Die Zahlen
Eigentlich kann es doch nicht so schwer sein: Wer eine Epidemie bekämpfen will, braucht eine tragfähige Datenbasis. Die Anforderungen an solche Daten sind leicht benennbar. Sie müssen aussagekräftig, zuverlässig und handhabbar sein. Die Inzidenzzahlen, die von der Bundesregierung ebenso wie von anderen westlichen Regierungen zum Maßstab des epidemiepolitischen Handelns gemacht wurden, erfüllen diese Anforderungen nicht. Das weiß man. Selbst aufmerksamen Laien kann es nicht verborgen bleiben, dass die „7-Tage-Inzidenzen“ in ihrer aktuellen Erfassungs‑ und Berechnungsform ein untaugliches Instrument zur Beschreibung des Epidemiegeschehens sind. Niemand, der beruflich mit Zahlen zu tun hat, vom Schreinermeister bis zum Atomphysiker, würde sein Handeln auf eine derart unzuverlässige und nichtssagende Datengrundlage stützen. Zu eklatant und zu bekannt sind die Schwächen, die den Inzidenzwerten – ebenso wie den von ihnen abhängigen „R-Werten“ – anhaften.
Die Schwächen lassen sich in wenigen Sätzen zusammenfassen.
- Die Inzidenzwerte sind nicht zuverlässig. Sie sind abhängig von der Zahl der durchgeführten Testes, und wer in welcher Region an welchen Personengruppen wie viele Tests durchführt, hängt von zufälligen Umständen und willkürlichen Entscheidungen ab.
- Die Inzidenzwerte sind nicht aussagekräftig. Positive Testergebnisse – die ihrerseits wieder nicht zuverlässig sind – sind nicht zugleich auch eine Aussage über das Vorliegen einer infektuösen Erkrankung und bedürften eigentlich noch einer zusätzlichen klinischen Bewertung der Testperson und ihres Umfeldes. So jedenfalls wünscht sich das die Weltgesundheitsorganisation.
- Die Inzidenzwerte sind fehleranfällig. Die Tests selbst können fehlerhafte Ergebnisse liefern, und eine Fehleranfälligkeit ist bei der Erfassung und Übermittlung massenhafter Daten immer und bei der offensichtlich fragilen Infrastruktur des deutschen Gesundheitswesens im erhöhten Maße gegeben. Feinkörnige Aussagen wie „über 100“ oder „unter 100“, die wiederum sehr weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen, können eigentlich seriös gar nicht getroffen werden, da schon minimale Fehlerquoten von ein oder zwei Prozent weitreichende Veränderungen des Ergebnisses nach sich ziehen. Jeder Physikstudent lernt vor seinem ersten Laborversuch, wie man mit systematischen und zufälligen Messfehlern umgeht und wie Konfidenzintervalle bestimmt werden. In der Corona-Diskussion will man auch davon nichts wissen.
- Dass schließlich die Festlegung von Grenzwerten, die zum Maß aller Dinge erhoben wurden, willkürlich und weder medizinisch noch epidemiologisch begründbar war, wurde im Laufe des Jahres deutlich: Mal wurde der Grenzwert auf 50, dann auf 100, zwischendurch auf 35 festgelegt, auch ein Grenzwert von 0 oder von 150 wurde und wird ernsthaft diskutiert. Ursprünglich waren die Grenzwerte orientiert an der vermuteten Leistungsfähigkeit der Gesundheitsverwaltungen zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Davon haben sie sich längst gelöst und sind zur reinen politischen Verfügungsmasse geworden.
Diese Nachteile der Inzidenzwerte werden aber kompensiert durch ihren unbestreitbaren Vorteil: Sie sind administrativ und politisch extrem leicht handhabbar.
Wenn sie einmal durchgesetzt und im öffentlichen Bewusstsein verankert sind, und das sind sie, dann reduzieren sie jedes politische Handeln auf eine simple und alternativlose binäre Entscheidung: Ja oder Nein. Damit lässt sich ein Automatismus begründen, der jede weitere Begründungslast und Argumentationsverpflichtung erübrigt. Dann reicht es aus, wenn die Bundeskanzlerin in einer Pressekonferenz vom 23. März 2021, nicht zum ersten Mal, in eine – man muss es so sagen: infantile – Freund-Feind-Rhetorik verfällt: „Aber wir haben eben das Virus noch nicht besiegen können. Es lässt nicht locker.“
Welche Zahlen werden gebraucht?
