Die Friedensmüden in Kriegslaune

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief …“ – in seinem berühmten Gedicht „Der Krieg“ fasste Georg Heym die Stimmung in Deutschland vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges zusammen. Die zweite Marokkokrise von 1911 hatte den Deutschen ins Bewusstsein gebracht, dass die lange anhaltende Friedens- und Wohlstandsperiode brüchig geworden war. Drei Jahre später, im August 1914, zogen jubelnde Menschenmengen durch die deutschen Straßen, zehntausende von Amateurdichtern fassten in Zuschriften an die Presse ihre Kriegsbegeisterung in Reime, die Sozialdemokraten stimmten den Kriegskrediten zu und ein Kaiser erklärte feierlich: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Gymnasiasten zogen von der Schulbank weg dem Massensterben bei Langemark entgegen und etliche der Maler und Dichter des Expressionismus meldeten sich freiwillig an die Front.

Auch die Professoren wollten nicht abseits stehen. Sie entfesselten ihren eigenen „Krieg der Geister“, wie die Forschung das später genannt. hat. Am 4. Oktober 1914 erging ein Aufruf „An die Kulturwelt“, dem knapp zwei Wochen später die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ und danach noch Dutzende weitere Manifeste dieser Art folgten. Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler, auch solche von Weltrang, postulierten ihren Schulterschluss mit der Regierungspolitik. Hier wurde die Textsorte der Unterschriftenliste geboren, die sich bis heute größter Beliebtheit erfreut. Die Kriegsbegeisterung erschien 1914 umfassend, aber der Schein trügt. Diese Kriegsbegeisterung war ein Phänomen der akademisch geprägten Mittelschicht. Die Arbeiter waren nicht dabei. Sie wussten, wer die Zeche bezahlen musste.

Am Krieg in der Ukraine sind die Deutschen diesmal nicht beteiligt, aber gelegentlich gewinnt man den Eindruck, sie wären es gerne, und ein bisschen sind sie es auch. Wer Waffen an eine Kriegspartei liefert, ist selbst Kriegspartei, und die Hoffnung, der Gegner werde das schon nicht merken ist, trügerisch.

Putins Überfall auf die Ukraine hat die innenpolitischen Frontlinien in Deutschland gründlich durcheinander gebracht und neu sortiert. Mit einigem Aufwand war es gerade gelungen, die „Klimaleugner“ und die „Coronaleugner“ unter ein semantisches Dach zu bringen. Dass die „Putin-Versteher“ nicht auch noch diesem „Leugner“-Lager zuzurechnen sind, muss selbst dem schlichtesten Politiker- und Journalistengemüt einleuchten. Für die „Putin-Versteher“ musste eine eigene Kategorie eingerichtet werden, mit der neben dem „Leugnen“ jetzt auch das „Verstehen“ geächtet wird. Wer die Entwicklung des deutschen Bildungswesens in den letzten 30 Jahren beobachtet hat, den wird es nicht verwundern, dass das Nicht-Verstehen-Wollen und das Nicht-Verstehen-Können zur politischen Tugend erklärt wird. In der Pädagogik ist das schon lange so.

 

Laptophelden an der Heimatfront

„Inter arma silent Musae“ ­– „im Krieg schweigen die Musen“, wusste man schon im antiken Rom. Aber umso lautstärker melden sich heute die Kultur- und Wissenschaftsfunktionäre zu Wort, die es im antiken Rom noch nicht gab. Noch nie war es so einfach, Kriegsheld zu werden: Ein bisschen frieren und ein paar Unterschriften reichen aus. Und alle sollen mitmachen. Unablässig werden von Künstlern Unterwerfungsgesten und von Wissenschaftlern Ächtungserklärungen gegenüber ihren russischen Kollegen abgefordert. Den spektakulären Anfang machte der Münchener Oberbürgermeister, der unter dem Jubel der deutschen Qualitätspresse – „Münchner OB Reiter wirft Dirigent Gergijew raus“ freute sich das Intellektuellenboulevardblatt „Die Zeit“ – den russischen Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker wegen der Verweigerung einer öffentlichen Abbitte aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis fristlos kündigte.

