das nützt aber nichts, wenn Behörden versagen und es keine funktionierenden Katastrophenpläne gibt. Dann müssen die Betroffenen sich selbst helfen. Eine Ahnung davon vermittelt jener Bauunternehmer – sein Name verdient genannt zu werden: Hubert Schilles –, der auf eigene Initiative unter Lebensgefahr mit seinem eigenen Bagger das Auslaufrohr der Steinbachtalsperre freigeschaufelt hat. Der Bauunternehmer war 67 Jahre alt. Vielleicht spielt das auch eine Rolle?
Ungefähr zur gleichen Zeit stand die 25-jährige Klimaaktivistin Luisa Neubauer im kessen Sommeroutfit und mit schicken weißen Sneakers in Berlin-Mitte und erklärte ihren paar Dutzend jubelnden Anhängern: „dann stehen wir eben da, Seite an Seite mit denjenigen, die der Klimakatastrophe ausgesetzt sind“. In der universal angelegten Wahnwelt der gerade fertig gewordenen Geographiestudentin Neubauer spielt die sichere Entfernung von rund 600 Kilometern, die zwischen Berlin-Mitte und der Steinbachtalsperre liegen, offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle.
Luisa Neubauer ist nicht allein mit dieser ihrer Wahrnehmung der Hochwasserkatastrophe. Die Bundeskanzlerin hielt sich während der Ereignisse in den USA zur Entgegennahme ihrer 18. Ehrendoktorwürde auf. Eine vorzeitige Rückkehr wurde offensichtlich nicht in Erwägung gezogen; es war auch keine Aufforderung zu hören, die Flutkatastrophe müsse „sofort rückgängig“ gemacht werden. Nach ihrer planmäßigen Rückkehr besichtigte die Kanzlerin mit der SPD-Ministerpräsidentin Marie-Luise Dreyer – und nicht mit ihrem Parteifreund Laschet – das Katastrophengebiet, versprach den Flutopfern 0,4 Mrd. Euro und forderte ansonsten die Bevölkerung zu Spenden auf. Einen guten Ratschlag hatte sie auch, den sie in dem ihr in jüngerer Zeit eigen gewordenen Drittklässler-Deutsch formulierte: „Wir müssen uns sputen beim Kampf gegen den Klimawandel“. Damit griff sie die Lesart auf und machte sie offiziell, die sich in den Leitmedien schon durchzusetzen begonnen hatte: Das Klima ist schuld.
Man weiß nicht recht, was man von solchen Äußerungen halten soll. Sie lassen jedenfalls erkennen, dass die politische Führungsspitze den Ernst der Lage nicht erfasst hat und überhaupt keine Vorstellung davon hat, worum es geht. Über Klima kann man reden, beim Wetter muss man handeln. Klima ist ein Konstrukt von Meteorologen, nicht mehr als eine Sammlung von Daten, die in einer bestimmten Region in einem bestimmten längeren Zeitraum erhoben wurden. Klima verwüstet auch keine Städte. Hochwasserkatastrophen werden vom Wetter verursacht, nicht vom Klima.
Eine Gesellschaft, die glaubt, durch Gesetze und das Verbieten von Wörtern selbst über das biologische Geschlecht nach Belieben verfügen zu können, muss sich schwer mit der Einsicht tun, dass die Natur sich davon nicht beeindrucken lässt. Aber sie verhält sich gegenüber ihrer Unterwerfung nicht so geduldig wie die Menschen. Menschen kann man einreden, sie müssten Elektroautos fahren, zu Hause bleiben, Masken tragen oder sich impfen lassen, und dann würde alles gut.
Die Natur bleibt gleichgültig gegenüber solchen Forderungen. Gerade von der Wasserwirtschaft könnte man das lernen. Wasserbau‑ und Wasserwirtschaftsingenieure, so sagt man jedenfalls, hätten zu den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Wissenschaft ein sehr viel nüchterneres Verhältnis als ihre Kollegen in anderen Ingenieurssparten, die sich allzu gerne von ihrem Fortschritts- und Machbarkeitsoptimismus leiten lassen.
Wasserwirtschaft ist eine der ältesten Techniken des Menschen zur Naturbeherrschung. Die spektakulären Erfindungen moderner Maschinentechnik – zu denen Elektromotoren und Windräder übrigens nicht gehören – haben seit je eine größere Reputation gehabt als das zähe, stets von Niederlagen und Rückschlägen begleitete Ringen der Bau‑ und Wasserwirtschaftsingenieure mit der Natur. Staudämme bauten schon die Ägypter vor viereinhalbtausend Jahren; in der Frühen Neuzeit wurden ausgeklügelte Bewässerungssysteme entwickelt zur Nutzung von Wasserkraft im Bergbau; Moorlandschaften wurden getrocknet, Land dem Meer abgewonnen, Flüsse reguliert und die heute Deutschland noch in den Mittelgebirgen flächendeckend überziehende Talsperreninfrastruktur wurde seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre errichtet.
Diese Maßnahmen haben längst nicht immer die erwünschten Erfolge erzielt, vielmehr oft verheerende Rückschläge und schwerwiegende Nebenfolgen gezeitigt. Aber gerade deshalb ist das wissenschaftliche wie das Alltagswissen über den Umgang mit Wasser enorm. Mit dem Verdrängen dieses Wissens ist auch das Wissen über die Risiken verschwunden, die das Wasser mit sich bringt. Das wäre die bittere Lektion des aktuellen Hochwassers: Katastrophenschutz ist im Hier und Jetzt gefordert, nicht im Wolkenkuckucksheim eines „klimaneutralen Kontinents“.