Körperphänomene

„Es ist der Geist, der sich den Körper baut“. Als Schiller seinen Wallenstein diese arg idealistische Vorstellung von der Überlegenheit des Geistes über den Körper aussprechen ließ, hatte er wohl anderes im Sinn als das, was heute daraus geworden ist. Er hätte sich sicherlich nicht vorstellen können, dass in der postmodernen Wohlstandsgesellschaft Menschen aus purer Langeweile anfangen würden, an ihrem Körper so lange herumzuschnitzen, bis er zwar nicht dem „Geist“, wohl aber dem Zeitgeist Genüge tut.

Der neue Körperkult ist zunächst einmal die Marotte einer durchtechnisierten Überflussgesellschaft, in welcher der Körper immer mehr an realer Bedeutung verloren hat. Für die Ausübung von schwerer Arbeit wird er kaum noch gebraucht; die digitalisierten Lebenswelten der Menschen werden immer weiter entmaterialisiert; der Umgang miteinander wird zunehmend körperlos; und unkalkulierbaren körperlichen Risiken sieht sich der Mensch in der modernen Wohlstands- und Vorsorgegesellschaft kaum noch ausgesetzt, auch wenn die Bedrohung durch fahrlässig ignorierte Naturgewalten oder die vernachlässigte Sicherung des öffentlichen Raums in letzter Zeit wieder zunimmt.

Dieser materiellen Entwertung des Körpers steht ein ideeller Körperkult gegenüber. Er drückt sich aus in neuen Körperpraktiken, in Tätowierungen, im Fitnesskult – ersatzweise im E-Bike-Fahren ­– und im Leistungssport, in der narzisstischen Sorge um den schönen und den gesunden Körper, aber auch in der durch Sex und Drogen gesteigerten hedonistischen Genusssucht. Zum Körperkult gehört nicht zuletzt die Lust an der Angst, die auf mehr oder weniger sublimierte Weise befriedigt werden kann, durch Extremsportarten, die Suche nach dem Abenteuer und dem Risiko. Die seltsame deutsche Kriegslüsternheit, die wieder Gefallen an der körperlichen Gewalt findet, gehört wohl auch dazu. In der Summe wird der Körper zu einem zentralen Medium der Sinnstiftung, die sich in den verschiedensten Lebenspraktiken ausdrücken kann.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Körperkult in der Politik Fuß fassen würde. Die gesellschaftspolitischen Grabenkämpfe an den Frontlinien des Migrationsgeschehens deuteten es schon an – körpernahe Fragen der Bekleidung und der Ernährung werden zu genuin politischen Fragen. Diese Kampfzone hat sich in den letzten Jahren unablässig ausgeweitet. Immer mehr Fragen der physischen Lebensgestaltung werden politisiert, die Art der Mobilität, Ernährungsgewohnheiten, selbst die Frage, wie man seine Wohnung heizt, sind inzwischen nicht mehr nur individuelle Entscheidungen über die eigene Lebensführung, mit denen soziale Unterschiede markiert werden, sondern sie haben eine erhebliche politische Durchschlagskraft erhalten.

 

