Stilfragen: Die Visitenkarte der Demokratie

„Le style est l‘homme même“ – „Der Stil ist der Mensch selbst“ – schrieb der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Das ist lange her. Wenn man diesen Maßstab an das Auftreten der aktuellen deutschen Politikergeneration anlegen würde, könnte man zum Misanthropen werden. Denn auch die Demokratie hat ihren eigenen Stil, sie hat ihre Sprache, ihre Umgangsformen, ihre Rituale, schmucklos vielleicht alles in allem, aber doch sinnstiftend. Wer die Rituale missachtet, missachtet den Geist der Demokratie.

Der deutsche Bundestag hat bislang 24 Mal einen Bundeskanzler gewählt. Nach dem Wahlvorgang am 8. Dezember 2021 wurde der Abgeordnete Scholz von der Bundestagspräsidentin gefragt, ob er die Wahl annehme. Der frisch Gewählte blieb auf seinem Abgeordnetenplatz sitzen und murmelte etwas, was wohl erwartungsgemäß „Ja“ heißen sollte, aber für das Publikum nicht zu verstehen war. Diese Wahl vom Dezember 2021 dürfte die erste gewesen sein, bei der der neu gewählte Kanzler es nicht für nötig hielt, aufzustehen und in einem vollständigen Satz zu antworten. Als sein Parteigenosse Helmut Schmidt 1976 gewählt worden war und auf die gleiche Frage antwortete, stand er auf, wie sieben der acht anderen gewählten Kanzler auch, wandte sich dem Fragenden zu und erklärte mit klarer Stimme und ganz ohne Grinsen: „Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.“

Zwei Monate später wurde der neue Bundespräsident gewählt – genauer: der amtierende wurde nach allerlei Vorabsprachen mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Die Wahl des Bundespräsidenten erfolgt durch die Bundes­versammlung, die nur für diesen einzigen Zweck einberufen wird. Eine der ältesten und größten deutschen Regionalzeitungen, Heinrich Heine hat einst für sie geschrieben, kommentierte die Wiederwahl des Präsidenten mit der Feststellung, das Amt habe mit ihm „an Frische gewonnen, ist moderner geworden“. Das kann man so sehen, auch wenn es falsch ist. Einen Schandfleck habe die Wahlversammlung aber gezeigt: Die mitwählende „Rapperin Lady Bitch Ray“ werde immer noch „wegen ihres Lebensstils als bunter Vogel belächelt“, und das sei ein Zustand „wie im Mittelalter“. Der Kommentator fordert nun, die Bundesversammlung müsse „in Zukunft viel stärker die Vielfalt unserer Gesellschaft abbilden.“

Das muss sie keineswegs. Die Bundesversammlung muss den Bundespräsidenten wählen. Und speziell bei diesem Amt sind die Formen alles. Wenn der Unterschied zwischen der Wahl eines Verfassungsorgans und einer Karnevalsveranstaltung mit bloßem Auge nicht mehr erkennbar ist, dann hat der Staat, der durch den so Gewählten repräsentiert werden soll, ein Problem.

Das alles sind Verfallsymptome einer Demokratie, die ihre juristischen Regeln zwar gerade noch so, und das auch nicht immer, beachtet, ihren eigenen rituellen Formen aber Verachtung entgegenbringt.

 

Zivilisationsverluste: „Ein jegliches Ding hat doch Regeln“

Nun kann man sagen, die Zeiten ändern sich eben und das sei auch gut so. Das ist sicher richtig. Die Zeiten ändern sich, aber ob das immer gut ist, muss von Fall zu Fall jeweils neu bedacht werden. Johann Heinrich Voß, der Schulrektor und Homer-Übersetzer, hat im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die bürgerliche Lebenswelt in Hexametern veredelt und dabei die einfache Grundregel dieser Welt ausgesprochen: „Ein jegliches Ding hat doch Regeln“. In diesen Regeln drücken sich soziale Distinktionen aus, jene berühmten „feinen Unterschiede“, denen Pierre Bourdieu erhellende Untersuchungen gewidmet hat. Aber die Regeln erleichtern auch das Zusammenleben, sie schaffen Routinen und damit Verhaltenssicherheit im alltäglichen Umgang ebenso wie in Ausnahmesituationen.