Man müsse halt mit den Zahlen arbeiten, die man habe, wird den vielen Kritikern der Corona-Statistik entgegnet, andere gebe es nicht. Das ist falsch. Bereits vor einem Jahr, im März 2020, hat auf Initiative der Leibniz-Gemeinschaft ein Konsortium von wissenschaftlichen Einrichtungen der Gesundheitsforschung und des Instituts für Weltwirtschaft der Bundesregierung ein Modell zu Datenerhebung vorgeschlagen, das die vorhandenen Infrastrukturen der NAKO-Gesundheitsstudie nutzt, um in enger Taktung regelmäßig repräsentative Stichproben der Bevölkerung auf Corona-Infektionen auszuwerten. Der Aufwand wäre gering und die Aussagekraft hoch, zumal sich die erhobenen Daten mit den vorhandenen soziökonomischen NAKO-Daten in Beziehung setzen ließen. Das Projekt wurde von mehreren Bundesministerien abgelehnt. Das ist zwar unbegreiflich, aber nicht überraschend. Wer die Zahlen hat, hat die Macht, und die gibt man in der Politik nicht aus der Hand.
Aber selbst das aktuell praktizierte Verfahren, das sich ausschließlich auf die zufällig durchgeführten Tests und deren positive Ergebnisse stützt, ließe sich mit einem simplen mathematischen Handgriff so normieren, dass die Ergebnisse regional und auf der Zeitschiene vergleichbar und damit überhaupt erst aussagkräftig würden. Dafür müsste man nur die Prozentanteile der positiven Tests an der Gesamtzahl der vorgenommenen Tests ermitteln – eine einfache Dreisatzrechnung, die ein rüstiger Rechner auch im Kopf überschlagen könnte.
Das alles wurde versäumt. Die deutsche Corona-Politik hält beharrlich an dem fest, was man in den ersten Wochen in einer Situation fehlenden Wissens eingeleitet hat, was sich aber alsdann als weitgehend fehlerhaft und in der Konsequenz als wirkungslos erwies.
Tabus der Corona-Politik
Den falschen Zahlen folgt eine falsche Politik. Die Maßnahmen zur Epidemiebekämpfung müssen genauso grobschlächtig ausfallen wie die Zahlen, auf denen sie beruht. Eigentlich weiß man, dass das Infektionsgeschehen sich nicht flächendeckend abspielt, sondern bestimmte Schwerpunkte hat: Risikogruppen, die geschützt werden müssen, Risikogebiete, die man vermeiden kann, und Risikosituationen, die sich entschärfen lassen. Das müsste zu hochgradig differenzierten, auf die jeweils konkrete Situation abgestimmten Maßnahmen führen – es macht schließlich einen Unterschied, ob ein hoher Inzidenzwert auf ein Infektionsgeschehen in einer abgegrenzten Personengruppe oder auf weit verstreute einzelne Infektionen zurückzuführen ist. Solche Differenzierungen kennt die deutsche Corona-Politik nicht. Sie möchte gerne in Berlin entscheiden, was in Tübingen oder Rostock geschehen muss.
Krisenmanagement darf keine Tabus kennen und muss die Risiken dort benennen, wo sie erkennbar sind. Davon ist die deutsche Politik weit entfernt. Das eine Tabu heißt „europäische Idee“, die sich gleich zu Anfang als wichtiger erwies als ein effektives Impfstoffmanagement. Die Folgen sind bekannt. Nicht bekannt ist das andere, konsequent verschwiegene Tabu: Das Infektionsgeschehen hat auch eine ethnische Komponente. Die Diskussion flackerte kurz auf – und wurde gleich wieder gelöscht – im Zusammenhang mit der Belegung von Intensivbetten.