 Postdemokratische Körperpolitik

Es gehört seit Jahrhunderten zu den Selbstverständlichkeiten westlicher Gesellschaftstheorie, dass sie die politische Auseinandersetzung als Kampf der Ideen und der besseren Argumente begreift. Voraussetzung dieser Entwicklung ist freilich, dass der Körper sozial unauffällig wurde, diszipliniert und gezähmt in langwierigen Sozialisationsprozessen. In einer Gesellschaft aber, die den Körper immer stärker ins Zentrum rückt, kehrt sich das wieder um. In ihr kann der Körper zum politischen Kampfinstrument werden, das jede rationale Form der Argumentation erübrigt. Am sinnfälligsten wird das bei jenen Klimaextremisten, die sich wort- und gedankenlos auf der Straße festkleben, um mit der puren Präsenz ihres physischen Körpers politische Ziele durchzusetzen, die mit Argumenten zu vertreten ihnen die intellektuelle Substanz fehlt. Aber der Körpereinsatz als Politikersatz muss nicht immer bedrohlich sein. Er hat auch seine skurrilen Seiten. Wenn Politikerinnen des Deutschen Bundestags ihre politischen Vorstellungen im Ausdruckstanz der Öffentlichkeit nahebringen, wie gerade wieder die im doppelten Wortsinne grünen Bundestagsabgeordneten Emilia Fester, Marlene Schöneberger und Saskia Lea Raquel Weishaupt in einem Instagram-Video, dann ist das in erster Linie komisch. Es sind Narreteien von Menschen, denen es aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit erspart geblieben ist, erwachsen werden zu müssen. Das muss man in einer Demokratie hinnehmen – gewählt ist gewählt, meistens wenigstens. Die Abgeordnete Weishaupt hatte allerdings, und das ist schon weniger komisch, ihre Nähe zu körperlichen Ausdrucksformen politischen Handelns im Dezember 2021 erkennen lassen, als sie den Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken statt Argumenten gegen Corona-Demonstranten forderte.

Es gibt viele Möglichkeiten, den Körperkult in die kleine Münze des politischen Alltagsgeschäfts umzusetzen und daraus Kapital zu schlagen. Auf vorbildliche Weise gelungen ist das der aktuellen Bundessprecherin der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“. Während eine ihrer prominenten Vorgängerinnen im Bundesvorsitz dieser Partei volkerzieherisch die Frage in Buchform beantwortete „Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen“, hat ihre aktuelle Nachfolgerin die Zeichen der Zeit richtig gedeutet und die eigene Körperfülle zu einem Instrument einer Karriere werden zu lassen, für die ihr alle anderen Voraussetzungen fehlen.

Und so geht es immer weiter. Die nächsten Anspruchsberechtigten aufgrund körperlicher Merkmale sind die People of Colour. Noch vor einem Jahrfünft wäre es undenkbar gewesen, dass die Hautfarbe in der politischen Diskussion in Deutschland wieder eine Rolle spielen könnte. Aber genau so ist es gekommen. Die Hautfarbe wird in jüngster Zeit recht aggressiv als Kriterium positiver Diskriminierung ins politische Spiel gebracht. Allerdings: Während man in Deutschland mit rund 16 Millionen adipösen Erwachsenen rechnen muss, ist die Zahl der „People of Colour“ unbekannt, bewegt sich aber jedenfalls im untersten einstelligen Prozentbereich. Für ein postdemokratisches Politikverständnis, das sich daran gewöhnt hat, sich die Wirklichkeit nach eigenem Gutdünken zurechtzulegen, ist das kein großes Problem. Wer nicht schwarz ist, wird „Schwarz“ gemacht. Eine diskriminierungssensible Sprache, die ihre eigenen Wörterbücher hervorgebracht hat, erlaubt semantische Trickbetrügereien jeder Art. Es reicht aus, das Adjektiv „Schwarz“ groß zu schreiben und aus einer Farbbezeichnung wird eine Chiffre der Unterdrückung, Ausgrenzung und Benachteiligung. Wer sich in solchen semantischen Wahnwelten bewegt, für den ist alles denkbar: „Fair is Foul, Foul is Fair” heißt es zu Beginn von Shakespeares „Macbeth“, und das könnte das Leitmotiv dieser politischen Diskurslage sein.

Am erfolgreichsten bei der Politisierung des Körpers war bislang die LGBTQIA*-Bewegung. Ihr ist es gelungen, der gut etablierten, aber politisch ausgereizten Geschlechterparität mit ihren politischen Quotierungen den Rang abzulaufen und sich in fast alle gesellschaftlichen Teilbereiche, von der Politik über den Sport und die Werbung bis in den harten Kern des Wirtschaftslebens hineinzufressen. Ihre bislang extremste, aber längst nicht finale Form hat diese Entwicklung in den Exzessen der Geschlechts­umwandlung mit Medikamenten und Skalpell erreicht. Die Vorstellung, man müsse der „binären Geschlechtsidentität“ buchstäblich zu Leibe rücken und schon Kleinkindern in der Kindertagesstätte klarmachen, wie irrig die Vorstellung von der biologischen Geschlechterdualität sei, gehört aktuell zu den avanciertesten Erscheinungsformen des postdemokratischen Körperkultes.

