Die Regierung baut

1991 wurden durch Beschluss des Deutschen Bundestages Parlament und Regierung nach Berlin verlegt. Bevor der Deutsche Bundestag 1999 seine Geschäfte hier aufnehmen konnte, musste das traditionsträchtige und nach seiner Renovierung in den 1960er Jahren kaum genutzte  Reichstagsgebäude ertüchtigt werden. Nach vielerlei Querelen und auch einem Plagiatsvorwurf erhielt der britische Architekt Norman Foster den Auftrag

Die 1954 gesprengte Kuppel wurde in moderner Form wiederhergestellt, 700 Millionen Euro wurden ausgegeben, und insgesamt fand das Gebäude im Laufe der Jahre große Akzeptanz als Symbol der Berliner Republik. Das Reichstagsgebäude trägt bis heute die Inschrift „Dem Deutschen Volke“. Das Gebäude wurde in den 1880er Jahren errichtet; die Inschrift allerdings wurde erst im Jahre 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, angebracht. Ihr waren lange Diskussionen vorausgegangen, in die der damals noch gewitzte Berliner Volksmund den Vorschlag einbrachte, man möge die Inschrift mit dem Zusatz ergänzen „…ist der Zutritt verboten“.

Dazu ist es nicht gekommen. Aber dass auch die heutigen Nutzer des Reichstags, die Parlamentarier des Deutschen Bundestages, dem Volk ungern Zutritt gewähren, sich das aber nicht anmerken lassen wollen, zeigen die aktuell geplanten architek­tonischen Schutzmaßnahmen. Vor fünf Jahren beschloss die Baukommission des Bundestags die Ausführung einer schon lange geplanten Maßnahme, die wohl schon in die erste Legislaturperiode der Kanzlerin Merkel zurückreicht: den Bau eines „Aha-Grabens“. Anders als die „AHA-Maske“ dient der Aha-Graben nicht dem Schutz der Bevölkerung, sondern dem Schutz der Regierung und des Parlaments.

Aus Angst vor terroristischen Anschlägen – Trump und die Reichsbürger waren damals noch in weiter Ferne – wird der Bundestag mit einem zehn Meter breiten und 2,5 Meter tiefen Graben geschützt werden. Im „Gegensatz zu Mauer oder Zaun“ aber soll, so erläutert die Baukommission des Ältestenrates, dieser „‚Aha‘-Graben“ „für den Blick in die Ferne unsichtbar“ sein. Der „Aha-Effekt“ – danach ist der Graben benannt – entsteht erst, wenn man unmittelbar davor steht. Dass Regierungen Angst haben vor der eigenen Bevölkerung, war eigentlich ein charakteristisches Merkmal von Volksdemokratien sozialistischer Prägung.

Während sich das Parlament so vor dem Volk unauffällig, aber mit Aha-Effekt, abgrenzt, errichtet die Regierung ihre eigenen architektonischen Monumente. Das Zentrum der politischen Macht in Berlin ist das Bundeskanzleramt. Bevor die deutsche Bundesregierung sich in Berlin ansiedelte, gab es in Bonn ein 1976 gebautes Kanzleramt. Bei seiner Ausschreibung wurde vom Bauherrn ausdrücklich „städtebauliche Zurückhaltung“ verlangt. In den 1970er Jahren bevorzugte man einen luftigen Baustil für öffentliche Objekte, mit viel Glas und Stahl und schuf so ein schlichtes, aber doch wirksames Symbol der Transparenz, die sich die Bonner Republik in diesen Jahren mit dem Versprechen „Mehr Demokratie wagen“ verordnet hatte.

Das Berliner Bundeskanzleramt folgte einem andern Konzept. Es wurde neu gebaut, und 2001 bezogen. Es ist 36 Meter hoch und achtmal so groß wie das Weiße Haus in Washington. Das Bundeskanzleramt gilt als eines der größten Regierungsgebäude der Welt; und es hat die ästhetische Ausstrahlung eines Luftschutzbunkers. Seine Botschaft ist unübersehbar: „Wir sind wieder wer“. Wer hier regiert, kann leicht der Großmannssucht verfallen.

Aber genug ist nicht genug. Zurzeit wird ein Anbau geplant. Er soll nach aktuellem Stand 770 Millionen Euro kosten. Er ist, wie man so sagt, „unverzichtbar“, weil das Kanzleramt Platz braucht; Platz für rund 400 Büros, eine Kindertagesstätte für 15 Kinder, neun Wintergärten, eine zweite Kanzlerwohnung mit 250 Quadratmetern und einen 23 Meter hohen Turm mit Hubschrauberlandeplatz.

