Weiterführende Erörterungen zum Thema finden sich in der „Lesepult“-Buchkritik: Michael Butter, Nichts ist wie es scheint.
Alte Debattenkultur und neue Diskurslandschaften
Einen Augenblick lang schien es so, als habe die deutsche Gesellschaft in der Corona-Krise zurückgefunden zur Debattenkultur der Bonner Republik. Denn das erste Halbjahrhundert der bundesrepublikanischen Geschichte war bestimmt von großen Kontroversen über politische Richtungsentscheidungen – Kontroversen, die in Parlament und Öffentlichkeit leidenschaftlich geführt und in meist knappen Abstimmungen im Bundestag entschieden wurden.
Das ist lange vorbei. Die großen politischen Richtungsentscheidungen der vergangenen vier Legislaturperioden, beginnend mit der „Euro-Rettung“, sind unter weitgehendem Ausschluss, zum guten Teil auch Selbstausschluss, einer räsonierenden Öffentlichkeit und unter Verzicht auf kontroverse politische Diskussionen im Parlament mit überwältigenden Mehrheiten getroffen worden.
In der Corona-Krise ist einiges anders. In ihr hat es dem politischen und medialen Betrieb einen Moment lang die Sprache verschlagen. Die Gretas und die Luisas, die Roberts und die Annalenas sind still geworden. Und auch dass der Scheinriese „Fridays for Future“ wieder auf sein natürliches Zwergenformat geschrumpft ist, gehört zu den erfreulichen Corona-Nebenwirkungen.
Über „Corona“ und die politischen Konsequenzen wurde öffentlich und kontrovers diskutiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Im Zug dieser Diskursauflockerungsorgien wagte sich sogar das Bundesverfassungsgericht aus der Deckung und fasst erstmals einen zart europakritischen Beschluss. Das politisch-mediale Stakkato allerdings, das daraufhin über das Gericht hereinbrach, lässt einen erstaunt wenige Wochen zurückblättern zu den vielen Berichten und Kommentaren, in denen die gleichen Medien und die gleichen Politiker sich über die Unabhängigkeit der Justiz in Polen besorgt zeigten.
Die Krise hat alle, Öffentlichkeit, Politik, Justiz, Medien, Wissenschaft, erst einmal sprachlos gemacht.
Die Erlösung: Verschwörungstheorien
Die wohltuende Stille währte nicht lange. Als nach ersten Vorläufern am zweiten Maiwochenende bundesweit Corona-Demonstrationen stattfanden, wusste niemand so recht, was hier vor sich ging. Denn zu sonderbar waren die Konstellationen und Koalitionen, die sich auf den öffentlichen Plätzen deutscher Städte zusammenfanden. Die alten Kampfbegriffe, mit denen man sich das Gehirn der Masse gefügig machen konnte, wirkten nicht mehr so recht: Rassismus und Faschismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, Umweltsau und Klimakatastrophe, Hass und Hetze zielen an dieser Protestwirklichkeit so weit vorbei, dass sie nicht einmal mehr im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verwendet werden. In dieser Protestbewegung wuchs zusammen, was wirklich nicht zusammen gehört: Linke und Rechte, Faschisten und Antifaschisten, Liberale und Konservative, Freiheitsfreunde und Freiheitsfeinde, Antisemiten, Impfgegner, Esoteriker, Klima- und Mondlandungsleugner und strahlenängstliche Aluhutträger. Da kann man leicht die Orientierung verlieren, wenn man keine politische Handreichung bekommt.
Am Montag, 11. Mai, fand der Sprecher der Bundesregierung das erlösende Wort: „Bundesregierung warnt vor Corona-Verschwörungstheorien“, lauteten die Schlagzeilen, und bald kamen auch erste Überlegungen auf, deren Verbreitung unter Strafe zu stellen. Der Begriff „Verschwörungstheoretiker“ hat sich innerhalb weniger Tage mit einer Selbstverständlichkeit durchgesetzt, als handele es sich um einen anerkannten Ausbildungsberuf. Irgendeinen Bedeutungs- oder gar Realitätsgehalt hat der Begriff nicht. Am Ende sind es allenfalls drei oder vier Galionsfiguren – Anselm Lenz, Ken Jebsen, Xavier Naidoo, Jürgen Elsässer – mit einer nicht benennbaren, aber aufs Ganze gesehen sicher nur marginalen Gefolgschaft, die mit diesem Begriff wirklich erfasst werden, wenn man ihn irgendwie semantisch ernst nehmen wollte.
