„Wilhelm Tell“ und Marcus Iunius Brutus
„Durch diese hohle Gasse muß er kommen“, heißt es in Schillers „Wilhelm Tell“ von 1804. Der Ankömmling, es war der habsburgische Landvogt Hermann Geßler, hat den Weg durch die Gasse nicht überlebt. „Ein Pfeil durchbohrt ihn“, und dieser Pfeil „war Tells Geschoß“. Der Attentäter Wilhelm Tell hatte dem Landvogt aufgelauert und ihn hinterrücks erschossen: „du wirst dem Lande nicht mehr schaden“, ruft er dem Getroffenen noch ins Grab nach. Damit wurde er zum Volkshelden und schuf den Gründungsmythos der Schweizer Eidgenossenschaft.
Um einiges vielschichtiger als Schillers im moralischen Schwarz-Weiß gehaltene Darstellung ist hingegen das Attentats-Thema im kanonischsten aller Tyrannenmord-Dramen dargestellt. Shakespeares „The Tragedy of Julius Caesar“ von 1599 verzichtet auf jede Eindeutigkeit der Bewertung und spiegelt das Hin und Her des moralischen Urteils, dem der Tyrannenmörder Brutus, der zugleich der Vertraute des Opfers war, ausgesetzt war. Brutus, dem Shakespeares Dramaturgie zunächst die Sympathien zufliegen lässt, ist ein Muster an republikanischer Gesinnung, ehrenhaft und stets um das Gute bemüht, Caesar ist ehrgeizig und empathielos, aber auch er hat seine hellen Seiten.
Brutus handelt aus einer ethischen Leidenschaft heraus – später wird man von „Gesinnungsethik“ sprechen –, welche die Folgen des Handelns nicht bedenkt. Und diese Folgen sind ganz und gar andere, als der Täter es beabsichtigt hat. Denn das geglückte Attentat bringt den Römern nicht die vom Diktator geraubte Freiheit zurück, sondern führt zu Gewalt, Aufruhr und Bürgerkrieg. Schließlich gelingt es dem zuvor unscheinbar am Rande stehenden Antonius, in einer geschichtsträchtig gewordenen, wenn auch nur fiktionalen, Forumsrede von demagogischer Brillanz die Volksstimmung umzudrehen und gegen Brutus zu wenden.
Trump
Der Anschlag auf den ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten und neuerlichen Präsidentschaftskandidaten vom 13. Juli 2024 erinnert die Zeitgenossen der Gegenwart daran, dass Attentate ein offensichtlich unabdingbarer Teil des Weltgeschehens sind. Das Attentat konnte ausgeführt werden, aber es hat sein eigentliches und offensichtlich auch einziges Ziel, die Tötung des Opfers, nicht erreicht. Donald Trump wurde durch eine derart glückliche und unwahrscheinliche Wendung vor dem Tod bewahrt, dass in einem religiös geprägten Land die Berufung auf die göttliche Vorsehung sich geradezu zwangsläufig aufdrängt.
Über die Motive und die Person des Attentäters weiß man fast nichts; zumindest erfährt die Öffentlichkeit nichts darüber. Das ist nicht überraschend. Denn wenn auch bei jedem politisch motivierten Attentat sich Verschwörungstheorien sofort einstellen, ist es fast der Normalfall, dass die Täter selbst kaum klar sagen können, was sie eigentlich wollten – außer eben ein „Zeichen zu setzen“ oder einem diffusen Unbehagen an der Person oder den Anschauungen des Opfers Ausdruck zu verleihen.
Der Täter schweigt, aber umso redseliger waren die medialen Kommentare, die dem Attentat einerseits Motive aller Art und andererseits alle erdenklichen Folgen, von seinem Einfluss auf den Wahlausgang bis hin zur Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, zugeschrieben haben. Und zumindest in großen Teilen der deutschen Medienlandschaft war eine Stimmungslage unübersehbar, die ein anonymer – und inzwischen längst identifizierter – Göttinger Student und späterer Deutschlehrer vor fast fünfzig Jahren anlässlich des Terroristenmordes am Generalbundesanwalt Siegfried Buback auf eine Formel gebracht hat. Sie ist inzwischen in den deutschen Sprachschatz eingegangen: „klammheimliche Freude“. So ist es eben bei Attentaten. Auch wenn sie in der Regel Handlungen einzelner Täter oder kleinster Verschwörergruppen sind, finden sie nach der Tat oft ein breites Sympathisantenecho.
