„Historia magistra vitae“

„Historia magistra vitae“: Cicero war wohl tatsächlich der Ansicht, dass Menschen aus der Geschichte lernen können. Gut zweitausend Jahre später wäre er wohl nicht mehr so recht davon überzeugt. Denn allzu deutlich zeigt der Verlauf der Geschichte, dass jede Epoche bereit ist, die Fehler der vorangegangenen zu wiederholen. In ihrem klassischen Buch über „Die Torheit der Regierenden“ – „The march of folly“ – hat Barbara Tuchman Beispiele dramatischer politischer Fehlentscheidungen gesammelt, und die deutsche Politik des 21. Jahrhunderts hat die Taktzahl epochaler Fehlentscheidungen noch einmal dramatisch erhöht: Der Afghanistan-Krieg, die Flüchtlingskrise, die Energiewende haben durchaus die Qualität, in die von Tuchman beschriebene Reihe selbstzerstörerischer Fehlentscheidungen vom Trojanischen Pferd bis zum Vietnamkrieg aufgenommen zu werden.

Dass die Politik nicht bereit oder auch nicht in der Lage ist, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, lehrt der Augenschein. Warum das aber so ist, lässt sich schwer ergründen. Wahrscheinlich hängt es wesentlich damit zusammen, dass deutschen Politikern elementare Bildungsvoraussetzungen fehlen. In der deutschen Öffentlichkeit wurde leicht amüsiert, aber ohne größere Besorgnis zur Kenntnis genommen, dass es eine der ersten Amtshandlungen der deutschen Außenministerin war, den Psychologie- und den Allgemeinbildungstest aus dem Einstellungstest der Bewerber für den Auswärtigen Dienst zu entfernen. Das war eine Entscheidung von durchaus programmatischer Bedeutung. Man kann sie als ein Bekenntnis zu einer Außenpolitik deuten, die keine Rücksicht nehmen will auf historische Gegebenheiten und nicht bereit ist, aus der Geschichte ihre Lehren zu ziehen. Wohin das führt, war bald zu sehen.

 

Pizzabotendiplomatie und Nibelungentreue

Nach einem Treffen der EU-Außenminister in Prag Anfang September 2022 erklärte die Ministerin während einer Podiumsdiskussion in dem ihr eigentümlichen Englisch: „If I give the promise to people in Ukraine: ‚We stand with you as long as you need us‘, then I want to deliver“ – „ich werde liefern“ lautete also die Botschaft, als ob ein deutscher Außenminister so etwas ähnliches sei wie ein Pizza-Bote, der liefert, was die Kunden wünschen. Es ist nicht wahrscheinlich, aber immerhin denkbar, dass die deutsche Außenministerin vor ihrem Studium des Völkerrechts während ihrer Schulzeit an der Humboldtschule in Hannover einmal etwas vom Nibelungenlied gehört hat. Im 19. Jahrhundert wurde es unter tätiger Beihilfe Richard Wagners zum Nationalepos der Deutschen hochstilisiert – mit verhängnisvollen Folgen. Im März 1909 beschwor der deutsche Reichskanzler von Bülow in einer Reichstagsrede angesichts sich zuspitzender europäischer Konfliktlagen die „Nibelungentreue“, die man dem Bündnispartner Österreich-Ungarn schulde. Viereinhalb Jahre später war es so weit: Der deutsche Kaiser signalisierte dem österreichischen Bündnispartner bedingungslose Unterstützung, falls der sich zu einem Krieg mit Serbien entschließen sollte, im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass das auch einen Kriegseintritt Russlands auf der Gegenseite bedeuten würde. Die Folgen sind bekannt. Eine deutsche Politikerin sollte das nicht nur wissen, sondern sich auch vor Augen halten, wenn sie in einer hochbrisanten weltpolitischen Situation rhetorisch mit dem Feuer spielt.

