Achim Bühl: Rassismus. Anatomie eines Machtverhältnisses. Wiesbaden: marix 2016 (auch Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2017; hiernach wird zitiert)
Deutschland – „zutiefst rassistisch“?
Leicht hat er es nicht, der Berliner Fachhochschulprofessor Achim Bühl, wenn ihm sogar im „Uni-Automaten“ der hochschuleigenen Cafeteria eine „Mohrenwaffel“ entgegenspringt. (277) Da kann man schon einmal das Bedürfnis verspüren, ein 300-seitiges Buch zu schreiben, um den Rassismus in Geschichte und Gegenwart in seinen vielfältigen Erscheinungsformen, im Alltag, in der Politik, in der Werbung, in Literatur und Film, in Medien aller Art und natürlich in den staatlichen Institutionen zu entlarven.
Das Ergebnis ist eindeutig: „Gerade Deutschland erweist sich als ein zutiefst rassistisches Land“. (11) Ein Buch, in dessen Einleitung sich ein solcher Befund findet, hat sehr gute Chancen, in das Programm der „Bundeszentrale für politische Bildung“ übernommen zu werden. So ist es auch gekommen. Wer aber Bühls Buch mit jener Aufmerksamkeit liest, die es nicht verdient hat, wird auch auf der 291. und letzten Textseite immer noch nach hinreichenden Belegen für die wiederholte Behauptung suchen, „dass dieses Land“ – gemeint ist die Bundesrepublik Deutschland – „ein tief rassistisches Land ist“. (48)
Nun findet Bühl auf seinen atemlosen Kreuz- und Querzügen durch die Weltgeschichte und rund um den Globus hinreichend Belege für „Rassismus“, viele glaubwürdige und manche an den Haaren herbeigezogene. Nur das Deutschland der Gegenwart bleibt bemerkenswert unterrepräsentiert. Hin und wieder wird Thilo Sarrazin erwähnt (11, 162, 164, 178) und natürlich gibt es hier und da einen Vorfall in den Medien, der Werbung – der „Sarotti-Mohr“ darf nicht fehlen, (159) obwohl die Firma schon seit 2004 auf diese Werbefigur verzichtet – oder an Universitäten, den man mit mehr oder weniger großem Recht als rassistisch bezeichnen kann. Ansonsten verweist Bühl gerne auf Äußerungen oder anekdotische Vorfälle aus seinem beruflichen Umfeld oder aus „sozialen Netzwerken“. (170)
Überzeugend ist das nicht. Bühl stützt seinen Befund auf flockige Anekdoten oder unbelegte Behauptungen: Ein schwarzer Student habe ihm in Heidelberg gesagt, er werde im Hauptbahnhof „immer und immer wieder“ vom der Polizei kontrolliert. Der gelernte empirische Soziologe Bühl macht daraus den Befund, dass „nicht-weiße Personen überproportional kontrolliert werden“. (237) Eine quellenkritische Befragung dieser anekdotischen Erzählung kommt ihm ebenso wenig in den Sinn wie die Frage, was denn „immer und immer wieder“ heißt – täglich? Einmal wöchentlich? Monatlich? Manchmal?
Auch der Dauerbrenner des „rassistischen deutschen Schulsystems“ darf nicht fehlen: „Es ist deutscher Schulalltag, dass Susanne mit einem Notendurchschnitt von 2,2 eine Empfehlung für das Gymnasium erhält, während den Eltern von Turgut mit einem Durchschnitt von 2,0 ein Wechsel der Tochter auf die Realschule empfohlen wird.“ (229) Ist das so? Das mag vor 50 Jahren so gewesen sein. Es ist heute das Gegenteil der Fall: Ausländerkinder oder solche mit Migrationshintergrund dürfen beim Bildungsaufstieg mit formellen und informellen Boni aller Art rechnen, mit besonderen vorschulischen und schulischen Sprachförderprogrammen zum Beispiel. In Bayern, das die strengsten und durchgehend formalisierte Übertrittsregeln für weiterführende Schulen hat, bekommen Kinder nichtdeutscher Muttersprache unter bestimmten Voraussetzungen eine Notengutschrift bei der Berechnung der Übertrittsnote. In fast allen anderen Bundesländern zählt ohnehin nur noch der Elternwille. Was man aus diesen Privilegien macht, steht freilich auf einem anderen Blatt – für seinen Bildungsweg ist am Ende jeder selbst verantwortlich.