Vorsichtige Kritik an diesem Projekt hat der Bundeskanzler kürzlich zurückgewiesen: Das Kanzleramt hat, wie jedes Regierungsgebäude auch, einen hohen architektonischen Symbolwert, den der Kanzler der Öffentlichkeit geduldig erklärte: Das neue Gebäude werde „praktisch in Opposition zu dieser Hitler-Straße“ stehen, wo besagter Adolf Hitler „Hunderttausende aufmarschieren lassen wollte“. Man muss den Erweiterungsbau also als eine Art antifaschistischer Schutzwall gegen falsche Erinnerungen betrachten, und dann ist er wohl sein Geld wert.

Wenn dieses Argument Schule macht, kann es den Steuerzahler aber teuer zu stehen kommen. Denn dann stehen weitere Neubauten an. Das Auswärtige Amt residiert im Gebäude der Reichsbank, die von hier aus die Ausplünderung der von der Wehrmacht eroberten Gebiete organisierte; die jetzige Nutzerin mag sich aber mit dem Gedanken trösten, dass später das Zentralkomitee der SED hier seinen Sitz hatte. Das Gebäude des Finanzministeriums war der Sitz von Görings Reichsluftfahrt­ministerium und der Dienstsitz des Verteidigungsministeriums ist heute wie damals der „Bendlerblock“.

 

 „Wer jetzt kein Haus hat …“

Die Prunkbauten in Berlin haben ihre Kehrseite. Herrschaftsarchitektur ist Symbolpolitik, Wohnungsbau ist Realpolitik. Seit kurzem steht ein Thema auf der Tagesordnung der bundesdeutschen Politik, über das man jahrzehntelang nicht nachdenken musste: der Wohnraummangel. Die Politik steht vor dem großen Rätsel, dass trotz sinkender Geburtenzahlen ein Mangel an „bezahlbarem Wohnraum“ herrscht. Jeder weiß die Antwort, aber aussprechen und hören will sie niemand. Zum Jahresende verkündete das Statistische Bundesamt nicht ohne einen gewissen Stolz, dass die Bevölkerung in Deutschland mit „mindestens 84,3 Millionen Einwohnern“ im Jahre 2022 einen Höchststand erreicht habe – wobei das „mindestens“ apart ist: Man weiß halt nicht so genau, wie viele Menschen illegal in Deutschland leben; es werden hunderttausende sein. Man weiß aber, woher dieser Höchststand kommt. Dauerhaft geöffnete Grenzen locken immer neue Zuwanderer herein, die höhere Ansprüche an das Wohnen haben als Turnhallen oder Container.

Was man aber nicht weiß ist, wie es weitergehen soll. Die amtierende Regierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, jährlich 400 000 Wohnungen zu bauen; tatsächlich waren es im ersten Jahr nur geschätzte 290 000, die natürlich nicht „die Regierung“, sondern die private Wohnungswirtschaft gebaut hat. Anfang Januar 2023 errechnet das private Pestel-Institut im Auftrag des Verbändebündnisses „Soziales Wohnen“ in einer braven und regierungskonformen Studie einen aktuellen Fehlbestand an 700 000 Wohnungen und stellt auch fest, dass das irgendwie mit der Zuwanderung zusammenhängen könne.

Die Forderung nach „bezahlbarem Wohnraum“ hat sich erledigt, wenn der Staat eingreift. 5,4 Millionen Bürgergeld-Empfänger in Deutschland müssen sich schon einmal keine Gedanken darüber machen, wie sie ihre Wohnung bezahlen können. Das macht der Staat zwei Jahre lang für sie, unabhängig davon wie angemessen und wie teuer sie ist. Die Euro-Hymne „Whatever it takes“ ist inzwischen auch zum Gütesiegel der deutschen Sozialpolitik geworden. Aber mit der Übernahme der Miete durch den Staat entsteht keine einzige Wohnung mehr, ebenso wenig schafft der „Mitpreisdeckel“ neuen Wohnraum. Vielmehr führt die Klimapolitik der Regierung, ihre Anforderungen an Wärmedämmung, Heizsysteme, Wärmepumpen, Solarflächen dazu, dass der Bau neuer Wohnungen immer aufwendiger, teurer  und unrentabler wird. Wie bei der Energiepolitik wirken auch in der Wohnungspolitik zentrifugale Kräfte, die Wunsch und Wirklichkeit immer weiter auseinander treiben.