Sie weiß es aber nicht. Am 1. Mai 2022 erklärte sie in einer Fernsehtalkshow, sie wolle Russland so schädigen, dass „es volkswirtschaftlich jahrelang nicht mehr auf die Beine kommt“. Dem Kenner der europäischen Geschichte stockt bei solchen unbedarft daher geplapperten Allmachtsphantasien der Atem. Das sind Töne, die man seit fast 80 Jahren in der deutschen Diplomatie nicht mehr gehört hat. Im kriegslüsternen Deutschland riefen sie einigen medialen Jubel hervor. Angebracht gewesen wäre Bestürzung über den geschichtsvergessenen Hochmut, mit dem sich eine deutsche Außenministerin äußert. Am Krieg gegen Russland sind schon ganz andere, von Napoleon bis Hitler, gescheitert. Gegenüber der Diplomatensprache seiner Außenministerin mutet die „Bazooka“-, „Wumms-“ und „Doppel-Wumms“-Rhetorik des Bundeskanzlers jedenfalls geradezu sublim an.

Die deutsche Außenministerin könnte sich in ihrer Art, Politik zu betreiben, bestätigt fühlen dadurch, dass sie Ende September 2022 vom US-amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“ zu einer der hundert „aufstrebenden Persönlichkeiten“ gekürt wurde. Sie teilt diese Ehre unter anderem mit der deutschen Klimaaktivistin Luisa Neubauer, die kurz zuvor erklärt hatte, Gaspipelines in die Luft sprengen zu wollen. Was man von einer solchen Ehrung halten soll, weiß man nicht. Jedenfalls befinden sich die beiden Parteigenossinnen in einer merkwürdigen Gesellschaft: 1936 hat dasselbe Nachrichtenmagazin Adolf Hitler zum „Man of the Year“ gewählt.

Aus der Geschichte könnte man auch lernen, wie man es richtig macht. Nachdem Bismarck 1870 einen Krieg angezettelt hatte, verbrachte er die restlichen zwanzig Jahre seines Politikerlebens damit, Kriege zu vermeiden. Bismarck pflegte eine Politik des Aushandelns und des Austarierens von nationalen, oder in seinem Fall zunächst preußischen, Interessen. Das nannte man dann Realpolitik, und das ist das Gegenteil heutiger „wertegeleiteter Politik“, die sich am Modell der Nibelungentreue orientiert.

 

Politisches Grundwissen

Den deutschen Bundeskanzlern von Adenauer bis Gerhard Schröder ebenso wie ihren Ministern darf man unterstellen, dass sie ihre Politik im klaren Bewusstsein der historischen Kontinuitäten betrieben haben, deren Erbe sie waren. Dadurch waren ihnen die Entscheidungshorizonte vorgegeben, innerhalb derer sie sich bewegen konnten. Mit der Wahl einer in der DDR aufgewachsenen und in der DDR promovierten Naturwissenschaftlerin zur Bundeskanzlerin wurde dieses Kontinuitätsbewusstsein als Leitlinie politischen Denkens verabschiedet. Den Grund hat die Kanzlerin im Juni 2021 in einem Gespräch mit Gymnasiasten selbst offengelegt: „Meine Geschichtsbildung ist nicht so toll, muss ich sagen.“

Mit ihren Nachfolgern sieht es nicht besser aus. Bewerber für den gehobenen nichttechnischen Dienst in Bayern müssen einen Allgemeinbildungstext ablegen, an dem sicher jedes Mitglied der aktuellen Bundesregierung scheitern würde. Die Leitfiguren der deutschen Politik, soweit sich das aus den Beliebtheitsskalen der sicher wenig vertrauenswürdigen Meinungsumfragen ablesen lässt, sind die Außenministerin und der Wirtschafts- und Klimaschutzminister. Schwer erklärbar ist die Zustimmung nicht: Die Bürger sehen es nun einmal gerne, wenn die Akteure auf der politischen Bühne vom gleichen Schrot und Korn sind wie sie selbst. Dem Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister wird zugute gehalten, dass er ein großer Kommunikator sei und seine Politik gut erklären könne. Aber inzwischen hat er eine Erfahrung machen müssen, die jedem Lehrer und jedem Hochschuldozenten vertraut ist: Man kann Dinge nicht erklären, die man selbst nicht verstanden hat.