Viel Mühe macht Bühl sich auch sonst nicht mit seinen Belegen für die „zutiefst rassistische Deutschland“. Wer im Sumpf wühlt, wird Schmutz hervorholen, aber für die Insinuation, der Rassismus sei „in der Mitte der Gesellschaft“ (127) angekommen, hätte man schon gerne ein paar aussagekräftigere Belege als solche von der einschlägigen Website „Politically Incorrect“ und des „rechtspopulistischen Kopp-Verlags“. (171f.; S. 176, 193) Die Auswertung der 2019 eingestellten „Deutschen Nationalzeitung“ hätte sicher noch mehr Ergebnisse auf Bühl-Niveau erbracht. Zu diesem kunterbunten Durcheinander gehören schließlich auch persönliche Erlebnisse: dieser und jener habe dies oder das gesagt, (134f.) womit der Alltagsrassismus in Deutschland hinreichend belegt sei.
Zweifellos hat Bühl recht, wenn er darauf verweist, dass auch in der bundesdeutschen Wissenschaft bis in die 1980er Jahre hinein „Rasse“-Konzepte in der Anthropologie und der Soziologie ziemlich unbefangen verwendet wurden und dass auch personelle Kontinuitäten in diesen einschlägigen Wissenschaften vom „Dritten Reich“ in die Bundesrepublik feststellbar sind. (39-42) Solche Texte lassen sich heute nur noch mit größtem Unbehagen lesen. Aber 2020 ist nicht 1980. Und dass das „Dritte Reich“ antisemitisch war, muss nicht mehr belegt werden. 80 Jahre alte Zitate aus dem „Stürmer“, Verweise auf Himmler-Reden oder auf die antisemitischen NS-Filme „Jud Süß“ und „Der ewige Jude“ sagen schlechterdings nichts aus über die deutsche Gegenwartsgesellschaft.
Aber Bühl will ohnehin mehr. Ihm geht es um das Ganze: Er will zeigen, dass „Rassismus“ immer und überall geherrscht habe. Nach Bühl liegt „Rassismus“ dann vor, wenn „zum Zweck der Macht- und Herrschaftserrichtung oder ‑sicherung eine ‚Wir-Gruppe‘ sowie eine ‚Fremdgruppe‘ konstruiert werden, die einander antagonistisch gegenübergestellt und ihrem Wesen nach als unvereinbar definiert werden.“ (10) In etlichen Variationen wird diese Definition dutzendfach im Buch wiederholt.
Wer „Rassismus“ so definiert, dem wird es leicht fallen, Belege dafür zu finden. Denn dann ist jede Gesellschaft, die ungleiche Zugänge zu Macht und Herrschaft sowie zu materiellen und immateriellen Ressourcen anbietet und damit bestimmte Gruppen privilegiert und andere deprivilegiert, „ rassistisch“. Das allerdings gilt für alle Gesellschaften, die den Soziologen und Historikern bisher bekannt geworden sind. Dass über solche „asymmetrische Gegenbegriffe“ mehr zu sagen ist, als dass sie der „Herrschaftssicherung“ dienen, versteht sich von selbst. Aber in Bühls uferlosen Literaturverzeichnis fehlt ausgerechnet der Beitrag, der hier für Aufklärung gesorgt hätte: Reinhart Kosellecks klassischer Aufsatz über die „Historisch-politische Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“ von 1975. Sich mit Kosellecks theoretisch wie historisch hochdifferenzierten Überlegungen auseinandersetzen zu müssen, hätte freilich für Bühl bedeutet, sein schlicht gestricktes Geschichts- und Gesellschaftsbild zu verabschieden
Seine Definition erleichtert jedenfalls Bühls Suche nach „Rassismus“ in Geschichte und Gegenwart enorm. So wird sein Buch eine Kumulation unstrukturierter und unzusammenhängender Einzelfälle, die er bei seiner Hetzjagd durch die Zeit links und rechts – aber eher rechts als links – am Wegesrand der europäischen und amerikanischen Geschichte aufgesammelt hat.