Im vergangenen halben Jahrhundert, seit den 1960er Jahren, haben die Umgangs­formen in den westlichen Gesellschaften einen einzigartigen Informa­lisierungsschub erfahren. Die Formen haben sich gelockert, Grußrituale sind verschwunden, Bekleidungsvorschriften sind flexibler geworden. Mit den Migrationswellen der letzten Jahre sahen sich die Bundesbürger dann auch noch der politischen Aufforderung ausgesetzt, das „Zusammenleben täglich neu auszuhandeln“, weil auch die letzten Reste bürgerlicher Umgangsformen und Verhaltensweisen interkulturell keinen Bestand mehr haben sollten. Dieser Abbau tradierter Umgangsformen wird allseits gefeiert als Schritt zur großen Befreiung, als Emanzipationsschub auf dem Weg zu einer egalitären Gesellschaft, die keine Rangunterschiede und keine Privilegierungen mehr kennt und die alle lästigen formalen Zwänge abgestreift hat. Speziell in akademischen Milieus herrscht eine Duzkumpanei, als ob universitäre Einrichtungen so etwas Ähnliches seien wie ein schwedischer Möbelhändler.

Aber der Schein trügt. Hinter der egalitären Fassade verbergen sich hoch­ideologisierte neue Regelwerke, die nicht zu kennen oder zu missachten mit sozialer Ächtung oder, im Universitätsbereich, mit schlechten Noten geahndet werden. Den Genderstern sollte man nie vergessen, und wer ein falsches Wort aus der immer länger werdenden Liste des index verborum prohibitorum benutzt, wird die Grenzen des Sagbaren schnell aufgezeigt bekommen.

Diese Entwicklung hat auch die Politik erreicht. Als der bayerische Ministerpräsident im September 2019 eine kleine Schar klimabewegter Aktivisten bei einer PR-Aktion auf der Zugspitze antraf, stellte er sich mit den Worten vor: „Ich bin der Markus. Ich find‘ das gut, was ihr macht“. Ob die so Angesprochenen „den Markus“ ihrerseits gut finden, weiß man nicht. Wählen werden sie ihn sicher nicht. Ein aufmerksamer Beobachter – nicht zufällig ein Sprachwissenschaftler, der qua Amt etwas vom Sinn der Formen versteht – hat ausgezählt, wie viele männliche Bundestagsabgeordnete der beiden letzten Legislaturperioden sich im Bundestags-„Kürschner“ mit Krawatte abbilden ließen. Von den 479 Männern – vielleicht sind es auch nur 478, das weiß man nicht so genau – der aktuellen 20. Wahlperiode haben sich die Krawattenträger gegenüber der vorherigen Legislaturperiode von 64 Prozent auf 41 Prozent verringert. Wer sich von dieser Uniformität absetzen will, muss schon etwas Besonderes bieten. Der aktuelle Vizekanzler tritt deshalb gerne, zum Entzücken der Hauptstadtjournalistinnen, ungekämmt, unrasiert, krawattenlos und mit Löchern in den Socken vor die Medien. Das soll die Botschaft vermitteln: Ich bin so wie ihr. Aber so sind wir nicht

Wie man mit Kleidung Politik inszeniert, hat in der Bundesrepublik als erster der spätere Außenminister Josef Fischer demonstriert: Zu seiner ersten Vereidigung als hessischer Umweltminister am 12. Dezember 1985 trug er weiße Turnschuhe und versetzte damit das Land in Erregung. Den Turnschuhen folgte Helmut Kohls Strickjacke, die dann durch Gerhard Schröders Brioni-Anzüge und Cohiba-Zigarren abgelöst wurden. Angela Merkel hatte wiederum einen anderen Stil gefunden. Der ewig gleiche Blazer mit wechselnden Farben, die eigentlich an ein Chamäleon hätten erinnern können, stieß auf einhellige mediale Zustimmung. Kritischere Stimmen amüsierten sich darüber, dass diese Kleidung die Ausstrahlung einer Playmobil-Figur habe und sie übersahen, dass es sich hier um ein Vexierbild handelte: Statt einer Playmobil-Figur konnte man auch jene Mao-Jacken assoziieren, mit denen in den späten 1960er Jahren die Roten Garden durch das Land zogen und die chinesische Kultur verwüsteten.

