Personalprobleme

Thomas Mann hat in seinem nobelpreisgekrönten Roman „Buddenbrooks“ 1901 eine alte Unternehmerweisheit auf 566 Seiten ausgebreitet und literarisch veredelt: Die erste Generation baut ein Unternehmen auf, die zweite bringt es zur Blüte und die dritte ruiniert es. Die vierte dann, Hanno Buddenbrook, erweist sich als so wirklichkeitsfern, dass sie nicht einmal ihr eigenes Leben mehr in den Griff bekommt.  Nicht anders ergeht es der Bundesrepublik im achten Jahrzehnt ihres Bestehens.

Als der Bundeskanzler im Dezember 2021 sein neues Kabinett vorstellte, stand eine einfache Frage im Raum: Wo kommen diese Leute her? Neben einigen allzu bekannten Gesichtern tauchten wie aus dem Nichts Personen in Ministerämtern auf, von denen man außerhalb einschlägiger Parteikreise noch nie etwas gehört hatte. Sie kamen, vom historisch beispiellosen Sonderfall des Gesundheitsministers abgesehen, deshalb zu ihren Ministerämtern, weil sich der Kanzler entschlossen hatte, anders als bei der Impfpflicht, sein Versprechen zu halten:  Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik sollte ein lupenreines Quotenkabinett die Geschicke des Landes lenken. Die Folgen dieser Personal­politik wurden schnell sichtbar: Eine Innenministerin, die sich verfassungsfernen Organisationen stärker verpflichtet fühlt als den Grund­rechten demonstrierender Bürger, eine Verteidigungsministerin, die auf Stöckel­schuhen durch den Wüstensand stolpert und eine Familienministerin, die nach drei Monaten im Amt plötzlich unter denkwürdigen Umständen und unter Mitnahme eines Übergangsgeldes von 75 000 Euro wieder weg war. Allzu viel Respekt dürfte der Kanzler übrigens selbst nicht vor seiner Regierungsmannschaft haben; er sprach von ihnen als  den „Jungs und Mädels“, die seiner Führung bedürften.

Und dann gibt es noch die Erniedrigten und Beleidigten, die nicht zum Zuge kamen und deshalb öffentlich die Arbeit der von ihnen selbst gewählten Regierung demontieren:  ein ehemaliger Fraktionssprecher der Grünen, eine Verteidigungspolitikerin der Freien Demokraten und ein Europapolitiker der Sozialdemokraten.

Das wirft die Frage nach den Rekrutierungsmechanismen des politischen Personals auf. Die innerparteilichen Aufstiegskämpfe sind eine harte Schule, die nicht zur Bestenauslese führt, eher im Gegenteil, die aber auch erst einmal absolviert und durchgestanden werden muss. Die erfordert aber andere Qualitäten als die Wahrnehmung eines politischen Amtes. Vom zweiten sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde die Aussage überliefert, dass man für ein Ministeramt keine besonderen fachlichen Vorkenntnisse, wohl aber eine überdurchschnittliche Intelligenz benötigt. Hier dürfte der eine Teil des Problems liegen.

Die empirische Demokratieforschung hat einige naheliegende Gründe für die Übernahme politischer Ämter feststellen können. Das edelste aller Motive ist die Möglichkeit, politische Vorstellungen „zum Wohle des deutschen Volkes“, oder, besser noch, „zum Wohle der ganzen Menschheit“ durchzusetzen, das wahrscheinlichste ist eher die erotische Attraktivität, die von der Ausübung politischer Macht ausgeht. Dazwischen liegt irgendwo das Geld, das man mit diesen Ämtern verdienen kann. In die empirische Forschung nicht einbezogen wurde die Möglichkeit, dass jemand politische Ämter anstrebt, weil er nichts anderes kann und auf dem regulären Arbeitsmarkt chancenlos ist.