Das Buch schwimmt in der Rassismusdiskussionswelle, die seit ungefähr zehn Jahren Deutschland erfasst hat, einfach mit. Es nutzt die Gelegenheit, den von der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung ohnehin maßlos überdehnten Rassismusbegriff noch einmal auszuweiten. Irgendwelche Ambitionen zur theoretischen Grundlegung sind Bühl fremd. Nur flüchtig sucht er die Auseinandersetzung mit willkürlich ausgewählten konkurrierenden ( 58-62) oder den Anschluss an gesinnungsähnliche Theorien; hier hätten sich zum Beispiel Stuart Hall oder Etienne Balibar angeboten, und ein Blick auf die Rassismus-Diskussion, wie sie im „Argument“ schon vor 30 Jahren geführt wurde, hätte auch nicht geschadet.. Ein kritischer Blick auf die Geschichte des Rasse-Begriffs – die seit Jahrzehnten gut dokumentiert ist – ist ihm ebenso fremd wie die Frage, welchen Erkenntniswert ein vollkommen entgrenzter wissenschaftlicher Begriff, unter den jedes beliebige Phänomen gefasst werden kann, überhaupt noch haben kann.
In seinem Literaturverzeichnis führt Bühl überschlägig geschätzt 500 Titel auf. Was davon zu halten ist, zeigt schon die kuriose und im Wissenschaftsbetrieb wohl singuläre Vorbemerkung, dass er bei manchen bibliographischen Angaben nur den Untertitel anführt, weil der aussagekräftiger sei. (293) Ob er das seinen Studenten, die in seinem Buch gelegentlich als Eideshelfer herangezogen werden, auch so beibringt? Jedenfalls ist nicht davon auszugehen, dass er auch nur einen Bruchteil dieser Arbeiten gelesen hat, die er hier auflistet.
Aber warum auch sollte er sich solchen Mühen unterziehen? Mit Widerspruch muss er ohnehin nicht rechnen. Bühl ist Professor für „Soziologie der Technik“ am Fachbereich I der „Beuth Hochschule für Technik Berlin“. Hier ist er der einzige Soziologe in einem Kollegium, das fast ausschließlich aus Wirtschaftswissenschaftlern besteht. So kann er seinen Studenten erzählen, was er will, ohne mit hausinterner Konkurrenz rechnen zu müssen. Niemand, der im deutschen Universitätsbetrieb noch etwas werden oder auch nur seine Ruhe haben will, wird es wagen, sich kritisch mit einem Buch auseinanderzusetzen, das eine so tadellose Haltung zeigt und das so offensichtlich auf der richtigen Seite steht.
„Rassismus“ – immer und überall
Selbstverständlich ist nicht alles falsch, was Bühl schreibt, das meiste ist vielmehr in irgendeiner Form zutreffend. Mit großem Eifer trägt er zusammen, was zum Kernbestand – aber längst auch zum Allgemeinwissen – der europäischen Rassismusgeschichtsschreibung gehört. Ein erfreuliches Bild ergibt das in der Tat nicht. Auch wenn Bühl durchgehend auf Quellenangaben verzichtet und man annehmen darf, dass er den größten Teil seiner Expertise aus dem Google-Universum bezieht, so darf man unterstellen, dass seine Darstellung im Großen und Ganzen zutreffend ist – zutreffend, aber lückenhaft, wie man es bei einem Buch mit einer solchen Schlagseite auch nicht anders erwarten darf. In seiner Darstellung des deutschen Antisemitismus im 19. Jahrhundert nennt Bühl Haeckel und Alfred Krupp und Wilhelm Schallmeyer und Alfred Ploetz und Treitschke und wie sie alle heißen. Aber den welthistorisch bedeutendsten Antisemiten dieser Zeit nennt er nicht: Karl Marx.
Der europäische und transatlantische Sklavenhandel ist sicher eines der verächtlichsten Kapitel der europäischen Geschichte. So wird er auch, zu Recht, von Bühl dargestellt. Nicht dargestellt wird die Grundlage dieses Sklavenhandels: der innerafrikanische, wesentlich von Arabern über Jahrhunderte hinweg betriebene Sklavenhandel, der auch im 19. Jahrhundert ein bedeutender Wirtschaftszweig war. Das war jedem Karl-May-Leser bekannt, bevor dieser Teil der Geschichte in der jüngeren Zeit von einer islamophilen Geschichtsschreibung aus dem deutschen Bewusstsein verdrängt wurde. Und Bühl vergisst auch zu erwähnen, wann und wo zuerst die Sklaverei juristisch geächtet und weltweit bekämpft wurde: das war 1833 im British Empire der alten weißen Männer.