Gergijew war nur der Anfang. Vertraglich vereinbarte Auftritte der Sopranistin Anna Netrebko wurden von mehreren Opernhäusern ebenfalls wegen der Nähe zu Putin abgesagt, bis sie endlich die geforderte Unterwerfungserklärung abgab. Ob sie in den nächsten Jahren noch einmal in ihre Geburtsstadt Krasnodar wird reisen dürfen? Am anderen Ende des Kulturspektrums erklärte nach langen Wochen des Zögerns die im russischen Krasnojarsk geborene deutsche Schlagersängerin Helene Fischer öffentlich ihren Abscheu gegenüber dem Staatspräsidenten ihres Herkunftslandes und sicherte sich damit die Möglichkeit zur weiteren Berufsausübung. Die Aktion des Münchner Oberbürgermeisters wirkte stilbildend. Die Stadt Hannover forderte ihren Ehrenbürger Altbundeskanzler Schröder nach einer Woche auf, die Würde zurückzugeben; bei Reichskanzler Adolf Hitler und dem Reichserziehungsminister Bernhard Rust hatte die Stadtverwaltung sich damit 33 Jahre lang Zeit gelassen.

Mit dem Ukraine-Krieg haben auch die deutschen Universitäten wieder eine Gelegenheit gefunden, sich zu blamieren. Rund 90 der gut 100 echten Universitäten – nicht gerechnet also die zahllosen „Universities“, Hochschulen und Privatuniversitäten – haben beschlossen, die Zusammenarbeit mit russischen Kollegen, sogar auch Kolleginnen, zu verweigern. In Bayern wurden die Universitäten und Hochschulen aufgefordert, die 139 Kooperationsverträge mit Partner-Hochschulen in Russland nicht mehr einzuhalten, die 30 Kooperationen mit russischen Forschungseinrichtungen nicht weiterzuführen sowie den Studentenaustausch mit Russland einzustellen. Die Hochschulen greifen die staatlichen Empfehlungen gerne auf und brechen alle „Beziehungen zu wissenschaftlichen Einrichtungen, staatlichen Institutionen und Unternehmen in Russland und Belarus“ bis auf weiteres ab.

Ob sich jemand einmal Gedanken darüber gemacht hat, wie das weitergehen soll? Es wird eine Zeit nach dem Krieg, auch eine Zeit nach Putin geben. Glaubt man ernsthaft, man könne dann so tun, als ob nichts gewesen wäre? Und wer, wenn nicht Künstler und Wissenschaftler,  soll denn die Fäden in der Hand behalten, aus denen man später wieder ein Netz knüpfen kann?  Der „Krieg der Geister“ im Ersten Weltkrieg hat bis weit in die Nachkriegszeit verheerende Folgen für die Internationale Wissenschaft gehabt. Die Lektion sollte man gelernt haben.

Die Vorstellung, dass es auch in Russland Wissenschaftler und Künstler und überhaupt russische Bürger gibt, die den Angriffskrieg ihres Präsidenten nicht billigen und die einfach nur in Frieden ihrer Arbeit nachgehen wollen, ist dem gesinnungsstarken Wissenschafts- und Kulturbetrieb in Deutschland völlig abhandengekommen. Immerhin haben in Russland 7000 Wissenschaftler eine Erklärung gegen den Angriff auf die Ukraine unterschrieben. Und eine solche Erklärung in Russland zu veröffentlichen ist etwas anderes als das gleiche in Deutschland zu tun.

„Pacta sunt servanda“, Verträge müssen eingehalten werden,  hatte einmal ein betont russlandfreundlicher bayerischer Ministerpräsidenten postuliert und damit eine der Prämissen wirtschaftlichen und politischen Handelns benannt. Das ist Makulatur. Heute hält man Verträge ein oder auch nicht, je nach tagespolitischer Wetterlage. Nüchtern betrachtet handelt es sich auch hier um einen Zivilisationsbruch. Keinen so barbarischen wie der Überfall Putins auf die Ukraine, aber doch die Preisgabe unverzichtbarer nationaler und internationaler Gepflogenheiten des alltäglichen Lebens.

