Wer kennt die Zahlen und nennt die Gründe?

Falsche Propheten

Lehrermangel gibt es, seit es Schulen gibt, Klagen über den Lehrermangel gibt es, seit es Journalisten gibt, und gute Ratschläge dazu gibt es, seit es Studien der Bertelsmann-Stiftung aus Gütersloh gibt. Im September 2019 hat die Bertelsmann-Stiftung eine Studie zum Lehrermangel veröffentlicht, in der sie zum wiederholten Male um mediale Aufmerksamkeit buhlt, die sie reichlich bekommen hat. Ähnliche Befunde hatte sie bereits 2017 und 2018 vorgelegt. Die Kernaussage dieser Studien ist ein Alarmruf: die Prognose nämlich, dass wegen steigender Schülerzahlen bis zum Schuljahr 2025/26 an deutschen Grundschulen ein zusätzlicher Personalbedarf von 26 304 Lehrern entstehen werde.

Nun ist es mit Prognosen so eine Sache. Eine alte Faustregel für Statistiker besagt, dass man nur Voraussagen machen soll über Zeiträume, welche über die Lebenszeit der jetzigen Generation hinausreichen. Klimaforscher wissen das, Bildungsforscher nicht. Die aktuellen Prognosen zur steigenden Schülerzahl werden von der gleichen Bertelsmann-Stiftung ermittelt und verbreitet, die vor zehn Jahren noch das Gegenteil verkündete: „Nach einer aktuellen (Jahr 2009) Prognose der Bertelsmann-Stiftung werden die Schülerzahlen in Deutschland bis 2025 um knapp 20% sinken. Besonders betroffen sind die ostdeutschen Bundesländer. Damit ist das Ende des dreigliedrigen Schulsystems besiegelt.“

Damit wurde eine Lawine bildungspolitischer Dummheit in Bewegung gesetzt, gegen die nüchterne Einwände keinen Erfolg haben konnten. Der demographische Wandel, der damit einhergehende Schülerrückgang und der daraus wieder folgende Lehrerüberschuss wurden als ein Naturgesetz beschrieben, aus dem es kein Entrinnen geben könne. Damals wie heute verbargen sich unter den scheinbar nüchternen Zahlen handfeste politische Interessen. Die Prognosen über zurückgehende Schülerzahlen dienten dem einzigen Zweck, die schon vier Jahrzehnte zuvor in der Praxis gescheiterte, in der pädagogischen Phantasiewelt aber weiterhin lebendige „Gesamtschule“ erneut auf die bildungspolitische Agenda zu bringen. Mit Erfolg. Hauptleidtragende war damals die Realschule, die in etlichen Bundesländern mit der Hauptschule zusammengelegt wurde, während, wie immer, das Gymnasium unbehelligt blieb.

Offensichtlich, das zeigt dieses Prognosedesaster, ist es gar nicht so leicht, die Schülerzahlen und den Lehrerbedarf vorherzusagen. Denn so wenig wie sich vorhersagen lässt, wie viel Lehrer zur Verfügung stehen werden, so wenig lässt sich – nicht einmal im Primarschulbereich – vorhersagen, wie viele Schüler tatsächlich die Schule besuchen werden. Zahlen über den Lehrerbedarf hängen von einfachen, oft unscheinbaren politischen und auch nur administrativen Vorgaben ab, die mit einem Federstrich geändert werden können: der Klassengröße, dem Stundendeputat, dem Pensionsalter, aber auch von der Geschlechterverteilung und den Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen, die im Grundschulbereich eine besondere Rolle spielen. Fast 90% der Grundschullehrkräfte sind Frauen, von denen wiederum rund 40% teilzeitbeschäftigt sind, ganz zu schweigen von Mutterschaftsurlauben und Elternzeiten.

Bevölkerungsstatistik als Wundertüte

Und der Lehrerbedarf hängt eben auch von den Schülerzahlen ab. Mit großem Erstaunen stellt die Bertelsmann-Studie fest, dass es künftig mehr sein werden, als man vor zehn Jahren berechnet hatte. Woher die neuen Schüler plötzlich kommen, lässt die Studie allerdings lieber im Ungefähren. Irgendwie sind wohl die „steigenden Geburtenzahlen“ und eine „anwachsende positive Wanderungsbilanz“ dafür verantwortlich, wie die Bertelsmann-Autoren in ihrer Studie von 2018 vermuten. Es könnte auch etwas zu tun haben mit dem 4. September 2015, als die deutschen Grenzen für die Asylmigration geöffnet wurden. Aber davon weiß die Studie nichts. Sie weiß nichts davon, dass von 2014 bis 2016 rund 437 000 Flüchtlinge im Alter von 6 bis 18 Jahren an die deutschen Schulen gekommen sind. Das sind ältere Berechnungen des privaten „Mediendienstes Integration“, offizielle und genauere Daten gibt es nicht.

Auch die aktuelle Zahl kennt niemand. Sie dürfte bei weit über einer halben Millionen Flüchtlingskindern in deutschen Schulen liegen. Ordentliche Statistiken werden nicht darüber geführt. Über die asylbedingten Schülerzahlen weiß man genauso wenig, wie man weiß, wie viele Migranten überhaupt nach Deutschland gekommen sind, wie alt sie sind, welche Nationalität sie haben und damit welche Muttersprache sie sprechen. Das alles weiß man nicht und will es vielleicht auch nicht wissen. Und wer das alles nicht weiß, kann auch keine irgendwie stichhaltige Prognose über den Lehrerbedarf der nächsten Jahre machen.