So einfach ist es mit der Geschichte eben doch nicht, wie Bühl seinen Lesern weismachen will. Denn selbstverständlich geht es auch in diesem Buch um die „weiße Schuld“, sonst wäre es wohl ungeschrieben und ungedruckt geblieben und würde auch nicht von der „Bundeszentrale für politische Bildung“ verbreitet. Völlig zu Recht konstatiert Bühl, dass „Rassismus unseres Erachtens überall auf dem Globus“ und, so müsste man hinzufügen, in der gesamten Weltgeschichte existiert. Doch, so fährt er fort, „es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass Dimension wie Relevanz des Rassismus maßgeblich ein Produkt des weißen Mannes sind“. (33; ähnlich 59) Ist das so? Oder ist es nicht vielmehr so, dass das Unwissen oder der Unwille des Autors ihn daran hindern, den auf allen Kontinenten anzutreffenden Rassismus in Geschichte und Gegenwart zu beleuchten? Das im Literaturverzeichnis aufgeführte, aber offensichtlich ungelesen gebliebene Buch von Frank Böckelmann über „Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen“ hätte ihm hier weiterhelfen können.
Manchmal – ziemlich oft – verliert Bühl den Überblick. Wenn er zum Beispiel darauf verweist, dass die „20 000 Cherokesen schwarze Sklaven“ besaßen, die ihnen im Zuge der „antiindigenen Diebstähle“ in den 1830er Jahren ebenso abgenommen wurden wie ihre im gleichen Atemzug genannten „Rinder, Pferde, Schweine und Schaafe [!]“, (251) dann ist das ist ein kleiner, und sicher unbeabsichtigter, Hinweis auf die Tatsache, dass Sklavenhaltung keineswegs ein Privileg weißer Rassisten war. Oder macht es einen Unterschied, ob Indianer Sklaven halten oder weiße Plantagenbesitzer? Und so ist es ja in der Tat gewesen. Sklavenhaltung war ebenso wie Rassismus im Allgemeinen keineswegs ein Privileg der Europäer, wie Bühl behauptet. Das letzte Land, das die Sklaverei offiziell abschaffte, war 1980 Mauretanien.
Bühl fräst sich durch die europäische und die amerikanische Geschichte, ohne nach links zu schauen. Irgendeine geistige Ordnung lassen diese historischen Raubzüge durch den Wikipedia-Kosmos nicht erkennen. Bühl bringt es fertig, auf einer Druckseite Ralph Giordano, Martin Luther, Guido Knopp, Charles Dickens und einen seiner Studenten als Belege für die „diskursive Rassifizierungstechnik der Kollektivierung“ anzuführen, (135) und auf der nächsten Seite folgt gleich der CDU-Landesvorsitzende in Baden-Württemberg Thomas Strobl und, endlich, auch Donald Trump, den man schon vermisst hatte, der allerdings auch erst im Erscheinungsjahr des Buches Präsident wurde.
Auch historische Einordnungen und textkritische Reflexion von Quellen sind Bühls Sache nicht, von einer selbstkritischen Reflexion des eigenen Vorgehens ganz zu schweigen. Auf fünf aufeinander folgenden Seiten finden sich folgende Jahreszahlen in dieser Reihenfolge: 1883, 1967, 1896,1890, 1954, 1948, 1964, 1462, 1215, 1941, 1938, 1990, 1948, 1949, 1950, 1366, 2013, 2015. (243-247) Was soll man damit anfangen? Welche Auffassung von Geschichte steckt hinter einem derartigen wahllosen Sammelsurium?
Schließlich kommt Bühl ohne irgendeinen Quellenbeleg aus; keine einzige seiner Behauptungen wird nachgewiesen und kein einziger der rund 500 Titel des Literaturverzeichnisses wird zitiert. Nur auf Seite 281 finden sich aus heiterem Himmel zwei Internet-Links zu Zeitungsartikeln. Was das soll, weiß allein der Autor.
Rassismus zum Abhaken
Um Ordnung in das selbst angerichtete Chaos zu bringen, erfindet Bühl eine Liste von 15 Einzelrassismen, die man einfach der Reihe nach abhaken kann. Sie reicht von „Antisemitismus“ über „antiirischen Rassismus“, „antimuslimischen Rassismus“, „Antiqueerismus“ bis hin zu „Antimigrantischem Rassismus und Etabliertenvorrechten“. (67-80) Und wo selbst diese exzessiven Definitionen – oder genauer: Entgrenzungen – des „Rassismus“-Begriffs nicht mehr hinreichen, muss ein „struktureller Rassismus“ einspringen. Auch Bühl kennt die alte Soziologenregel: Wer nicht mehr weiter weiß, sagt „Struktur“. Dabei gibt er eine wirklich schöne Definition des Begriffs: „Unter Strukturen verstehen wir Gebilde, die eine vielfältig formende Kraft besitzen, die gewissermaßen der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken und die über eine multi-institutionelle Wirkungskraft verfügen“ (129) An späterer Stelle definiert er „Struktur“ auf ganz andere Weise; (213; 225) das fällt aber nicht weiter auf, da die eine wie die andere Definition völlig sinnleer ist. Irgendeine wissenschaftliche Expertise liegt dem nicht zugrunde.
