Was lernt man in der Schule?
Dumme Menschen sagen dumme Sachen. Das ist nichts Neues, und man hat sich inzwischen damit abgefunden, dass Menschen, die ein deutsches Gymnasium mit dem Abitur abgeschlossen haben, besonders dumme Sachen sagen. Oder will man sich vorstellen, dass eine gelernte Bäckereifachverkäuferin mit Gesellenbrief, die jeden Morgen um 6 Uhr hinter der Ladentheke steht, jemals öffentlich Buchstabengebilde wie: „kennt ihr die rockefeller/rothschild/illuminati/new world order conspiracy theories / alter das fickt meinen kopf“ in die Welt setzen oder sich über die „eklige weiße Mehrheitsgesellschaft“ äußern würde, die ihr 20 Jahre lang Lebensunterhalt, Schule und Studium finanziert hat? Einer frisch gewählten Bundessprecherin der „Grünen Jugend“ konnte man unlängst derartige im jugendlichen Übereifer per Twitter verbreitete Äußerungen vorhalten, was wiederum ein paar erregte Wellenschläge in der Medienlandschaft verursacht hat.
Worüber man sich da aufregen konnte, ist allerdings nicht ganz klar. Denn die jugendliche Twitterin bewegt sich durchaus im Rahmen des in ihrem Milieu Üblichen. Sie selbst hat sich ihre eigene Sicht der Dinge zurechtgelegt: Die Kritik an ihr sei nur dadurch erklärlich, dass Rechte „Bammel vor einer schwarzen, linken Frau“ hätten. Dass im Deutschland des 21. Jahrhunderts wieder politische Diskussionen über die Hautfarbe geführt werden würden, hätte man sich vor 20 Jahren auch nicht träumen lassen.
Aber man muss doch die Frage stellen, was die „schwarze, linke Frau“ eigentlich in der Schule gelernt hat. Die neue Bundessprecherin hat ein Gymnasium in Nordrhein-Westfalen erfolgreich absolviert. Im „Kernlehrplan Deutsch“ für die gymnasiale „Sekundarstufe I“ ist niedergelegt, was auch 13- und 14-Jährige können müssen, nämlich „eigene Urteile in mündlicher und schriftlicher Form sachbezogen begründen“ und „orthografisch und grammatisch normgerecht schreiben, mündliche Beiträge artikuliert, verständlich und sprachlich korrekt gestalten, einen zunehmend differenzierten Wortschatz funktional einsetzen“. Und wenn man ihr heute zugute hält, sie sei das unschuldige Opfer eines Medium geworden, „das nichts vergisst“, dann hilft auch hier ein Blick in den Lehrplan weiter: „Neben Medienanalyse und ‑kritik stehen die bewusste Mediennutzung und Mediengestaltung im Mittelpunkt“. Da ist wohl in der schulischen Ausbildung der heutigen Bundessprecherin einiges schief gelaufen. Vielleicht aber auch nicht. Denn zum Leitbild der besagten Schule gehört auch, dass sie die Schüler „in ganzheitlicher Hinsicht befähigt, ihre persönliche Zukunft zu gestalten“.
Um die persönliche Zukunft der Jungpolitikerin muss man sich wiederum keine Sorgen machen. Sie gehört zur politischen Führungsreserve der Bundesrepublik. Wie es weitergeht, ist leicht vorhersagbar, wenn sie erst einmal ihren ekligen weißen Nachnamen abgelegt hat: Das Soziologie-Studium wird langsam versickern, aber vielleicht springt doch noch irgendwo ein Bachelor in „Völkerrecht“ heraus. Vorher wird die Bundessprecherin eine Stelle im Büro einer Abgeordneten in Brüssel oder sonst wo bekommen, danach in irgendeiner Landesregierung Diversitätsbeauftragte oder auch Staatsekretärin werden, später in den Bundestag einziehen, vielleicht auch Vizepräsidentin werden, wenn sie es nicht vorzieht, viel besser dotierte Lobbyistin eines Windkraftanlagen‑ oder Elektromobilitätsverbandes zu werden. Eigentlich schade um die teure Schulbildung, aber jeder hat das Recht, dumme Sachen zu sagen und sich eine Partei auszusuchen, in der man damit Karriere machen kann.