 

Der neue Jugendstil

„Ihr müßt diese Typen sehen. Ihr müßt ihnen genau ins Gesicht sehen“, empfahl seinerzeit der sozialdemokratische Regierende Bürgermeister Berlins angesichts der APO-Demonstranten. Heute möchte man den Rat geben, der parlamentarischen Politikerelite einige wenige Minuten zuzuhören. In der noch sehr jungen Legislaturperiode hat es einige bemerkenswerte öffentliche Auftritte gegeben, die der näheren Betrachtung wert sind. Ins Kuriositätenkabinett der folgenlosen politischen Geschmacklosigkeiten gehören die Videoauftritte einer Gruppe junger FDP-Politiker, die sich vor der ethisch ja nicht ganz belanglosen Abtreibungsdebatte als tanzende Politclowns in den Gängen des Bundestags präsentierten ebenso das Karaoke-Desaster der frisch gewählten Bundestagspräsidentin, von der man weiß, wie sie in, aber nicht, wie sie an ihr Amt gekommen ist. Vielleicht kommt die Sympathie, die der ukrainische Präsident Selenskyj bei deutschen Politikern und Journalisten genießt, daher, dass er ihnen so ähnlich ist. Denn tanzen kann er auch.

Auch die jetzige  Bundessprecherin der Partei Bündnis90/Die Grünen hat ihre öffentliche Karriere mit einer programmatischen Tanzeinlage begonnen, die das alte Scherzwort mit Leben erfüllte, dass man seinen Namen wenigstens tanzen können solle, wenn man schon ein – in diesem Falle politischer – Analphabet ist.  Manchmal geht es aber in der deutschen Politik auch elaborierter zu. In der Berliner Enteignungsdebatte erklärt die zuständige Justizsenatorin – monatliches Grundgehalt 16118,19 Euro –, die der einschlägig vorbelasteten Partei angehört: „Man kann sehr wohl Fan dieses Grundgesetzes sein und trotzdem den Kapitalismus doof finden.“ Diese Aussage gewährt einen Einblick in das intellektuelle Niveau, auf dem heute Debatten geführt werden, die immerhin einen Kernbereich der Grundrechte berühren. In allen diesen Fällen  stellt sich wie so oft die Frage, was in den Köpfen dieser Akteure vorgeht. Die Antwort ist wahrscheinlich ganz einfach: Nichts. Sie tun einfach das, von dem sie annehmen, dass es von ihnen erwartet wird, weil es eben zeitgemäß ist. Die Anforderungen, die heute an Spitzenpolitiker gestellt werden, sind gering. Aber persönliche Reife sollte doch dazugehören.

 

Die schamlose Generation

„Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, heißt einer der Leitsprüche der abendländischen Philosophie, der dem griechischen Philosophen Protagoras zugeschrieben wird. Dass die Bundestagsabgeordnete Emilia „Milla“ Fester sich einmal als das Maß aller Dinge betrachten würde, war damals noch nicht abzusehen. Ihre vielbeachtete Erstlingsrede anlässlich der Impfpflichtdebatte im Bundestag am 17. März 2021 ist ein aufschlussreiches Zeugnis geistiger Unreife, von der man annehmen darf, dass sie zum Normalfall in der künftigen Politikergeneration werden wird.  Die Rede dauerte knapp vier Minuten, sie enthielt 496 Wörter und 28 Sätze, in denen 17mal  das Personalpronomen „ich“ vorkam. Die offenkundige Hysterie, mit der die Rede vorgetragen wurde, zeugt unverkennbar von Überforderung. Sie geht einher mit maßloser Selbstüberschätzung – beides Merkmale der Generation, die sich jetzt anschickt, Schlüsselpositionen in der Politik einzunehmen. Dieser Auftritt der jüngsten Bundestagsabgeordneten während der Impfpflichtdebatte im Deutschen Bundestag bietet reiches Anschauungsmaterial für den Jugendstil, der sich gerade in der Politik zu etablieren beginnt. Funktionieren kann das nur, wenn man gepanzert ist gegen alle Zumutungen, welche die Außenwelt bereithält.

Wenige Stunden nach ihrer Rede sah sich die Jungabgeordnete im  Netz und den sozialen Medien mit der Vorhaltung konfrontiert, dass ihre Behauptung, sie habe wegen der ungeimpften Volksschädlinge nicht ins Ausland reisen dürfen, durch ihre eigenen Posts widerlegt war. Im außerpolitischen Bereich würde man hier von einer Lüge sprechen. Im gegebenen Fall wurde dieser naheliegende Vorwurf indes von der Parteizentrale der Bundestagsabgeordneten von vornherein zurückgewiesen: Solche Vorwürfe seien sexistisch.