„Rassismus“ ist ein ernstes Thema, aber Bühl führt es immer mal wieder zur – wahrscheinlich unfreiwilligen – Komik. Oder wie anders soll man lexikalische Köstlichkeiten wie „Rassifizierungstechnik der Spionisierung“ (86; 126) bewerten, zumal wenn sie mit „Kollaborateurisierung“ ergänzt wird? (173) Und nicht schlecht ist auch die „Verewiglichung“. (143) Hier weiß man nicht recht, ob er seine Leser auf den Arm nehmen oder sich selbst ad absurdum führen will. Aber wahrscheinlich meint er es ernst.
Vom Marxismus zum Antirassismus und zurück
Der wissenschaftliche Gestus dieses Buchs ist nur eine Maskerade. Das Buch ist eine Kampfschrift, mit der – unter Beihilfe der „Bundeszentrale für politische Bildung“ – Ziele durchgesetzt werden sollen, die ungenannt bleiben. Sie lassen sich aber leicht erschließen, wenn man genau hinschaut.
Bühl setzt seinem Buch ein Zitat ohne Nennung des Urhebers voran: „Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“. Dem möchte man gerne uneingeschränkt zustimmen, wenn man sich damit nicht in eine zwielichtige Gesellschaft begäbe. Denn das Zitat ist bekannt, es wird von Aktivisten gerne als Slogan verwendet. Offensichtlich ist auch seine Verwandtschaft mit dem älteren, aber heute weiterhin gerne verwendeten Slogan „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“. Hier lichtet sich langsam das Dunkel. Dieses Zitat hat einen Urheber. Kreiert wurde der Slogan von der 1948 gegründeten, lange Jahrzehnte von der SED unterstützten und inzwischen vom Verfassungsschutz beobachteten „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA)“.
Das erste Kapitel von Bühls Buch wurde 2017 nachgedruckt in der Zeitschrift „Marxistische Blätter“, dem Theoriemagazin der „Deutschen Kommunistischen Partei“, das im Jahr zuvor im Bundesverfassungsschutzbericht als „linksextrem“ eingestuft und als „Beobachtungsobjekt“ geführt wurde. Das muss man nicht überbewerten. Die DKP ist mit ihren 3000 Mitgliedern eine Splitterpartei, die sicherlich die Verfassungsordnung der Bundesrepublik nicht umstürzen wird, und ob jemand die „Marxistischen Blätter“ liest, weiß man nicht. Unheil richten sie bestimmt nicht an. Aber seltsam ist es doch, dass Texte aus diesem Umfeld von der „Bundeszentrale für politische Bildung“ vertrieben werden, deren Zielgruppe ja ausdrücklich auch Schulen und andere Bildungseinrichtungen sind.
Nur auf den ersten Blick also sieht es so aus, als handele es sich bei Bühls „Rassismus“-Werk um eines jener Kraut-und-Rüben-Bücher, wie sie die bedauernswerten Bologna-Wissenschaftler auf den Markt werfen müssen, um sich im tagespolitischen Meinungskampf zu positionieren, indem sie Haltung zeigen. Tatsächlich aber ist Bühl ein erfahrener, kurz vor der Pensionierung stehender Fachhochschulprofessor, der genau weiß, was er tut und der sein politisches Handwerk von der Pike auf erlernt hat. Denn wer seine akademische Sozialisation im Umfeld der „Deutschen Kommunistischen Partei“ erfahren, wer in den 1980er Jahren seine ersten Buchpublikationen über das „staatsmonopolistische Herrschaftssystem“ der Bundesrepublik oder über den „Hitler-Stalin-Pakt“ im SED-finanzierten Kölner Pahl-Rugenstein Verlag und im ebenfalls SED-finanzierten „Verlag der Marxistischen Blätter“ vorgelegt hat, der muss 2016 ziemlich enttäuscht sein, wenn er einsehen muss, dass alles nichts genutzt hat.