 

„… und wir werden sie alle aufnehmen!“

Mit dem Krieg kamen die Flüchtlinge. Nach offiziellen Angaben des Innen­ministeriums sind im ersten Monat seit Kriegsbeginn 295 000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Die Außenministerin rechnet standesgemäß noch in ganz anderen Dimensionen: „Es werden acht bis zehn Millionen Geflüchtete kommen und wir werden sie alle aufnehmen“ erklärte sie am 26. März 2022 in Cottbus unter dem Beifall ihrer Parteifreunde und sicher nicht nur dieser.

Denn die Flüchtlinge aus der Ukraine lösten in Deutschland auf der Stelle die gut geölte Willkommensmaschinerie mit ihrer vielgerühmten „überwältigenden Hilfsbereitschaft“ aus. Auch die Schulen brachten sich in Stellung, um hunderttausende ukrainische Flüchtlingskinder aufzunehmen; Lehrerverbände brachten die ersten Zahlen ins Spiel. In Baden-Württemberg errechnet man einen Zusatzbedarf von 4000 Lehrern, bundesweit waren es 15 000 – das alles ohne irgend eine statistische Grundlage, da niemand weiß, wie viele Flüchtlinge gekommen sind, geschweige denn, wie viele noch kommen werden und wie viele bleiben werden.

Aber der Bundesvorsitzende des „Verbandes Bildung und Erziehung“ weiß eins genau: dass nämlich ein Teil der Flüchtlinge „dauerhaft in Deutschland bleiben will.“ Ob dem Wollen auch ein Dürfen entspricht, steht gar nicht mehr zur Debatte. Da musste es wie eine kalte Dusche wirken, als die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka diese Integrationsphantasien schlankerhand zurückwies: Sie wünschte sich eine „ukrainische Bildung“ an den deutschen Schulen, weil sonst die Flüchtlingskinder nicht nur „durch Putins Krieg“, sondern auch durch „Deutschlands Schutz“ ihrer ukrainischen Identität entfremdet würden. Nebenbei klang durch, dass der Leistungsstandard der deutschen Schulen nicht ganz ukrainischen Anforderungen entspreche. Besonders freundlich waren diese Bemerkungen gegenüber dem Gastland nicht, aber recht hat sie doch.

 

Der Krieg und seine Krieger

Ein moderner Krieg, so archaisch er auch ausgefochten wird, ist immer auch ein Medienkrieg. Und hier hat der ehemalige ukrainische Schauspieler zweifellos bessere Karten – und viel bessere Berater ­– als der ehemalige Geheimdienstoberst aus Russland. Die Reaktion des ukrainischen Präsidenten auf das amerikanische Angebot, ihn aus der Kriegszone herauszufliegen, war eine rhetorische Sentenz für die Geschichtsbücher: „The fight is here; I need ammunition, not a ride,“

Auch der Auftritt Selenskyjs vor dem deutschen Bundestag war ein Meisterwerk der politischen Propaganda, sorgfältig abgestimmt auf ein Publikum, das erwartungsgemäß die Rede mit großer Begeisterung entgegennahm – genauso wie am 25. September 2001 der Bundestag die Rede Putins umjubelte: „Anhaltender Beifall – Die Abgeordneten erheben sich“ verzeichnete das Protokoll. Der amtierenden Parlamentsvizepräsidentin hat man 2022 mit einhelliger medialer Empörung vorgeworfen, dass sie nach dem tosenden Beifall für den ukrainischen Präsidenten ungerührt zu „Tagesordnungspunkt 2: Geburtstagsglückwünsche“ übergegangen sei. Aber gerade dadurch wurde dieser 17. März 2022 zu einer Sternstunde des Berliner Parlaments. Denn weder in der Regierung noch im Parlament könnte man jemandem zutrauen, in dieser aufgepeitschten Stimmung einen kühlen Kopf zu bewahren. Man mag sich gar nicht vorstellen, was in einer spontan sich anschließenden „Aussprache“ über die Rede Selenskyjs für Dinge gesagt und zugesagt worden wären. Denn die Hilflosigkeit der deutschen Politik ist mit Händen zu greifen. Besinnungslos werden Milliarden und Abermilliarden versprochen und verausgabt, die niemand hat und die nie jemand zurückzahlen kann, Grenzen werden geöffnet, Waffen geliefert und niemand hat eine Ahnung davon, worauf er sich einlässt und wohin das führen kann.