Irgendjemand redet immer irgendwelchen Unsinn. Das ist in der Politik nicht anders als im richtigen Leben oder in der Wissenschaft. Die politisch-mediale Leistung des „Verschwörungstheoretiker“-Begriffs besteht darin, diejenigen, die offenbaren Unsinn reden, in eine Reihe zu bringen mit denen, die unsortiert, aber laut vor sich hindenken und schließlich denen, die durchdachte Argumente vortragen und vielleicht doch Recht haben könnten. Durch diese bewährte Praxis semantischer Kontaminationsketten lassen sich umstandslos alle diskreditieren, die Einwände gegen das Regierungshandeln in der Corona-Krise vorbringen. Schwer zu durchschauen ist das nicht, aber es funktioniert trotzdem.
Warum gerade jetzt?
Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet die Corona-Krise ein so sonderbares Aufbegehren nach sich zog, das den Hauch eines Gelbwestenmoments hatte. Nach aktuellem Stand darf man davon ausgehen, dass die unmittelbaren Nachwirkungen der Corona-Krise bei weitem nicht jenes Ausmaß an gesellschaftlichen Veränderungen und Belastungen nach sich ziehen werden wie die Migrations- oder die Energiepolitik der Bundesregierung. Aber erklärbar ist das unvermutete Aufbegehren doch. Denn jetzt ging es – zunächst jedenfalls – nicht wie bei der Euro-Rettung um abstrakte Milliarden‑ und Abermilliardenbeträge, die irgendwer irgendwann einmal wird bezahlen müssen, jetzt ging es auch nicht um Asylbewerber, die irgendwo, aber jedenfalls nicht in der Nähe von Politikern und Journalisten, untergebracht werden, und es ging auch nicht um eine Energiewende, deren Kosten über die Jahre hinweg in den Stromrechnungen versteckt werden können.
Die Corona-Krise trifft „die Leute“ hautnah im Kern ihrer Lebensführung. In der Corona-Krise werden massive Einschränkungen des gewohnten Alltags wirksam; man kann nicht mehr treffen, wen man will, einkaufen, wie man will und in Urlaub fahren, wohin man will. Für viele Menschen der jüngeren Generation, ob zugewandert oder nicht, wird es eine ganz neue Erfahrung sein, dass sie sich überhaupt an Regeln halten müssen.
Aber jetzt wollen „die Leute“, anders als früher, wissen, warum ihnen diese Einschränkungen zugemutet werden. Jetzt reichen wolkige Versprechungen, moralische Belehrungen, Untergangsphantasien, schlichte Feindbilder und unverhohlene Sprechverbote nicht mehr aus, und jetzt kocht wohl auch manches Misstrauen gegen Regierung und Medien wieder hoch, das sich in den letzten Jahren unausgesprochen angesammelt hat. Diese sonderbare Protestbewegung ist Ausdruck eines Unbehagens an einer politischen Diskussionskultur in Deutschland, die sich immer weiter vom Leitbild einer „räsonierenden Öffentlichkeit“ entfernt hat und die aus dem Ideal des herrschaftsfreien Diskurses die Realität der diskursfreien Herrschaft hat werden lassen.
Was sagt die Wissenschaft?
Niemand kann allerdings so recht sagen, was denn nun ein „Verschwörungstheoretiker“ ist. Man könnte meinen, dass die Wissenschaft hier Rat weiß. Aber die Erklärungsmuster der Wissenschaft für die Verschwörungstheorien sind mindestens genauso schlicht gestrickt wie diese selbst. Selbstverständlich gibt es in Deutschland etliche Psychologen, Soziologen, Kulturwissenschaftler, die sich dem Thema der „Verschwörungstheorien“ schon länger widmen. Sie stehen den Medien als Experten zur Verfügung und der ein oder andere erfährt einen Karriereschub als Fernsehprofessor – wie zuvor die Virologen und davor die Rassismus- und Antifaschismusexperten.