Von hier aus ist es kein großer und schon längst diskutierter Schritt zum „Transhumanismus“ – zur uferlosen Ausdehnung der begrenzten menschlichen Möglichkeiten durch technologische Eingriffe von der Genmanipulation bis zur Computertechnologie. Die Vorstellung, dass der Mensch seinen Körper nach Belieben optimieren müsse, ist mit Blut getränkt. Die Geschichte des „Neuen Menschen“ ist eine Geschichte der Gewalt und des Terrors, die nicht zufällig in stalinistischen und nationalsozialistischen Utopien des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt gefunden hat. Allerdings hatte man hier wenigstens noch die Vorstellung, dass die Menschen durch solche Eingriffe schöner und nicht hässlicher werden sollten.

Aber, noch einmal Shakespeare: „Though this be madness, yet there is method in’t.“ Denn am Ende geht es nicht um die bizarren Diskurspirouetten eines selbstverliebten Sondermilieus mit Immatrikulationshintergrund. Am Ende geht es um Macht und Herrschaft, um Privilegien, um die Verteilung und Umverteilung von Ressourcen, um die Beseitigung von vermeintlicher und tatsächlicher – auch das gibt es – Ungerechtigkeit. Es geht um Politik.

 

Die Gedanken sind frei, der Körper nicht

Die body positivity – es gehört zu den erfreulichen Eigenschaften der deutschen Sprache, dass sie für derlei kein eigenes Wort hat – gaukelt ihren Verfechtern vor, sie besäßen die Verfügungsmacht über ihren eigenen Körper. Nichts erscheint selbstverständlicher, als dass Menschen in einer modernen Gesellschaft weitgehend beliebig über ihren Körper verfügen können und dürfen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit gehört ebenso wie das auf Freizügigkeit zu den ältesten, elementarsten und im Grundgesetz verankerten Menschenrechten. Die Corona-Politik hat indes gezeigt, wie fragil dieses Menschenrecht ist. Heute ist nichts selbstverständlicher geworden als der staatliche Zugriff auf den Körper. Er reicht von der drastischen Einschränkung der Mobilität bis zur Impfplicht. Wenn der Staat sich in dieser Weise wieder fast nebenbei und kaum infrage gestellt, die physische Herrschaft über den Körper zurückholt, dann ist das ein weit gravierenderer Eingriff in die Menschenrechte als die vieldiskutierten Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Denn auf Meinungen kann man verzichten, auf den Körper nicht. Seine Meinung kann man, das ist am empfehlenswertesten, dem jeweils herrschenden Zeitgeist anpassen oder man kann sie für sich behalten, so lange, bis sich die Zeiten ändern – man erinnert sich an Bert Brechts Keuner-Geschichte „Maßnahmen gegen die Gewalt“ von 1930. Schon Hobbes‘ „Leviathan“-Staat, der am Anfang der modernen westlichen Staatstheorie stand, verzichtet ausdrücklich auf die Kontrolle der Gedanken und der Gesinnungen. Hobbes wusste, worauf es ankommt: Nur wer die Herrschaft über den Körper übernommen hat, herrscht über den ganzen Menschen.