Nachdem es mit der Weltrevolution nichts geworden ist, der Kapitalismus immer noch auf seinen notwendigen Untergang wartet und das Proletariat partout nicht verelenden will, sucht man in einschlägigen orthodox-marxistischen Kreisen neuen Wein für die alten Schläuche. Die Rassismus-Diskussionen kommen dazu gerade recht. „Die Geschichte aller bisherigen Klassengesellschaften ist die Geschichte des Rassismus“ (9) heißt es bei Bühl. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ heißt es im „ Manifest der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx und Friedrich Engels. So kann man zwanglos das eine durch das andere ersetzen, aus den Klassenkämpfen wird der Rassismus, und schon gehört man wieder zur Avantgarde der Weltgeschichte.
Im führenden Theorieorgan des Freistaats Bayern, dem Verfassungsschutzbericht von 2018, wird diese Strategie nüchtern beschrieben: „Der Antirassismus, der insbesondere im Zusammenhang mit der Asylthematik einen linksextremistischen Agitationsschwerpunkt bildet, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Antifaschismus und dem Antikapitalismus. Linksextremisten sehen marktwirtschaftlich verfasste Staaten als Systeme, die zwangsläufig Rassismus hervorrufen und legitimieren.“ (Verfassungsschutzbericht Bayern 2018, S. 223)
Die Gegenrechnung
Ist Deutschland ein „zutiefst rassistisches Land“? Man könnte auch eine Gegenrechnung aufmachen. Man könnte darauf hinweisen, dass Deutschland wahrscheinlich das am wenigsten rassistische Land der Welt ist. Es ist kaum vorstellbar, dass es sonst irgendwo so viele staatliche und zivilgesellschaftliche Netzwerke, Initiativen, Bündnisse und Fördermittel gegen Rassismus gibt wie in Deutschland – was ja, historisch gesehen, durchaus seinen Grund hat. Dem 1995 gegründeten Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ gehören rund 3000 Schulen an; die „Respekt! Kein Platz für Rassismus GmbH“ sorgt seit 2006 dafür, dass in Fußballstadien und Betrieben jede Form des Rassismus aufgedeckt und geächtet wird. 2006 wurde das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)“, auch „Antidiskriminierungsgesetz“ genannt, erlassen. Auch die Bundesregierung ist nicht untätig. Allein das staatliche gestützte „Forum gegen Rassismus“ umfasst 90 Nichtregierungsorganisationen; der „Nationale Aktionsplan gegen Rassismus“ und das Bundesprogramm „Demokratie leben“ fördern antirassistische Einstellungen. Allein im Jahr 2019 stellte das Bundesfamilienministerium 115,5 Millionen Euro für Projekte zur Verfügung, die sich für Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit einsetzen. Hier gibt es viel zu holen.
Und das ist längst nicht alles: In Deutschland wird sich kein aktuelles Schulbuch finden, das, vom Umschlagbild angefangen, nicht die Diversität propagiert und auch nur den Hauch einer rassistischen Andeutung enthält. Die Bundesregierung und die meisten Bundesländer unterhalten Antidiskriminierungsbeauftragte und ‑stellen; die Zentralräte der Juden, der Muslime und der Sinti und Roma haben einen sehr großen Einfluss auf Politik und Medien, und überhaupt hat sich die deutsche Presse der Selbstverpflichtung unterworfen, jede Berichterstattung zu unterlassen, mit der rassistische Vorurteile genährt werden könnten; und sicherlich werden in Deutschland antisemitische Einstellungen stärker geächtet als sonst irgendwo außerhalb Israels. Schließlich hat Deutschland – nach der Türkei, Kolumbien, Pakistan und Uganda – weltweit die fünfthöchste Zahl von Flüchtlingen aufgenommen; und gewiss erfahren sie in kaum einem anderen Land derartig umfassende wohlfahrtsstaatliche Versorgung wie hier.
Ganz erfolglos ist das alles nicht gewesen. Auch wenn man solche Erfolge schlecht messen kann, gibt es doch immer kleine Signale, dass man auf dem richtigen Weg ist: Der 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 1998 berichtet noch von einer ausgeprägten Deutschenfeindlichkeit ausländischer Zuwanderer (S. 100). 20 Jahre später ist sie überwunden. Es gibt sie nicht mehr – jedenfalls nicht im 15.. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 2017. Auch das ist ein schöner Sieg im Kampf gegen den Rassismus, den man ja nicht immer dort findet, wo man ihn sucht.
Aber kein Wort davon findet sich in Bühls Buch – es hilft alles nichts: Deutschland ist ein „zutiefst rassistisches Land“.