Konsequent verschwiegen wurde die Rolle des „ethnischen Reiseverkehrs“. Der Begriff stammt nicht aus dem AfD-Parteiprogramm, sondern aus der Mobilitätsforschung, und er wird auch vom Robert Koch-Institut verwendet. Gemeint ist der Urlaubsreiseverkehr von Migrantengruppen in ihre Herkunftsländer. In einer Studie vom Februar 2021, reichlich spät also, legt das RKI eine „Betrachtung der reiseassoziierten COVID-19-Fälle im Sommer 2020“ vor mit dem Ergebnis, dass Reiserückkehrer aus den Ländern Kosovo, Kroatien, Türkei, Bosnien und Herzegowina und Rumänien an der Spitze der absoluten Fallzahlen der positiven Tests stehen. Das hatte man geahnt, aber Konsequenzen hatte weder die Ahnung noch das inzwischen gesicherte Wissen.
Das letzte aller Tabus wird aber auch hier nicht erwähnt. In der Drucksache 19/19167 vom 13. Mai 2020 erklärt die Bundesregierung lapidar: „Die Einführung von vorübergehenden Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen und die Einreisebeschränkungen haben nicht zu einer Änderung der bestehenden asylrechtlichen Regelungen geführt.“ Kurz: Für Berufspendler und Asylbewerber – ebenso wie für ihre nachziehenden Familien übrigens – bleiben die Grenzen zu den Nachbarländern Deutschlands auch dann offen, wenn sie für den Reiseverkehr gesperrt werden. Dafür wurden ganz versteckt und weit unterhalb der medialen Aufmerksamkeitsschwelle in der Corona-Impfverordnung neben „Angehörigen bestimmter Berufsgruppen“ wie Feuerwehrleuten, Polizisten, Lehrern auch Bewohner von Asylbewerberunterkünften der „Priorität 2“ zugeordnet.
Die Medien im Metaphernrausch
Die 7-Tage-Inzidenzen sind nicht wirklich der harte Kern der Corona-Politik, sondern nur der Ausgangspunkt für weitreichende Interpretationen, Spekulationen und Warnungen. Diese Aufgabe haben die Medien übernommen. Unverkennbar investiert der öffentlich-rechtliche Rundfunk mehr Energie in eine gendersensible Sprache als in eine saubere Corona-Recherche. In jeder beliebigen Nachrichten-, Informations- oder Diskussionssendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und in einem großen Teil der privaten Medien werden die wenigen Zahlen, die man hat, in den Metaphernnebel eingehüllt, den man braucht, um den Zahlen die dramatische Deutung zu geben, mit der sich immer härtere „Maßnahmen“ begründen lassen: Immer steigt die „Kurve steil an“ und unabwendbar ist offensichtlich der Hinweis, dass „die Zahlen durch die Decke schießen“; von „Notbremsen“ und „Sicherheitsgeländern“ ist die Rede, die „Kapazitäten sind begrenzt“ und das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps. Und immer bleibt es dabei: Alles wird noch viel schlimmer werden, Mutanten haben sich überraschenderweise aus aller Herren Länder auf den Weg nach Deutschland gemacht, und inzwischen habe die Corona-Epidemie auch die Jüngeren erreicht. Das weiß man zwar nicht so genau, aber so lauten die Prognosen anonymer Experten, versichern die Moderatorinnen. Und wer es immer noch nicht recht glauben mag, bekommt in einer öffentlich-rechtlichen Gesprächsrunde von einem schneidigen Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen erklärt, welche Verantwortung er damit auf seine Schultern lädt: „Wir haben 65 000 Menschenleben in 140 Tagen verloren. Das sind Eltern, Mütter, Großeltern, die alle vorhatten, weiter zu leben.“ Und damit noch nicht genug: „Die Gruppe, die jetzt gefährdet ist, die 50- bis 80-Jährigen, die sind alle ungeimpft. Die werden alle sterben.“ Krisenkommunikation wird hier zur Panikstimulation, die immer neue Reize setzen muss. Selbst mathematisch klar definierte Begriffe wie der des „exponentiellen Wachstums“ werden zu wolkigen Propagandaformeln umgebogen. Wer sich das wöchentliche Auf und Ab der 7-Tage-Inzidenzen anschaut, kann daraus alles Mögliche ablesen, aber bestimmt kein „exponentielles Wachstum“ oder sonst irgendetwas, was sich als mathematische Funktion beschreiben ließe. Auch die Drohgebärde der „dritten Welle“ findet in den „Zahlen“ keinen Anhaltspunkt. Das RKI hat ein Diagramm mit dem Inzidenzwertverlauf von der 10. Kalenderwoche 2020 bis zur 4. Kalenderwoche 2021, also über ein knappes Jahr, erstellt, aus dem sich alles Mögliche ablesen lässt, aber bestimmt keine „Wellen“. Aber selbst wer sich diese Mühen der Nachprüfung nicht machen will, kann leicht einsehen, dass „Wellen“ und „exponentielles Wachstum“ eigentlich einander ausschließen: Der eine Fall beschreibt ein stetiges Wachstum, der andere ein Auf und Ab.