Attentate haben eine Nachwirkung, und sie haben oft eine Vorgeschichte. Auch im Falle Trumps war der Boden medial gut vorbereitet. Die seit Jahren sowohl in der US-amerikanischen wie der deutschen Presse – die sich seit dem Auftreten Trumps im besonderen Maße für den Ausgang amerikanischer Präsidentschaftswahlen verantwortlich fühlt – üblich gewordenen Anspielungen auf Adolf Hitler im Zusammenhang mit Donald Trump mögen dazu beigetragen haben, die moralische Hemmschwelle des Attentäters zu senken. Wissen kann man das nicht.
Aber seit der Antike gibt es eine Diskussion über den besonderen moralischen und juristischen Status des „Tyrannenmordes“, dem oft, keineswegs immer, eine höhere Legitimität gegenüber dem gewöhnlichen Mord zugestanden wird. Auch Schiller hat sich viel Mühe gegeben, die Tat Wilhelm Tells moralisch sauber abzugrenzen gegenüber der des selbstsüchtigen Königsmörders Johannes Parricida. Diese Uneindeutigkeit des moralischen und juristischen Urteils reicht bis in die deutsche Verfassung hinein. Im Artikel 20, Abs. 4, des bundesdeutschen Grundgesetzes ist seit 1968 ausdrücklich ein „Widerstandsrecht“ des Volkes gegen „Jeden“ kodifiziert, der die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen will, im Zweifel also auch gegen eine legal ins Amt gekommene Regierung. Ähnlich wie das Asylrecht ist auch dieses verfassungsmäßig abgesicherte Widerstandsrecht eine bundesdeutsche Spezialität, von der man nicht recht weiß, was man davon halten soll.
Das Attentat als Medienereignis
Was von dem Trump-Attentat bleiben wird, lässt sich leicht vorhersagen: Es ist das Bild des Fotografen Evan Vucci. Denn Attentate sind in erster Linie nicht politische, sondern mediale Ereignisse, und ihre historische Bedeutung können sie nur entfalten, wenn sie sich symbolhaft verdichten lassen.
Denn der Sinn eines Attentats ist es eben, eine Öffentlichkeit zu erreichen. Die Reichweite der öffentlichen Wirksamkeit ist naturgemäß abhängig von den verfügbaren Medien. Als erstes medial wirksames Attentat der europäischen Moderne wird man wohl die Ermordung Jean Paul Marats durch Charlotte Corday am 13. Juli 1793 betrachten dürfen. Mit Charlotte Cordays Anschlag wird die extrem niedrige Frauenquote in der Attentatsgeschichte etwas angehoben, die dann erst mit den bundesdeutschen Terroristinnen der 1970er Jahre wieder einen nennenswerten Schub erfuhr. Marat war einer der radikalsten und populärsten Führer der Französischen Revolution gewesen; die Attentäterin hoffte mit ihrer Tat den französischen Bruderkrieg der Revolutionäre untereinander befrieden zu können. Aber wie so oft, eigentlich fast immer, erzielte auch dieses Attentat das Gegenteil der erwünschten Wirkung.
Das Attentat wurde zum europäischen Medienereignis, in Flugblättern und eilig hergestellten Illustrationen wurde die Tat weit verbreitet und damit wurde der Boden bereitet für die Heroisierung, Stilisierung und Idealisierung Marats als einem Märtyrer der Revolution. Der eigentlich mediale Geniestreich war das Gemälde Jacques-Louis Davids, des Hofmalers der Revolution, das den gerade ermordeten Marat in seiner Badewanne liegend zeigt, umgeben von emblematischen Requisiten und programmatischen Schriftstücken. Das Bild wird der Kristallisationskern für den religiöse Züge annehmenden Marat-Kult, und als solcher war es auch geplant. Seitdem weiß man um die Macht der Bilder, wenn es darum geht, die Deutungshoheit über ein Attentat zu gewinnen – wobei die Deutungen stets nachträgliche Inszenierungen der politischen Meinungsmonopolisten sind, die mit den eigentlichen Intentionen des Attentäters selten etwas tun haben.