Ihre Wunschnachfolgerin im Bundeskanzleramt, bei der es dann doch nur zur Außenministerin gereicht hat, setzt modisch andere Akzente, wie ihr einschlägig sachkundige Journalistinnen bescheinigten: „Und nicht nur modisch hat der Baerbock’sche Mantel das Zeug zum It-Piece, sondern auch symbolisch: Der Farbton und der schmale, figurnahe Schnitt vermitteln Kompetenz, Souveränität und Selbstbewusstsein, der Ledergürtel in der Taille wirkt kämpferisch, die verspielten Puffärmelchen offenbaren ein Auge fürs Detail, der extravagante Kragen eine Begeisterungsfähigkeit für ungewöhnliche Ansätze. Kurzum: Der ideale Mantel für den Anlass.“

 

Maskeraden der Macht

Die neue deutsche Außenministerin hat ziemlich schnell eingesehen, dass ihre kom­munikativen Fähigkeiten, gleichviel ob auf Deutsch oder Englisch, zwar für einen kometenhaften Aufstieg im eigenen politischen Biotop völlig ausreichend sind, aber auf internationaler diplomatischer Bühne eher unzulänglich wirken. Machtsicher hat sie erkannt, dass sie besser auf ihre Berater im Außenamt hört und ihre Botschaften von Zetteln abliest oder auswendig lernt. Besonders gut beraten war sie allerdings nicht, als sie sich bei ihrem Besuch im ukrainischen Dorf Schyrokyne mit einer recht kleidsamen blauen Thermojacke, blauer Schutzweste und Kampfhelm im militärischen Flecktarn sowie, ganz wichtig, mit einer farblich abgestimmten FFP2-Maske präsentierte.

Die Botschaft war eher nach innen als nach außen gerichtet. Den Adressaten jenseits der Grenze hat es jedenfalls offenkundig nicht beeindruckt. Er wird wissen, dass sich hinter der martialischen Ausrüstung eine „feministische Außenpolitik“ verbirgt und dass die Bundeswehr, die der militärischen Drohgebärde Substanz verleihen könnte, ihre eigentlichen Kompetenzen eher auf dem Feld der Familienfreundlichkeit und Gendergerechtigkeit sieht. Und wer die Propagandisten einer „no borders“-Ideologie in außenpolitische Spitzenpositionen befördert, muss sich nicht wundern, wenn das Beharren auf der Achtung bestehender Grenzen nicht sonderlich ernst genommen wird. So richtig stilsicher war der martialische Auftritt jedenfalls nicht. Er ergab eher ein Bild rührender Hilflosigkeit. Denn wenn den politischen Symbolen keine Realität entspricht, sie keinen Sitz im Leben haben, wirken sie schnell komisch.

Aber Mitleid ist keine Kategorie auf dem internationalen politischen Parkett. Hier spricht man die symbolische Sprache der Macht. Dass außerhalb des EU-Biotops andere diplomatische Gepflogenheiten herrschen, wurde in jüngster Zeit immer mal wieder vorgeführt: Der Potentat am Bosporus ließ in alter osmanischer Tradition die EU-Kommissionspräsidentin abseits auf dem Sofa Platz nehmen, der Herrscher imKreml empfing den deutschen Bundeskanzler an einem sechs Meter langen Tisch, weil der Kanzler sich nicht hatte testen lassen wollen – was er übrigens seinen eigenen Bundesbürgern täglich hunderttausendfach aufnötigt –, und ein ugandischer Außenminister ließ wiederum die EU-Präsidentin einfach stehen, als ob es sie nicht gäbe. Irritierend muss es in einschlägigen Kreisen wirken, dass eine Person of Colour in der Herrscherattitüde eines toxischen weißen Mannes auftritt.