Aber es geht hier weniger um die politikübliche Diskrepanz zwischen Aussage und Wirklichkeit, sondern um die Diskontinuität in der Persönlichkeitsentwicklung. Die „Milla“  Fester, die im Sommer 2020 nach Dänemark gereist und das öffentlich per Instagram kundgetan hat, ist offensichtlich eine andere als die Bundestags­abgeordnete Emilia Fester, die behauptete, sie sei an einer solchen Reise gehindert worden. Man  wird künftig wohl öfter damit rechnen müssen, dass Politiker sich situationsgebundene ad-hoc-Identitäten zulegen, in denen jeweils das gilt, was gerade opportun erscheint. Die Vorstellung, dass man heute für etwas verantwortlich gemacht werden können, was man gestern gesagt oder getan hat, ist ihr so fremd geworden, dass sie sich nicht einmal mehr der Anstrengung des Lügens unterzieht.

Nicht minder, aber auf ganz andere Art aufschlussreich als die Rede der Jungabgeordneten war der gespenstische Auftritt der inzwischen nicht mehr amtierenden Bundes­familienministerin. Er demonstrierte nicht nur die komplette Unfähigkeit der Ministerin zur Einsicht in ihre eigene Unzulänglichkeit, sondern gewährte auch einen tiefen Einblick in das Amtsverständnis dieser Generation. Hier wurden schamlos privateste Familienverhältnisse vor der Öffentlichkeit ausgebreitet und als Entschuldigung für Versagen im Amt angeführt; es wurde über Urlaube und Terminkalender, über Teilnahme an Sitzungen und über die Erreichbarkeit am Telefon geredet. Über eins aber wurde nicht geredet: Über die Würde des Amtes, das die Ministerin innehatte.

 

Das Amt

Die Übernahme eines politischen Amtes erfolgt freiwillig. Aber mit ihr erlegt man sich Pflichten auf, die über die eines Arbeitnehmers in einem privatwirtschaftlichen Vertragsverhältnis weit hinausgehen. Zu diesen Pflichten gehört es, die „Würde des Amtes“ zu wahren. Das ist mehr als eine Phrase. Die Würde des Amtes gehört nicht nur zu einer langen Tradition der Legitimation vordemokratischer wie demokratischer Herrschaft, sondern auch zu den formalen juristischen Regularien, die mit der Übergabe eines politischen Amtes an eine Person verbunden sind. Wer ein Amt übernimmt, verpflichtet sich dem Gemeinwohl, bindet sich an die Idee des Rechtsstaates und vertritt die Wertvorstellungen der Gemeinschaft, die ihm das Amt anvertraut hat und die damit Verhaltenserwartungen an den Inhaber dieses Amtes verbindet.

Wenn unfähige Politiker ins Amt gewählt werden, muss man das hinnehmen. Das ist der Preis der Demokratie, und der ist nicht zu hoch. In der Regel kann man sich darauf verlassen, dass die vorgegebenen Strukturen eines Beamtenapparates, die Traditionen und Funktionalitäten einer eingespielten Behörde individuelle Fehlleistungen eines unzureichend qualifizierten Amtsinhabers austarieren oder zumindest im Rahmen halten. Das funktioniert meistens, aber nicht immer, wie der Fall des Bundesgesundheitsministers zeigt.

Die Außenministerin hingegen hat im Amt eine Wandlung vollzogen, die man ihr nicht ohne weiteres zugetraut hätte. Sie schweigt. Sie schweigt oder beschränkt sich darauf, vorzulesen, was erfahrene Diplomaten ihr aufgeschrieben haben. Das kann in dieser labilen weltpolitischen Lage nicht falsch sein, ist aber auch weniger, als man von der Außenministerin einer einflussreichen europäischen Nation erwarten dürfte. Aber immer funktioniert die bändigende Kraft des Amtes nicht. Im Bundestag kam unlängst die alte Annalena, die Kobold-Annalena, wieder durch: „Was sind eigentlich diese Tierpanzer, die vorher niemand kannte, und jetzt reden wir über Gepard, Leos und Marder?“ fragte die Außenministerin  im Namen des Volkes am 28. April 2022 und meinte die Bundeswehrwaffensysteme Gepard, Leopard und Marder, über deren Lieferung an die Ukraine gerade diskutiert wird.