Weder die Politik noch die Medien verstehen, was sich vor ihren Augen in der Ukraine abspielt, sie verstehen es so wenig, wie sie den Vietnam-Krieg, die Balkan-Kriege, den Afghanistan-Krieg, den Irak-Krieg verstehen konnten. Es stoßen völlig fremde Welten aufeinander. Aus deutscher Sicht muss der Krieg in der Ukraine wie ein archaischer Konflikt erschienen: Hier kämpfen Krieger für ihre Nation. Das ist der deutschen postheroischen Öffentlichkeit, Politikern wie Journalisten, ein völlig unverständlicher Vorgang.

Der deutsche Emigrant Sebastian Haffner wurde nach dem Krieg durch seine „Anmerkungen über Hitler“ berühmt. Weniger bekannt ist seine Churchill-Biographie. In ihr erklärt er beiläufig, warum die gutbürgerlichen Appeasement-Politiker Neville Chamberlain und Édouard Daladier im September 1938 mit ihrer Politik in der Münchener Arcisstraße gescheitert sind und warum der Kriegspremier Churchill nach fünf Jahren „Blood, Toil, Tears and Sweat“ zu den Siegern über Hitlerdeutschland gehörte: So sehr sich Churchill und Hitler in Bildungsstand und sozialer Herkunft unterschieden – beide waren Krieger, mental noch im vorigen Jahrhundert verwurzelt. Das ermöglichte es Churchill, Hitler zu verstehen und ihm so zu begegnen, dass Hitler ihn auch verstand. Und wer den Ukraine-Krieg verstehen will, muss sich klar machen, dass Selenskyj und Putin einander ähnlicher sind als jedem Politiker der westlichen Welt.

 

Politik ohne Verstand, Beamte mit Herz

Manchmal leistet sich die Geschichte böse Scherze. Offensichtlich hat es dieses Krieges bedurft, um der deutschen politisch-medialen Elite eine Ahnung davon zu vermitteln, dass mit der eigenen Politik der vergangenen 16 Jahre etwas nicht gestimmt haben kann. Die in diesen verlorenen Jahren aufgebauten Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen ballen sich jetzt zu einem einzigen Katastrophenbündel zusammen. Die Währungskrise, die Energiewende, die Zerrüttung der Verteidigungsfähigkeit, die Flüchtlingskrise 2015, die Corona-Krise, die neuerliche Flüchtlingskrise 2022 und die Flutkatastrophe haben deutlich gemacht, dass das politische Personal der Bundesrepublik nicht einmal mehr eine Ahnung davon hat, wofür es eigentlich da ist und welche Leistungen die Bürger von einem funktionsfähigen Staat erwarten dürfen.

In der Flüchtlingspolitik wird das auch diesmal am sinnfälligsten. In einer als seriös geltenden deutschen Regionalzeitung war am 11. März 2022 eine kurze Nachricht zu lesen. Ein „aus der Ukraine geflohener Student“ aus Marokko, der seine Verwandten in Nordrhein-Westfalen besuchen wollte und dafür seine Flucht per Zug über Polen und Salzburg nach München bewerkstelligt hatte, führte im Regionalexpress einen unangeleinten Kampfhund der „Kategorie I“ ohne Beißkorb mit sich. In Deutschland ist der Besitz und das Führen von Kampfhunden an strenge behördliche Auflagen und Bescheinigungen gebunden – in München, der Stadt der Philharmoniker, sind sie generell verboten. Keine dieser Auflagen war im gegebenen Fall erfüllt, geschweige denn, dass die zurzeit nochmals verschärften Quarantänebestimmungen wegen Tollwutgefahr beachtet worden wären. Dennoch ließen die Polizisten den Studenten unbehelligt weiterfahren – „in Kriegszeiten ist manches anders“, hieß es, und die Redaktion gab der Meldung die Überschrift: „Beamte mit Herz“.

Wer sich auch in diesen ernsten Zeiten den Sinn für Komik bewahrt hat, kommt hier auf seine Kosten. Aber ein Staat, der komisch wirkt, ist das letzte, was man jetzt brauchen kann.