 

Herrschaft durch Zahlen

Es wurde von der Öffentlichkeit nur flüchtig wahrgenommen, dass am 27. Mai 2022 der Etat des Bundesgesundheitsministeriums für das laufende Jahr auf 64,4 Milliarden Euro erhöht wurde; im Vor-Corona-Jahr 2018 waren es 15,21 Milliarden Euro. Zu diesem exorbitanten Betrag hinzu kommen die Etats der Länderministerien; in Bayern ist der Etat des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege von 137 Millionen Euro im Haushaltsjahr 2018 auf 890 Millionen Euro im Jahr 2022 gestiegen, und anderswo wird es nicht anders sein. Gemessen an diesen Summen, die für das Gesundheitsregime neuerdings ausgeworfen werden, muten die 1,1 Milliarden Euro, für den „Kampf gegen rechts“ und die 47 Millionen für das „Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt“ wie Bagatellbeträge an. Aber es hat schon seine Richtigkeit: Wer über den Menschen herrschen will, muss seinen Körper beherrschen, und das ist teurer als die Regulierung der öffentlichen Meinung.

Dem gutmütigen Betrachter mag diese Vervielfachung der staatlichen Gesundheitsetats als Ausdruck der staatlichen Sorge um das gesundheitliche Wohlergehen der Bürger erscheinen. Der weniger vertrauensselige Bürger hingegen  weiß, was gemeint ist, wenn der Staat „Gesundheit“ sagt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“. Nähme man diese Definition ernst, dann gäbe es keine gesunden Menschen, dafür aber einen unablässigen Therapie-, Korrektur­-­ und Interventionsbedarf, der den Menschen zum Objekt einer totalitären Gesundheitsvorsorge und ‑fürsorge macht.

Spritzen, Einschließungen, Schlagstöcke und Pfefferspray sind in modernen Gesellschaften eigentlich keine geeigneten Instrumente mehr, um die Herrschaft über den Körper auszuüben. Die moderne Biopolitik, wie sie Foucault beschrieben hat, verfährt anders. Ihr Medium ist nicht die physische Gewalt, sondern das Wissen. Sie herrscht durch die Zahlen der Statistiker. Entgegen der landläufigen Auffassung ist die Statistik keine „empirische Wissenschaft“, mit der Wirklichkeit beschrieben wird. Sie ist eine Wissenschaft, die Wirklichkeit zuerst definiert, dann konstruiert und schließlich auch realisiert – die Statistiker schaffen die Wirklichkeit selbst, die sie zu beschreiben vorgeben.

Der statistische Zugriff auf den Körper eröffnet politischem Handeln unermessliche Spielräume. Die Zusammenhänge zwischen bestimmten Lebensformen oder ‑gewohnheiten – Rauchen, Bewegungsarmut, Ernährung –, und Lebenserwartung, Krankheitsanfälligkeit und Krankheitskosten lassen sich leicht zeigen. Dem datengesteuerten Gesundheitsstaat erscheint der „Risikomensch“ als willenlose Marionette, die darauf angewiesen ist, dass ihr nach Maßgabe statistischer Erhebungen Verhaltensvorschriften zugewiesen werden. Weit über das Corona-Regime hinaus wird in die Lebensführung eines jeden Einzelnen umfassend und total eingegriffen: in seine Ernährung, seine Mobilität, seinen Beruf und seine Freizeit, seine Genuss‑ und Konsumgewohnheiten, sein Sexualleben. Die Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Gesundheitsregimes sind unüberschaubar, aber offensichtlich. Erkennbar wird eine Normierungs‑, Beobachtungs- und Präventionsbürokratie, die ihre Vorstellung vom Notwendigen und Richtigen aus den Daten der Statistiker bezieht.

Aber so schlimm wird wohl nicht werden. Denn wenn die Coronapolitik, ähnlich wie die Migrationspolitik, eins gezeigt hat, dann es ist die völlige Unfähigkeit deutscher Verwaltungen, Daten flächendeckend zu erheben und auszuwerten.  Die Corona-App mit ihrem vollmundigen Versprechen der „Nachverfolgung“ von Infektionsketten ist ebenso gescheitert wie die Einführung eines Impfregisters, und es sieht nicht so aus, als würde sich an dieser digitalen Inkompetenz auf absehbarer Zeit etwas ändern. Ernsthafte Sorgen muss man sich jedenfalls bis auf weiteres noch nicht machen.