Warum funktioniert das alles?
Über die deutsche Corona-Politik und ihre medialen Begleiterscheinungen müsste man eigentlich kein Wort mehr verlieren. Das alles liegt offen zutage und ist vielhundertfach kommentiert und diskutiert worden.
Aber gerade deshalb bleibt eine bohrende Frage offen: Weshalb funktioniert das? Weshalb findet diese chaotische und in der Summe offensichtlich wirkungslose Politik auch nach einem Jahr sehr große Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung? Ganz ohne mediale Kapriolen geht das allerdings nicht ab: Das sehr stark beachtete ZDF-Politbarometer meldete am 26. Februar 2021: „Corona-Maßnahmen: Mehrheit für Lockerungen“. Genau einen Monat später, am 26. März 2021 erklärte das gleiche ZDF-Politbarometer das genaue Gegenteil: „Hatten nie eine Mehrheit für Lockerungen“. Das scheint zu stimmen. Tatsächlich scheinen rund zwei Drittel der Bevölkerung den Maßnahmen zuzustimmen und viele fordern sogar noch mehr vom Falschen, während kurioserweise die Akteure genau dieser Politik und ihre Parteien einen massiven Vertrauensverlust erlitten haben. Aber an grundsätzlichen Qualifikationsmängeln des politischen Personals kann es nicht liegen, denn andererseits erweisen sich etliche Politiker, vom Bundesgesundheitsminister abwärts, als erstaunlich trittsicher, wenn es um ihre eigenen finanziellen Interessen geht.
Vielleicht liegt es an den Bürgern? Die Bundesrepublik ist eine Demokratie, in der Regierungen in freier und geheimer Wahl gewählt und abgewählt werden können, die Fakten sind zugänglich, jeder kann sich informieren, auch wenn es dazu meist eines etwas größeren Aufwands bedarf als allabendlich Marietta Slomka oder Caren Miosga zuzuhören. Abweichende Meinungen werden zwar nicht gern gehört, oft auch marginalisiert und stigmatisiert, am Ende aber doch geduldet und nicht wirklich repressiv unterdrückt. Kurz: Es herrscht eigentlich eine Demokratie wie aus dem Lehrbuch der Politologen.
Und nicht zuletzt: Der Alphabetisierungsgrad der autochthonen Bevölkerung in Deutschland liegt bei fast 100 Prozent, die Akademisierung ist so hoch wie noch nie in der deutschen Bildungsgeschichte, jeder sollte die vier Grundrechenarten beherrschen und „die Zahlen“ einer kritischen Prüfung unterziehen können.
Aber irgendetwas muss gründlich schiefgelaufen sein im deutschen Bildungswesen der letzten 50 Jahre. Denn sonst könnte eine Politik nicht so breite Zustimmung finden, die der Alltagserfahrung, dem gesunden Menschenverstand und auch den einfachsten Grundsätzen rationalen Denken entgegensteht. Vielleicht findet sich die Erklärung schon beim alten Kant: „Es ist so bequem, unmündig zu sein“. Mehr steckt wohl nicht dahinter.