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, heißt es in Rilkes Gedicht „Herbsttag“. Das war metaphorisch gemeint, aber in diesen Tagen ist es schlichte Wirklichkeit geworden

 

„Wir haben Platz“

Das „Refugees-Welcome“-Mantra „Wir haben Platz“ erlebt eine unangenehme Konfrontation mit der Wirklichkeit. Gerade wies der Präsident des Landkreistags darauf hin, dass die Kommunen die Last der Flüchtlingspolitik nicht mehr tragen können. Die Kreise hätten keine Unterbringungskapazitäten mehr, man müsse schon auf Zelte ausweichen, und die von den Kommunen zu tragenden Wohnkosten für anerkannte Flüchtlinge betrügen zwei Milliarden Euro pro Jahr.

Von überall her kommen die Hilferufe der Kommunen, die vor kurzem noch ein absolutes politisches Tabu waren: Es geht nicht mehr. Ende Januar 2023 las man die Schlagzeile „Proteste gegen Flüchtlingsunterkunft laufen aus dem Ruder“. Die Proteste richteten sich gegen eine geplante Gemeinschaftsunterkunft für Asyl­bewerber in Upahl in Nordwestmecklenburg. Überraschend sind sie nicht. Wenn man in der mecklenburgischen Provinz ein Containerdorf für 500 Asylbewerber in eine 600-Seelen-Gemeinde implantiert, dann weiß man, dass man vorsätzlich Konflikte schürt, die man dann wieder medial ausschlachten kann. Man darf annehmen, dass das so gewollt ist, um den Boden zu bereiten für andere Lösungen.

Aber nicht nur in der mecklenburgischen Provinz brodelt es. Auch im Taunus, im Speckgürtel Frankfurts, wo die Reichen und Einflussreichen wohnen, begehrt man auf gegen die weitere Ansiedlung von Asylbewerbern. Hier geht es gesetzter zu. Man geht nicht auf die Straße, sondern Landräte und Bürgermeister schreiben Ende Januar parteiübergreifend an den Kollegen im Bundeskanzleramt. Sie verweisen darauf, dass „viele ansässige Familien nur noch sehr schwer adäquaten Wohnraum finden“ und fordern ihn zur „konsequenten Anwendung“ der bestehenden Gesetze auf.

Wie die Lösung aussehen könnte, zeichnet sich ab. Im Oktober 2022 kam die wenig beachtete Meldung in die Presse, dass der Landrat im oberbayerischen Fürstenfeldbruck „notfalls Häuser beschlagnahmen“ will, weil er nicht bereit sei, weiterhin Schulturnhallen zweckentfremdet als Flüchtlingsunterkünfte zu nutzen. Von der Energiebewirtschaftung zur Wohnraum­bewirtschaftung ist es nur noch ein kleiner Schritt, und niemand soll sich der Illusion hingeben, dass die Regierung vor diesem Schritt zurückscheuen wird.

Es ist sicher nur ein Zufall. Aber dass im Mikrozensus 2022 und dann im Zuge der Grundsteuerreform die  Daten der Haus- und Grundeigentümer flächendeckend erfasst wurden, liefert eine solide – weil von den Bürgern selbst erstellte –Datengrundlage für eine künftige Wohnraumbewirtschaftung. Es wird nicht mehr lange dauern, bis diese Diskussionen über Zwangszuweisung in private Wohnräume an Dynamik gewinnen. Dann werden in Deutschland wieder Zustände herrschen wie im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Um die zehn Millionen Vertriebenen in Westdeutschland unterbringen zu können, requirierten die Besatzungsbehörden mit Waffengewalt privaten Wohnraum. Zum sozialen Frieden und zur Integration der Aussiedler hat es nicht beigetragen.

So weit ist es noch nicht. Zurzeit geht die Politik noch einen anderen Weg. Der autoritäre politische Dirigismus der deutschen Politik frisst sich immer weiter in das Leben der einfachen Bürger hinein, er beeinträchtigt ihre alltäglichen Lebensformen ebenso wie die Wahrnehmung elementarer alltäglicher Bedürfnisse. Auch das Wohnen wird neuerdings ganz unverhohlen dem politischen Zugriff ausgesetzt. In der öffentlichen Diskussion wird das noch kaum wahrgenommen, weil sich diese Repression unter dem Schutzmantel von Worthülsen wie „Klimaschutz“, „bezahlbarer Wohnraum“ oder „Mietpreisdeckel“ verbirgt.

Das Wohnen soll den Menschen ungemütlich gemacht werden, um sie aus ihren Wohnungen zu verdrängen. Im Städtebau spricht man vornehm vom „Remanenz­effekt“ ­. Mit „Remanenz“ bezeichnet man in der Physik Restmagnetismus. Gemeint ist: die Alten verbrauchen einfach zu viel Platz. Sie krallen sich in ihren Wohnungen fest, obwohl die Kinder längst ausgezogen sind und ihrerseits wieder neuen Platz verbrauchen, den andere nötiger hätten.