Aber meistens ist die Einhegung minderqualifizierter Amtsträger durch den Apparat doch hinreichend erfolgreich. Das funktioniert aber nur dann und so lange, wie der Beamtenapparat und das ihm zugrunde liegende Ethos intakt sind. Aber genau diese Voraussetzung erodiert zusehends mehr. Die Bundesregierung, die gerade einmal vier Monate im Amt ist,  beabsichtigt nach Recherchen des öffentlich-rechtlichen Nachrichten­magazins „Report Mainz“ 758 neue Stellen in den Bundesministerien zu schaffen, zusätzlich zu den 2500 Stellen welche die alte Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode eingerichtet hat. Das dient in erster Linie der Versorgung jener grauen Schar von Trabanten, die den Aufstieg der Spitzenpolitiker begleiten und ermöglichen und die ihrerseits auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar sind. Dem Amtsverständnis wird das nicht gut tun.

 

Die Wirklichkeit

Politiker müssen sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, sie müssen sie gestalten, verändern. Dazu müssen sie sie erst einmal wahrnehmen und aushalten. Die Außenministerin hat den Kern des Problems erfasst, als sie nach dem Beginn des Ukraine-Krieges feststellte: „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“. Außerhalb politischer Kreise hat diese „andere Welt“ einen Namen. Sie heißt  „Realität“. Damit tun sich die mittlere und die jüngere Politikergeneration schwer. Denn inzwischen betritt eine Generation  die politische Bühne, der  in ihren ersten Lebensjahrzehnten die Begegnung mit der Realität komplett verweigert wurde. Die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft hat eine Lebensform ermöglicht, in der die Realität eine untergeordnete Rolle spielte, und die Pädagogik in den Schulen und Hochschulen hat das zum Programm erhoben. In der Ausbildung der Handwerks- und kaufmännischen Berufe  sieht das anders aus, aber deren Absolventen kommen in der Öffentlichkeit nicht zu Wort.

Dass diese Realitätsscheu für das politische Handeln der so aufgewachsenen Generation nicht ohne Folgen bleiben konnte, versteht sich. Auch in drängendsten Krisensituationen lässt sie sich von der Wirklichkeit nicht beeindrucken, mehr noch: Sie führt solche Krisensituationen auch noch mutwillig herbei, weil ihnen die Gesetze der natürlichen und sozialen Wirklichkeit in ihrer zerstörerischen Kraft fremd geworden sind und weil sie glauben, dass die moralisch unterfütterte Kraft der eigenen Ideale der normativen Kraft der Wirklichkeit überlegen sei: „Wir aber besitzen im Luftreich‚ des Traums | Die Herrschaft unbestritten“, schrieb Heinrich Heine einst über seine deutschen Landsleute. Das war spöttisch, aber auch wohlwollend gemeint. Die Deutschen hätten halt noch Ideale, wollte er damit sagen, die ihnen am Ende wichtiger seien als die graue Wirklichkeit politischer Machtverhältnisse. Der liberale Publizist und Politiker August Ludwig von Rochau hat 1853 den Begriff „Realpolitik“ in seinem gleichnamigen Buch eingeführt. Das Buch war Ausdruck einer Enttäuschung. Die idealistischen Hoffnungen der 1848er Liberalen hatten sich nicht erfüllt. Sie waren an der Wirklichkeit gescheitert.

Mit dieser Erfahrung werden die jetzt amtierenden Politiker der Bundesregierung und des Bundestags gerade schmerzhaft konfrontiert. Auf eine verdrehte Weise scheinen das die Aktivisten der nächsten, der vierten Politikergeneration, die sich „die letzte“ nennt – ein Versprechen, das sie nicht halten wird – verstanden zu haben. Wenn sie sich am Asphalt festkleben, dann demonstrieren sie jene Bodenhaftung, die ihrer Vorgängergeneration abhandengekommen war.