Das größte Forschungsprojekt zum Thema ist „Comparative Analysis of Conspiracy Theories”: COMPACT – witziger- und unbedachterweise trägt das Projekt den gleichen Titel wie das wegen der Verbreitung rechtpopulistischer Verschwörungstheorien verdächtige politische Magazin „Compact“ Jürgen Elsässers. In dem seit 2016 mit EU-Geldern geförderten Forschungsprojekt haben sich etwa 150 Wissenschaftler aus etwa 35 Ländern – genau scheint man das nicht zu wissen – zusammengefunden und Dutzende von Aufsätzen und ein dickleibiges „Routledge Handbook of Conspiracy Theories“ herausgebracht. Michael Butter, Amerikanistik-Professor aus Tübingen und „Vice Chair“ des Projekts, hat für den gemeinen Leser 2018 ein schmales Suhrkamp-Bändchen „Nichts ist, wie es scheint“ herausgebracht, das eine eigene Betrachtung lohnt.
Wenn die EU Projekte fördert, dann soll möglichst mehr herauskommen als nur wissenschaftliche Erkenntnis. Irgendwie ist man in Politik, Medien und Wissenschaft der Überzeugung, dass „die Leute“, wie sie heute gern genannt werden, um den Begriff „Volk“ zu umgehen, ohne Handreichungen aller Art nicht zurechtkommen, mit deren Hilfe man Rassisten, Faschisten, Klimaleugner, Dieselfahrer und jetzt eben auch Verschwörungstheoretiker erkennt. Wem das Routledge Handbook zu dick, zu teuer – es kostet trotz EU-Förderung 230 Euro – und zu kompliziert ist, der kann zu dem „Education Pack“ greifen, mit dem Lehrkräfte, Politiker und Medien versorgt werden, um Verschwörungstheoretiker zu entlarven, und wem auch das zu viel ist, der greift zum „Guide to Conspiracy Theories“. Hier wird in etlichen Sprachen auf 20 Seiten erklärt, woran man Verschwörungstheoretiker erkennt: an ihrer Neigung nämlich, „gemeinhin akzeptierte und offizielle Positionen anzuzweifeln“. Früher hat man Leute mit solchen Neigungen „Wissenschaftler“ genannt.
Jedenfalls ist die Botschaft angekommen, dass es „offizielle Positionen“ gibt, denen man sich als Wissenschaftler besser anschließen sollte. In der Aktuellen Stunde des Bundestags vom 15. Mai 2020 erklärte der Wuppertaler SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh seinen applaudierenden Kollegen, wie Wissenschaft funktioniert – 30 Sekunden, die sich lohnen: Wissenschaft, so erklärt er, lebt vom „freien Diskurs, Meinungsunterschiedlichkeit, Debatten, Wissen, Erkenntnis“. Wenn aber „renitente Wissenschaftler“ – das ist eine Steigerung des „umstrittenen Professors“ – „die Position der Regierung ablehnen, dann ist das Ergebnis nicht Wissenschaft“ und verdient kein Gehör, geschweige denn Förderung. Wer dieses immer routinierter werdende Zusammenspiel von Politik und Wissenschaft genau betrachtet, fühlt sich an das Entstehen der „Kaderphilosophie“ in der frühen DDR erinnert. Wohl kann einem nicht dabei werden.
Wie mündig sind die Bürger?
Dass eine über mehrere Legislaturperioden sich erstreckende gouvernementale Diskurs- und Rationalitätsverweigerung irgendwann eine Gegenreaktion hervorrufen würde, war abzusehen. Erstaunlich ist allenfalls, dass es so lange gedauert hat und dass sich das angestaute Unbehagen ausgerechnet an der Corona-Krise entzündete. Denn die nahm ihren Ausgang nun wirklich nicht von politischen Fehlentscheidungen. Aber eine systematisch betriebene Entintellektualisierung, eine Emotionalisierung und Moralisierung des politischen Diskurses kann auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben. Was der Grandseigneur des deutsch-britischen Liberalismus, Ralf Dahrendorf, über den „Populismus“ gesagt hat, gilt auch für dessen ältere Schwester, die „Verschwörungstheorie“: Ihr Auftreten ist ein Indiz für das Versagen des Parlamentarismus, und mehr noch: ein Versagen der öffentlichen Debattenkultur. Wer einer ganzen Generation die Fähigkeit zum rationalen Denken, schlüssigen Argumentieren und flüssigem Sprechen abtrainiert, wer statt dessen emotional und moralisch aufgeladene Volksbelehrungen als medialen Frontalunterricht oktroyiert, muss damit rechnen, dass das irgendwann genauso wieder zurückkommt: emotional, irrational, aggressiv, reflexions- und begriffslos, kulturfeindlich und geschichtsvergessen – als „Verschwörungstheorie“ eben.