Leicht hat er es auch nicht. Politik „zum Wohle des deutschen Volkes“ zu machen ist heute gewiss anspruchsvoller als noch vor zwei Jahrzehnten. Der Umfang und die Art des politischen relevanten Wissens sind dramatisch gestiegen. Es ist schwer zu sagen, ob das eine zwangsläufige Entwicklung in modernen Gesellschaften ist oder die Folge einer immer expansiver in alle Lebensbereiche ausgreifenden Politik.

Es kommt noch einiges hinzu. Der russische Angriff auf die Ukraine hat ganz unversehens alte Wissensbestände wieder relevant werden lassen, von denen man glaubte, dass sie durch das „Ende Geschichte“ nach dem Zerfall des Ostblocks obsolet geworden seien: Das geopolitische Denken in Macht- und Einflusssphären, in militärischen Kräfteverhältnissen und Strategien, in nationalen Interessen und supranationalen Verflechtungen verschränkt sich mit den Problemlagen, welche durch die politischen Akzentsetzungen der letzten Jahrzehnte in den Vordergrund getreten sind.

Während Flüchtlingskrise, Corona-Epidemie und Inflation noch mit den klassischen Mitteln der Politik zu bewältigen gewesen wären, wenn man sie nur angewandt hätte, sind Energiewende und Klimawandel Politikfelder, die an die handelnden Akteure grundsätzlich neue Anforderungen stellen. Jedes politische Handeln setzt inzwischen solides mathematisches und naturwissenschaftliches, technisches und wirtschaftswissenschaftliches Grundwissen voraus. Man würde sich auch wünschen, dass sich die Akteure der deutschen Energiepolitik einmal eine Weltkarte anschauten, aus der sie die geographische Verteilung natürlicher Ressourcen ersehen könnten.

Politik muss sich heute nicht mehr nur mit den Beziehungen zwischen Menschen befassen, sondern auch mit der Natur und ihren Gesetzen, mit Mathematik und Technik. Politiker sehen sich den Herausforderungen dieser neuen politischen Welt hilf- und ratlos ausgeliefert. Erstaunt stellen sie fest, dass die Natur nicht mit sich reden und sich auch nicht beschwatzen lässt. Eine Politik funktioniert nicht mehr, die glaubte, etwas gewollt zu haben sei schon so gut wie es getan zu haben. Aber das Politikmodell „Triumph des Willens“ war bekanntlich noch nie dauerhaft erfolgreich.

Es muss nicht gerade Atomphysik sein, auch wenn einschlägige Grundkenntnisse Politiker von dem Glauben abbringen würden, man könne Atomkraftwerke an- und abschalten wie Wasserkochet. Aber einfache betriebswirtschaftliche, logistische und technische Zusammenhänge muss man heute schon verstehen, wenn man erfolgreich Politik machen will. Dann wüsste man vorher, dass die Vorstellung, man müsse die Zahl der Windkraftanlagen doch einfach nur verdoppeln, verdreifachen oder verzehnfachen, um alle Energieprobleme zu lösen, ihren Widerstand in der rauhen Wirklichkeit des Wirtschaftslebens finden würde. Denn selbst so primitive technische Einrichtungen wie Windkraftanlagen erfordern Fachwissen und Fertigungskapazitäten, die es in Deutschland kaum noch gibt. Schon die Produktionskapazitäten für die Herstellung einer Rotornabe, die aus rund 16 Tonnen Gusseisen gegossen werden muss, sind in Deutschland, Spanien und Italien auf Jahre hinaus ausgebucht. Windkraftanlagen werden heute zum großen Teil ebenso wie Photovoltaikanlagen aus China geliefert, das gerade dabei ist, enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland aufzubauen.

Das alles ist den Akteuren dieser Politik offensichtlich ebenso wenig bewusst wie die Tatsache, dass der Import von Flüssiggas aus Kanada oder aus den Vereinigten Arabischen Emiraten Transportkapazitäten erfordert, die es nicht gibt.