Das Attentat als historisches Ereignis
Wilhelm Tell ist, anders als Caesar, keine historische Figur, und Schillers wie Shakespeares Drama sind bloße Literatur. Aber die beiden Dramen erfassen einige der typologischen Grundkonstellationen, die sich bei der Betrachtung des historischen Phänomens „Attentat“ zeigen. Wahrscheinlich waren und sind Attentate global verbreitet, wenn auch unterschiedlich gut dokumentiert. Jedenfalls begleiten sie die europäische Geschichte seit der vorantiken Zeit. Das erste gut belegte ist der tödliche Anschlag auf Philipp II. von Makedonien, den Vater Alexanders, im Jahr 336 v.u.Z. durch seinen Leibwächter Pausanius.
Die Grenzen zum gewöhnlichen Mord auf der einen und dem Amoklauf auf der anderen Seite sind fließend. Die entscheidenden Merkmale des „Attentats“ sind der herausragende soziale Rang und die Prominenz des Opfers – das gelegentlich auch ein Bauwerk oder ein Denkmal sein kann –, denn Attentate richten sich in gleichem Maße gegen die Person wie gegen das System, für das diese Person steht. Die Motive der Täter sind meist diffus, sie speisen sich aus übergeordneten abstrakten politischen oder religiösen Ideologien, die aber kaum einmal klar ausformuliert werden.
Den wahllosen und oft tödlichen Messerangriffen auf Menschen im öffentlichen Raum fehlen diese Merkmale, sodass man sie nicht als Attentate bezeichnen wird. Nochmals eine andere Qualität haben die seit dem 11. September 2001 üblich gewordenen und seit 2015 massiv zunehmenden paramilitärischen Angriffe islamischer Terroristen auf westliche Gesellschaften: Charlie Hebdo und Bataclan in Paris, Orlando, Nizza, der Berliner Breitscheidplatz, Manchester, Barcelona und der 7. Oktober sind die Chiffren für Massenmorde, die man nicht mehr als Attentate im historiographischen Sinne bezeichnen kann. In ihrer Summe ergeben sie vielmehr das Bild einer asymmetrischen Kriegsführung gegen die westliche Welt.
In der deutschen Nachkriegsgeschichte spielen Attentate nur eine geringe Rolle. Über Attentatsversuche in der DDR gibt es nur Gerüchte; in die Ereignisgeschichte der Bundesrepublik haben sich dagegen einige Attentate als historische Wegmarken eingeschrieben: Dazu gehört das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 und vier Jahre später das Palästinenser-Attentat auf die israelische Olympiamannschaft in München. In den späteren 1970er Jahren zielten die Anschlagserien der RAF-Terroristen auf die Destabilisierung des Staates, die ihnen phasenweise auch gelungen ist. Danach wurde es ruhig, aber der Terror bleibt unberechenbar: Mit dem offensichtlich rechtsextremistisch motivierten tödlichen Anschlag auf den Kasseler Landrat Walter Lübcke vom Juni 2019 konnte niemand rechnen.
Die Demonstration erboster Bauern in Schlüttsiel zu Beginn des Jahres 2024, die den verschüchterten deutschen Wirtschafts- und Klimaschutzminister zur Flucht auf einer Fähre veranlasste, wird man dagegen kaum als Attentat von historischer Bedeutung wahrnehmen wollen, ebenso wenig wie die offensichtlich seriell vorkommenden, in ihrer Ernsthaftigkeit aber kaum zu überprüfenden Attentats- und Morddrohungen via Internet, die erhalten zu haben sich viele Mitglieder der aktuellen Regierungsparteien rühmen.
Der „20. Juli“
So groß auch die Freude über ein Attentat sein mag – das herausragende Merkmal fast aller, auch der erfolgreichsten Attentate, ist ihre historische Wirkungslosigkeit. Das gilt auch für das tödliche Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns in Sarajewo vom 28. Juni 1914. Es wird routinemäßig für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich gemacht und damit maßlos überschätzt. Zur Auslösung eines Weltkrieges bedarf es mehr als der Pistolenschüsse eines 20-jährigen Gymnasiasten.