Die Geburtenzahlen dagegen kennt man, und auch hier lohnt ein genauerer Blick. Die Bertelsmann-Studie 2018 spricht von „steigenden Geburtenzahlen“, ohne sich darüber zu wundern, woher die plötzlich kommen. Das Statistische Bundesamt kennt die Antwort und gibt sie in einer Pressemitteilung vom März 2018: der Anstieg der Geburtenrate von 2015 auf 2016 lag bei Müttern mit deutscher Staatsangehörigkeit – einschließlich jener mit Migrationshintergrund oder Doppelpass – bei 3%, bei ausländischen Müttern betrug der Anstieg innerhalb eines Jahres, von 2015 auf 2016, 25 %. Anders gerechnet: gut 23% der 2016 in Deutschland geborenen Kinder hatten ausländische Mütter. An der Spitze liegen die türkischen Kinder mit 21 800, es folgen die syrischen mit 18 500. Der Zeitpunkt in absehbar, zu dem die Erstklässler  in der Überzahl sein werden, deren Muttersprache nicht die Landessprache ist. Dadurch entsteht zusätzlicher Personalbedarf, weit über die bloße Lehrerversorgung hinaus: Dolmetscher, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen werden in unabsehbarem Umfang benötigt. Und vor allem sind jetzt über Nacht Fachkräfte für „Deutsch als Fremdsprache“ oder besser „Deutsch als Zweitsprache“ – vom „Fremdsprachen“ spricht man in der Pädagogik nicht mehr gerne, von „Zweitsprachen“ allerdings auch nicht – gefragt. Aber auch sie werden die Probleme nicht lösen können, ganz abgesehen davon, dass hinreichend viele Lehramtsanwärter schon Probleme mit Deutsch als Erstsprache haben. Am Ende wird man sich wohl auf Deutsch als „Leichte Sprache“ als kleinsten gemeinsamen Nenner einigen müssen. Denn es gehört seit langem schon zur Leitideologie westdeutscher Bildungspolitik, dass sich nicht die Schüler den Schulen, sondern die Schulen den Schülern anzupassen haben.

Von diesen Entwicklungen ist in den Bertelsmann-Studien nicht die Rede. Dabei sind das die eigentlichen Herausforderungen, vor denen die deutsche Schule in den nächsten Jahren stehen wird. Denn es geht hier nicht um bloße Zahlen und Statistiken.

Kann das funktionieren?

Eine derart bunt zusammengewürfelte multikulturelle Schülerschaft ist im Klassenzimmer nicht mehr beherrschbar. Auch wenn sich die „Bildungswissenschaft“ seit langen Jahren die „Heterogenität“ als zauberhafte pädagogische Herausforderung schön redet, so ist es vollkommen klar, dass Schülerschaften mit derart divergierenden kulturellen Voraussetzungen, wie sie in den vergangenen Jahren in die Schulen gekommen und in den nächsten Jahren zu erwarten sind, nicht mehr beschulbar sind.

Die deutschen Schulen sind jetzt mit der rätselhaften Aufgabe konfrontiert, den Kindern, Jugendlichen und auch jungen Erwachsenen dieser jüngsten Migrationswelle nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, sondern auch kulturelle Orientierungsmuster für das Leben in einer modernen westlichen Zivilisation zu vermitteln. Ob das gelingen wird, ist durchaus zweifelhaft, und wie das gehen soll, weiß niemand außer ein paar Journalisten und Bildungsforschern. Für solche Aufgaben ist die Schule nicht gemacht. Es ist ja kein Zufall, dass es bis heute, vier Jahre nach der Grenzöffnung und ein Vierteljahrhundert nach der ersten großen Flüchtlingswelle im Gefolge der Jugoslawienkriege, weder in der Wissenschaft noch in der Praxis administrative, pädagogische und didaktische Konzepte gibt, wie man mit einer solchen Herausforderung umgehen soll. Es gibt sie nicht, weil es sie nicht geben kann. Das kunterbunte Durcheinander von Deutschlernklassen, Willkommens­klassen, Flüchtlingsklassen, Übergangsklassen, Berufs­vorbereitungs­klassen und wie sie alle heißen, ist ein beredter Ausdruck dieser Ratlosigkeit.

Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass in einem überschaubaren Zeitraum die kulturelle Integration durch schulische Bildungsarbeit gelingen wird, als dass sich kulturelle Dissonanzen – oft auch „Parallelgesellschaften“ genannt – verschärfen werden. Die Schule wird daran nichts ändern können. Der euphorische Bildungsreformer und hessische Kultusminister der frühen 1970er Jahre, Ludwig von Friedeburg, hat im Rückblick seine ernüchternde Erfahrung formuliert, die offensichtlich jede Generation von Schulreformern neu machen muss: Wer glaubt, mit der Schule die Gesellschaft verändern zu können, wird erleben müssen, dass die Gesellschaft die Schule verändert. So wird es auch der Schule in der multikulturellen Migrationsgesellschaft ergehen. Am Ende wird eine deutsche Schullandschaft stehen, die genauso fragmentiert sein wird wie die deutsche Gesellschaft.

Attraktiver wird der Lehrerberuf dadurch nicht. Längst hat sich schon herumgesprochen, dass Grundschulklassen nicht das ideale Biotop sind für die von der jüngeren Generation so geschätzte Work-Life-Balance. Und damit schließt sich der Teufelskreis. Immer mehr Schülern in immer schwieriger werdenden Klassen stehen immer weniger von solchen Lehrern gegenüber, wie sie die Schule wirklich brauchen kann.