 

Versäumte Lektionen

1959 klagte C. P. Snow in seinem berühmten Essay „The two Cultures“ darüber, dass das naturwissenschaftlich-technische Wissen im Vergleich zur humanistischen Bildung über keinerlei gesellschaftliches Ansehen verfüge. Heute könnte man ihn beruhigen: Auch das Bildungswissen hat keinen Sitz im Leben der Gesellschaft mehr, dabei würde beides gebraucht, die naturwissenschaftlich-technische wie erst recht die humanistische Bildung, und zwar besonders dort, wo verantwortliches politisches Handeln erforderlich ist.

Aber deutsche Politik wird heute von Menschen betrieben, die sich aus den kulturellen Traditionen des Abendlandes verabschiedet haben, die keine Beziehung mehr haben zu Geschichte, Literatur, Philosophie, Kunst, Musik und Architektur, denen überhaupt alle Formen kultivierten Lebens fremd geworden sind. Das, was man in einem Bildungsprozess erfährt und erlernt, ist ihnen nicht mehr vertraut: die Fähigkeit, sich zurückzunehmen, das Bewusstsein der eigenen Wichtigkeit zu relativieren, konfrontiert zu werden mit einer unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten, ein offenes Ohr zu haben für andere Denk- und Wahrnehmungsweisen der Welt, wie sie sich in der Kultur des Abendlandes über zwei Jahrtausende hinweg herausgebildet haben. Wem das fehlt, der sollte nicht in die Politik gehen, obwohl es heute wohl genau umgekehrt ist: Wer das nicht hat, ist prädestiniert dafür, in die Politik zu gehen. Aber Menschen, die keinen anderen kulturellen Genuss kennen als den Höhenrausch der Macht, sind gefährlich.

In seinem Essay „L’homme révolté“ hat Albert Camus 1951 eine der Grundvoraussetzungen der Demokratie benannt: Die Demokratie ist bescheiden, sie erkennt an, dass man des Wissens anderer bedarf und sie vermeidet das Absolute. Die vollmundigen Erklärungen der Außenministerin vertragen sich damit ebenso wenig wie die Wahnvorstellung, deutsche Politik könne irgendeinen Einfluss auf das Weltklima der kommenden Jahrhunderte ausüben. Wenn man sich diese ideologischen Verblendungen der politischen Akteure betrachtet, muss man nicht gleich an Dostojewskis Großinquisitor denken. Näher liegt der Gedanke an Cervantes‘ Don Quijote, den Ritter von der traurigen Gestalt, und seinen Kampf gegen die Windmühlen.

 

Der Sturz des Ikarus                                    

Dummheit beginnt dort, wo man sich der eigenen Grenzen nicht mehr bewusst ist. Als der Einstellungstest für Bewerber des Auswärtigen Dienstes entschärft wurde, meinten spöttische Kommentatoren das auf die Einsicht der Ministerin zurückführen zu können, dass sie selbst den Test nicht bestanden hätte. Aber diese Vermutung ist gewiss falsch. Denn genau diese Einsicht in ihre eigenen Grenzen fehlt der Ministerin. In der Psychologie spricht man vom Dunning-Kruger-Effekt, wenn man Menschen beschreiben will, die an maßloser Selbstüberschätzung leiden. In der griechischen Tragödie nannte man das Hybris, die Vermessenheit. Die antike Sage vom Sturz des Ikarus hat das bündig zusammengefasst. Der Tüftler Daedalus und sein Sohn Ikarus fliehen aus der Gefangenschaft von der Insel Kreta mit Hilfe von Flügeln, die Daedalus gebaut hat. Trotz eindringlicher Mahnung wird Ikarus übermütig, er will immer höher hinaus, bis am Ende die Sonne das Wachs seiner Flügel schmelzen lässt und er ins Meer stürzt. Das Motiv ist in der abendländischen Kunst- und Literaturgeschichte, von Bruegel bis Biermann, vielfältig aufgegriffen worden. Die abendländische Kulturgeschichte hält genügend Warnungen bereit, welche dem Menschen seine Grenzen aufzeigen. Man muss sie nur kennen.

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Am Sonntag, 25. Oktober 2022, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio

„Karl May. Ein Weltbürger im Reich der Phantasie“

gesendet. Die Sendung ist im Podcast hier verfügbar.