Was die Potentaten hier inszenieren, sind nicht nur grobschlächtige Macht­demonstrationen, sondern auch Signale der Geringschätzung, wenn nicht der Ver­achtung. Das ist die Quittung dafür, dass Deutschland seit Jahren symbolisch wie faktisch an seiner eigenen Vulnerabilisierung arbeitet. Wer seine inneren Verhältnisse destabilisiert, seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unterminiert, seinen Mangel an Verteidigungsbereitschaft ausdrücklich dokumentiert, sendet Signale, die niemand missverstehen kann, der bösen Willens ist. Wer sich selbst nicht schätzt, wird auch von anderen nicht geschätzt. Das ist eine einfache anthropologische Wahrheit, die man in Afrika und Russland offensichtlich noch besser kennt als ein Westeuropa.

 

„Das tut man nicht“

Das Verschwinden tradierter Verhaltensformen und Wertvorstellungen hat ein Vakuum hinterlassen, das immer neue, immer kleinteiligere und immer bereichsspezifischere Regelwerke hervorgebracht hat. Jede Online-Plattform muss sich ihre eigene „Netiquette“ schaffen, von juristischen Monstren wie dem „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ ganz zu schweigen, um von sich fernzuhalten, was früher einmal durch die einfache Regel „Das sagt man nicht“ ein‑ für allemal geklärt war.

Die bizarren Regelwerke des Corona-Regimes haben in der deutschen Bevölkerung hohe Akzeptanz gefunden. Corona hat Klarheit geschaffen. Jetzt endlich weiß man wieder, was man tun darf und lassen muss: Abstand halten, Hände waschen, Maske tragen. Man bekommt gesagt, wen man wie begrüßt und mit wem man nicht mehr sprechen darf, wann man ausgehen darf und wann man zu Hause bleiben muss. Soziale Teilhabechancen werden reguliert durch den Impfstatus, der in sich wieder abgestuft ist durch eine Hierarchie der Impfstoffe und der Zahl der Impfvorgänge.

Aber so dicht das Regelwerk auch ist – historisch gewachsene Konventionen kann es nicht ersetzen. Wenn die einfachen Regeln des „Das tut man nicht“ außer Kraft gesetzt sind und fallweise durch komplizierte Regelwerke ersetzt werden müssen, öffnen sich alle Schleusen, soziale Hemmschwellen werden abgebaut, Schamgrenzen verschwinden. Im Zuge der Corona-Pandemie sind Personen an die Spitze der politischen Verantwortungs­pyramide geschwemmt worden, von denen man nie geglaubt hätte, dass sie über das Schattendasein eines parlamentarischen Hinterbänklers oder einer Junior-Professorin hinauskommen könnten.

Es entstehen Freiräume für bizarre Verhaltensweisen der bundesdeutschen Funktionseliten. In der langen christlich-abendländischen Tradition war die Habgier, avaritia, eine der sieben Hauptsünden. Das gilt nicht mehr, und so können sich wertegeleitete Parteivorsitzende und Bundestagsabgeordnete mit fünfstelligen monatlichen Diäten eine zusätzliche Corona-Gratifikation von 1500 Euro zuschieben und ihr vollkommenes Unverständnis darüber bekunden, dass sie wegen solcher Bagatellen Rechenschaft ablegen sollen, wo sie doch gerade dabei seien, die Welt vor dem Klimatod zu retten.

Über die klassische Gier hinaus hat die Twitterkultur neue Möglichkeiten der sozialen Selbstdemontage eröffnet. Ende Februar 2022 wurde eine Videobotschaft öffentlich, von der man nicht glauben mochte, dass sie echt sein könnte. Eine W2-Virologin, Talkshow-Queen, Corona-Beraterin der Kanzlerin und jetzt Vizevorsitzende des neuen Expertenrates der Bundesregierung, wehklagte per Twitter-Video öffentlich darüber, dass ein Zugbegleiter der Deutschen Bahn AG ihren Fahrschein kontrollieren wollte, während sie mit der Bundeskanzlerin – der Bundeskanzlerin! – telefonierte. Die Virologin wurde 1972 in Neustadt am Rübenberge geboren, wo ihr offensichtlich niemand beigebracht hat, was sich gehört. Ihr sollte einmal jemand erklären, dass man vertrauliche dienstliche Gespräche nicht im Großraumabteil eines ICE führt und dass man im öffentlichen Raum keine Fäkalsprache benutzt.

Wer das Video gesehen hat, wird sich keine Illusionen über dieses Land mehr machen.