Politdadaismus
Voraussetzung für solche Karrieren ist die Beherrschung der richtigen Sprache. Das ist nicht mehr die deutsche Sprache. Es ist vielmehr ein Politolekt, der seinen eigenen Regeln gehorcht und von dem die Bundessprecherin mit ihren Twitterbeiträgen schon in jungen Jahren eine Leistungsprobe abgelegt hat. Diese Sprachvarietät gehört zu den Sondersprachen sozialer Randgruppen wie der französische Argot oder das untergegangene deutsche Rotwelsch. So ist eine politische Gaunersprache entstanden, die ihre eigenen Regeln, ihren eigenen Wortschatz und ihren eigenen Code hat. Denn wer weiß schon und wer will überhaupt wissen, was das alles bedeutet: BPoC , BIPoC, FLINTA, PoC, TERF, SWERF, trans*, woken , Call-Out-Culture, LGBTI, BLM, BDS, FfF, cis und trans? Das klingt wie Politdadaismus, wie die anarchischen sprachschöpferischen Spielereien der dadaistischen Bewegung um 1920. Aber der aktuelle Politdadaismus ist das Gegenteil. Er meint es bitter ernst. Diese Sprache braucht keine Grammatik und keinen Wortschatz mehr; zur Verständigung reichen ihr die geheimen Kürzel, mit denen man Übereinstimmung signalisiert.
Diese Sprache sucht nicht die Kommunikation, geschweige denn die Argumentation, und sie unternimmt nicht einmal den Versuch, offensichtlichen Unsinn zu vermeiden. So kann es passieren, dass eine weiße Person Schwarz, nicht aber schwarz sein kann oder so ähnlich. Es hat etwas Rührendes, wenn längst randständig gewordene Journalisten der älteren Schule versuchen, die vielen sich kreuz und quer überlappenden und sich durchaus auch bekämpfenden neuen Bewegungen auf ihre Widersprüche hinweisen, darauf aufmerksam machen, dass die neuen Bewegungen sich selbst der Methoden bedienen, die sie bekämpfen, dass sie einen umgekehrten Rassismus und einen nicht einmal umgekehrten antisemitischen Linksfaschismus weit über ihre eigenen Kreise hinaus salonfähig machen – das alles liegt so auf der Hand, dass es kaum der Erwähnung bedarf. Aber genauso offensichtlich ist, dass es die Betroffenen nicht im Geringsten interessiert. Sie streben nach Macht, aber in erster Linie sind diese Bewegungen simple Verteilungskämpfe – man will möglichst große Stücke von einem Kuchen, den man nicht selbst gebacken hat.
Diese neue Sprache hat die viel umkämpfte Gendersprache längst hinter sich gelassen. Wer sich heute noch an der Gendersprache abarbeitet, kämpft an der falschen Front. Der inzwischen durch den Doppelpunkt ersetzte Genderstern nebst Glottisschlag ist ein Erkennungsmerkmal mittelalter weißer Karrierefrauen in akademischen Milieus und ihrer willfährigen männlichen Entourage. Gendern ist eine Form der Selbststigmatisierung; man bekennt sich damit zu einer akademischen Milieuschädigung, und gibt sich als Angehöriger einer kleinen sozialen Minderheit zu erkennen, die nur dort überlebensfähig ist, wo die Existenzgrundlage durch staatliche Alimentierung gesichert ist.
Die Gendersprache ist gewiss lästig, sie ist invasiv, sie stellt Herrschaftsansprüche gegenüber dem Alltag. Aber am Ende ist sie doch nur eine ephemere Verirrung des Zeitgeistes. Die neue grüne Sprache eines totalitären Neorassismus ist hingegen wirklich gefährlich. Sie ist konfrontativ und exkludierend. Ihr Ziel ist nicht die Mitteilung und nicht die Kommunikation mit anderen; ihr Ziel ist im Gegenteil die Abschottung nach außen, die Kommunikationsverweigerung.
Begriffe fälschen
Die neue politische Sprache kennt nur wenige Anschlussstellen an die Alltagssprache des normalen Bürgers. Dabei handelt es sich um einige Schlüsselbegriffe, deren Sinngehalt bis zur Unkenntlichkeit verzerrt oder gleich in ihr Gegenteil verkehrt wird – an vorderster Stelle die Wörter „Rassismus“ und „Faschismus“. Sie sind der binäre Code, mit dem sich in einer beschränkten Zahl von Variationen das gesamte politische Denken dieser Bewegungen lückenlos ausdrücken lässt.