Ein Attentat jedoch hat für die Geschichte der Bundesrepublik sinnstiftende Bedeutung erhalten. Der Zufall wollte es, dass eine Woche nach dem Attentat auf den amerikanischen Präsidentschaftskandidaten in Deutschland des achtzigsten Jahrestags des Attentats auf Adolf Hitler gedacht wurde. Der „20 Juli“ ist zu einer symbolüberladenen Chiffre in der bundesdeutschen Erinnerungskultur geworden, die alle anderen, über 40 Attentatsversuche und ‑pläne gegen Hitler, ins Dunkel der Geschichte verdrängt hat. Von allen bekannten Attentats- und Umsturzplänen der neueren Zeit war dies der weitreichendste und gewiss der am sorgfältigsten ausgearbeitete, wobei allen Beteiligten klar sein musste, dass die Erfolgsaussichten gering waren. Beim „20. Juli“ ging es jedenfalls um mehr als ein Attentat. Geplant war ein Sturz der politischen und militärischen Führung und ein Friedensschluss mit den Alliierten. Auf den Verlauf der Geschichte hat das Attentat keinen Einfluss gehabt; es hat die Machtstrukturen des NS-Regimes eher gefestigt als erschüttert.
Die Motive der Attentäter waren angesichts der militärischen Lage sicher von politischer Opportunität mitbestimmt. Aber im gleichen Maße ging es ihnen unverkennbar darum, selbst beim einkalkulierten Scheitern des Umsturzes ihren Platz in der Geschichte als ihrem Gewissen folgende Vertreter eines „anderen Deutschlands“ zu sichern. Das ist gelungen. Das Attentat wurde schnell zu einem Fixpunkt bundesdeutscher Identitätsbildung.
Dass Stauffenberg und sein Umfeld gewiss keine lupenreinen Demokraten waren, ist heute und war auch damals bekannt; die Verschwörer zielten ganz gewiss nicht auf eine Wiederherstellung der Weimarer Republik. Deshalb bedurfte es einige rhetorischer Kunstfertigkeit, dieses Attentat zu einem der Gründungsmythen der demokratischen Bundesrepublik umzudeuten. In seiner Gedenkrede von 1954 unternahm der erste Bundespräsident Theodor Heuss eine vorsichtige Würdigung der Männer des 20. Juli. Das war keine ganz einfache Aufgabe, da die Attentäter auch zehn Jahre danach vom Odium des Verrats, des Eidesbruchs und einer neuen Dolchstoßlegende umgeben waren. Aber nach dieser Rede entfaltete sich zügig eine Erinnerungsroutine, die in ihrer nun 70-jährigen Geschichte ein hinreichend großes Arsenal aus rhetorischen Floskeln bereitgestellt hat, aus dem sich jeder Bundespräsident jedes Jahr seine Rede beliebig zusammenstellen kann.
Als Gründungslegende hat der „20 Juli“ bei weitem nicht die gleiche Bedeutung für die Bundesrepublik wie der ins Jahr 1307 zurückweisende Tell-Mythos für die Schweiz. Daran ändern auch die alljährlich wiederkehrenden und immer lustloser werdenden Erinnerungsrituale nichts.
Attentäter haben ihren Platz in der Geschichte. Welchen Platz sie jedoch in ihr bekommen, hängt weder von ihrer Tat noch von ihnen selbst ab. Aber auch ihre Wirkungsgeschichte ist für die Nachgeborenen nicht beliebig verfügbar. Attentate sind erratische Ausnahmeereignisse, die aus der Normalität des Geschichtsverlaufs herausfallen.
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Am Sonntag, 7. Juli 2024, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag
Vergebene Chancen – verlorene Illusionen
Westdeutsche Literatur 1945 bis 1949
von Peter J. Brenner gesendet.
Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.
Im Mai 1945 lag Deutschland in Trümmern. Zugleich entfaltete sich in den drei westlichen Besatzungszonen, und auf andere Weise auch in der Ostzone, ein reiches literarisches Leben – in dem Rahmen, den die Besatzungsbehörden mit ihrer Kulturpolitik zuließen. Über die Zukunft der deutschen Literatur wurde heftig diskutiert; die Anknüpfung an überlieferte Erzähltraditionen war ebenso eine Option wie die Simulation eines radikalen Neuanfangs oder die nüchtern-realistische Beschreibung der Kriegs- und Nachkriegswirklichkeit. Das meiste davon ist wieder vergessen. Mit der „Gruppe 47“ ging die Literatur der frühen Bundesrepublik einen anderen Weg.