Im November 2022 nahm sich die Justizministerkonferenz des Themas an und erklärte treuherzig, dass sie diese „stillen Wohnraumreserven“ durch einen „Mieten-Bestandsschutz“ für umzugswillige Rentner aktivieren wolle. Die Bundesbau­ministerin – sie heißt Klara Geywitz, den Namen sollte man sich merken – vermerkte kürzlich ganz nebenbei, „dass die Wohnfläche pro Person immer mehr steigt“ und dass das nicht so weitergehen könne. Die 250  Quadratmeter, die sich der Bundeskanzler in seiner zweiten Dienstwohnung gönnt, stehen eben nicht jedem zu.

 

Philosophie des Wohnens

Wohnen ist mehr als ein Rechenexempel, das man durch die Subtraktion von Soll- und Ist-Bestand auflösen könnte. 1965 veröffentlichte Alexander Mitscherlich sein berühmtes Buch über die „Unwirtlichkeit unserer Städte“. „Das Einfamilienhaus“ sei, so dekretierte er hier, „ein Vorbote des Unheils“ und eine „Manifestation des privaten Eigentums.“ Darum geht es auch heute. Die aktuelle Regierung wird Mitscherlich nicht kennen, aber diesen seinen Befund dürften etliche Regierungsmitglieder und Parteivorsitzende unterschreiben.

Das eigene Haus ist immer noch die Inkarnation des Privateigen­tums, ein wichtiger Stabilitätsanker des politischen und gesell­schaftlichen Systems ebenso wie des alltäglichen Lebens. Als in den frühen 1950er Jahren die Bundesregierung ihre staatlichen Programme zur privaten Wohneigen­tumsförderung auflegte, soll Adenauer das mit dem Argument begründet haben, dass Eigenheimbesitzer keine Revolution machen. Wenn es so ist, dann wäre Deutschland nach der Schweiz das revolutionsbereiteste Land Europas. Denn in Deutschland und der Schweiz liegt die Eigenheimquote bei knapp unter 50 Prozent. Die höchste Wohneigentumsquote in Europa mit rund 98 Prozent haben kurioserweise Albanien und Rumänien. Woher diese sonderbare Diskrepanz kommt, scheint niemand zu wissen, es wird wohl an den Immobilienpreisen liegen.

In den 1960er Jahren war die unmittelbare Wohnungsnot weitgehend beseitigt, jetzt konnte man anfangen darüber nachzudenken, wie man wohnen wollte, mehr noch: Was Wohnen eigentlich bedeutet. Wohnen ist mehr als eine Unterkunft haben, schrieb Martin Heidegger 1961 in seinem Aufsatz „Bauen, Wohnen, Denken“. Indem der Mensch wohnt, bestimmt er seinen Ort in der Welt. Er findet ihn nicht einfach vor, und er richtet sich nicht einfach ein in dem, was da ist.

Das Wohnen schafft einen Rahmen der Vertrautheit und, wie Otto Friedrich Bollnow es 1963 in seinem Buch über „Mensch und Raum“ etwas emphatisch fasste, einen Raum der Geborgenheit. Wohnen gehört, wie die Ernährung oder die Mobilität, zu den elementaren Grundbedürfnissen des Menschen. Und dieses Grundbedürfnis ist kulturell geprägt, historisch gewachsen; es lässt sich nicht durch politischen Druck beliebig in diese oder jene Richtung manipulieren.  Vielleicht muss sich etwas ändern und sicher wird sich etwas ändern in der Wohnkultur – das war schon immer so. Aber wer diese Änderung durch politischen Dirigismus herbeiführen will, wird scheitern.

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Am 29. Januar 2023, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag

Die deutsche Reformpädagogik – eine schöne Illusion

von Peter J. Brenner gesendet. Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.

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Bis heute genießt die Reformpädagogik einen guten Ruf. Die Landerziehungsheime, die Montessori-, Waldorf-und Jena-Plan-Schulen sowie andere Reformprojekte entstanden nach Vorläufern im 18. Jahrhundert um und nach 1900. Ein Blick auf ihre Geschichte zeigt, dass sie trüben ideo­logischen Quellen entspringen und dass sie ihre pädagogischen Versprechen selten einhalten konnten. Ob die Ideen der Reform­pädagogik wirklich den Anforderungen einer modernen Gesellschaft entsprechen, erscheint nicht erst seit den Skandalen der jüngsten Zeit fraglich.