Die digitalen Medien mit ihren ins Endlose erweiterten Nutzungsmöglichkeiten bei gleichzeitig radikal reduzierten Ausdrucksmöglichkeiten haben die politische Sprache auf eine neue Basis gestellt. Aber die Techniken sind die alten geblieben. Politische Manipulation durch die Umdeutung oder schiere Fälschung von Begriffen ist kein neues Phänomen. Victor Klemperer hat in seinem stilprägenden Buch LTI über die Sprache des „Dritten Reichs“ gezeigt, wie Massenmanipulation durch die politische Umdeutung von Wörtern funktioniert. In den deutschen Nachfolgegesellschaften haben diese Begriffsfälscher gelehrige Schüler gefunden. Neben den notorischen Politikern, Journalisten und Juristen hat sich auch der Bundesverfassungsschutz zu einer Art Philologenverein gewandelt, der die Öffentlichkeit darüber aufklärt, was Wörter wirklich bedeuten: Wer das Vokabular des deutschen Grundgesetzes ohne ausdrückliche Distanzierung benutzt, wird zum Verdachtsfall, weil er die „Grenzen des Sagbaren“ ausweitet. Damit steht die ganze abendländische Kultur unter Beobachtung des Verfassungsschutzes – denn die herausragenden Philosophen und Schriftsteller im Europa der vergangenen zweieinhalbtausend Jahre haben nichts anderes gemacht als genau das: die „Grenzen des Sagbaren“ auszuweiten.
Die politische Sprache der Gegenwart macht hingegen das Gegenteil: Sie verengt die Räume des Sagbaren. Die epochalen politischen Fehlentwicklungen der vergangenen Dekade, die Asylpolitik, die Energiewende, die EU- und Währungspolitik, die Corona-Politik wären nicht möglich gewesen ohne die Vorarbeit in den politischen, juristischen und medialen Begriffsfälscherwerkstätten und ohne dass der Bevölkerung das logische Denken und das sinnhafte Sprechen abtrainiert worden wäre.
Sprache ohne Sinn und Form
Dass eine ganze Schülergeneration sich jetzt anschickt, in das Erwachsenenleben und in politische Führungspositionen einzutreten, ohne einen angemessene sprachliche Ausdrucksfähigkeit erreicht zu haben, hat etwas Beunruhigendes. Nun wäre es nicht ganz richtig, die politische Sprachunfähigkeit oder Sprechunwilligkeit nur bei der nachwachsenden akademischen Generation zu suchen. Neu ist nur, dass sie ihre Unfähigkeit ostentativ zur Schau stellt und sie geradezu zum Kriterium von Politikfähigkeit erhebt. Die nachwachsende Politikergeneration hat offensichtlich, ganz ähnlich wie ihre Medienkollegen, das Privileg, alt werden zu dürfen ohne erwachsen werden zu müssen.
Es geht aber auch anders. In der politischen Sprachlandschaft der Bundesrepublik nimmt sich der künftige grüne Vizekanzler aus wie ein bunt schillernder Paradiesvogel unter schwerblütigen Brauereipferden. Er schreibt auch Bücher, und zwar ganz alleine. 2018 klärt er die Öffentlichkeit in einem solchen Buch darüber auf, „warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht.“ Hier kann man lesen: „Ein Aushalten der Offenheit, um politisch überhaupt gegenwärtig zu sein und unsere Zeit nicht nur als absurd zu erleben, aber eben auch eine neue Gründung des gesellschaftlichen Ausgleichs.“ Was das wohl heißen mag? Irgendetwas fehlt in diesem Satz: Ein Subjekt? Ein Prädikat? Ein Nomen? Ein Verb? Der Sinn? Es klingt besser, ist aber kaum sinnhaltiger als das, was die grüne Jugendvorsitzende mit ihrem Twitter-Gestammel mitzuteilen hat.
Dass er mehr kann als das ihm von seiner Mitvorsitzenden bescheinigte Kühemelken, hat der prospektive Vizekanzler in seinem neuen Buch gezeigt: „Von hier an anders“. Der Titel verrät, worum es geht: um nichts. Zu diesem Nichts gehören die „gefühlten Wahrheiten“. Gemeint sind damit die anderen, die Populisten, die Abgehängten, das „Pack“, die „deplorables“, die „sans dents“, wie sie im internationalen Jargon der globalen Eliten heißen. Diese Unverblümtheit ist aber nicht die Sache des Buchautors; sie fände heute auch nur noch wenig Beifall. Seine in Watte gepackten Begriffsfälschungen und Sinnenteignungen treten vielmehr in freundlicher Harmlosigkeit auf. Man kann ganze Regionen deindustrialisieren, ganzen Bevölkerungsschichten die Arbeit und ihr Dieselfahrzeug nehmen, die Energiepreise in unbezahlbare Höhe treiben – aber im Gegenzug schreibt man dicke Bücher darüber, dass es wichtig ist, den so Deklassierten „Respekt zu zollen“. Sein eigentliches Bedauern gilt aber den arbeitslos gewordenen Beschäftigten der maroden Windkraftindustrie, die aufs falsche Pferd gesetzt haben, weil sie sich trotz üppiger Staatssubventionen nicht gegen die chinesische Konkurrenz behaupten können. Sie seien die eigentlichen Verlierer, glaubt der künftige Vizekanzler, weil sie, anders als die entlassenen Bergarbeiter, sich nicht einmal mit dem Absingen des „Steigerlieds“ an eine ruhmreiche Berufsvergangenheit erinnern könnten.
Die Sprachlosigkeit der Politik
Das alles mutet reichlich skurril an. Aber man soll sich nicht täuschen. Die Gefahren, die von dieser politischen Sprachlosigkeit ausgehen, kann man gar nicht überschätzen. Politisches Handeln, eigentlich jedes verantwortliche Handeln in einer modernen Gesellschaft, erfordert die Fähigkeit, nicht nur korrekte, sondern auch komplexe Sätze zu schreiben, mit ihnen einen Sachverhalt klar auszudrücken, Gedanken zu entfalten, eine Argumentation zu entwickeln, die richtigen Wörter zu finden, die angemessene Stilebene zu erkennen und in der sprachlichen Formulierung von den eigenen Erlebnissen Abstand zu gewinnen. Das schließt Emotionen nicht aus. Noch Max Weber wünschte sich beim Politiker „Leidenschaft“, und nicht von ungefähr gehören die Techniken zur Erregung der Affekte zu den gewichtigsten Instrumenten der klassischen Rhetorik, die zweitausend Jahre lang die öffentliche Rede im Abendland geprägt hat. Aber gemeint waren die kontrollierte Leidenschaft und die gebändigten Affekte, nicht die besinnungslose Wut, die aus Sprachohnmacht erwächst und von der aus es nur noch ein Schritt ist bis zur brutalen Gewalt. Die Stichwörter heißen Berlin, Leipzig, Hamburg. Die Neigung zur politischen Gewalt kann nicht überraschen, wenn die zivilisierende Kraft einer form- und normgerechten Sprache verloren gegangen ist.
Die bedeutende, weil immer etwas sperrige Philosophin Hannah Arendt hat politisches Handeln als genuin sprachliches Handeln bestimmt: „Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind“ – im Umkehrschluss hieße das ja wohl, dass der Politik fernbleiben solle, wer nicht zur Sprache begabt ist. Damit wäre gleich das aktuelle Problem des übergroßen Bundestags gelöst. Politiker handeln durch Sprache, anders geht es nicht; sie handeln durch Diskussionen, durch Streitgespräche, durch Gesetze, durch Verordnungen, durch Verwaltungsakte. Und in einer Demokratie müssen die Bürger an diesem sprachlichen Handeln uneingeschränkt teilnehmen können. Wer sich der Sprache verweigert, schließt sich aus dem politischen Diskurs aus ebenso wie aus der Gesellschaft mündiger Bürger. Eine Gesellschaft, der die Fähigkeit zum Sprechen genommen wird, ist eine in ihrem Kern gefährdete Gesellschaft. Wo die Sprache abstirbt, stirbt auch die Idee des Politischen.