Sieger und Verlierer

Deutschland ist enttäuscht. Die olympischen Sommerspiele in Paris haben nur eine geringe Medaillenausbeute erbracht, und nun wird gerätselt, woran das wohl liegen mag. Als der deutsche Bundeskanzler zusammen mit seiner Gattin vom Glanz einer der wenigen Goldmedaillen etwas abhaben wollte, bekam er von den Olympiasiegern im Kajak-Vierer eine herbe, von den deutschen Medien nur ungern berichtete Abfuhr: Man wolle keine Politiker dort sehen, wo sie sich im Licht fremder Leistungen sonnen können. Die beiden Olympiasieger warfen dem Bundeskanzler und seiner Frau, die als brandenburgische Innenministerin bis 2023 für den Sport in ihrem Bundesland zuständig war, mangelnde Förderung und Unterstützung des Leistungssports vor.

Dabei war die Frage mitgedacht, wie es denn mit dem Leistungsgedanken in der deutschen Gesellschaft überhaupt bestellt sei. Olympische Erfolge haben ihre Grundlage zunächst einmal in der überragenden Leistungsbereitschaft einzelner. Bei den Olympischen Spielen in Paris haben die 454 deutschen Olympiateilnehmer 33 Medaillen gewonnen. Da manche dieser Medaillen in Mannschaftssportarten vergeben wurden, gibt es insgesamt 104 deutsche Medaillengewinner. Das ist eigentlich keine schlechte Ausbeute; schließlich kann nicht jeder gewinnen. Aber auch dem letzten Platz in einem olympischen Vorlauf geht eine jahre- und oft jahrzehntelange Trainingsarbeit unter dem Diktat strengster Selbstdisziplin voraus – eine Leistung im Übrigen, die das um einiges übersteigen dürfte, was die meisten der an der geringen Medaillenausbeute herummäkelnden Journalisten und Politiker aufzuweisen haben. Selbstdisziplin und Leistungswille muss jeder einzelne Sportler selbst aufbringen, aber das ist schwierig in einem gesellschaftlichen Umfeld, das lieber über Leistungsdruck in Schule und Beruf diskutiert als über Leistungs­bereitschaft.

 

Fleiß – eine „deutsche Tugend“

Man sagt gerne, dass der Sport ein Spiegelbild der Gesellschaft sei. Wenn das so ist, dann wirft die deutsche Medaillenausbeute einige Fragen auf. Der Arbeitsminister der deutschen Bundesregierung hatte bereits im Vorfeld, bei der Vorstellung des „Rentenpaketes II“ im Mai 2024, Entwarnung gegeben. Es bestünde kein Grund zur Sorge, denn: „Deutschland ist ein fleißiges Land, ein Land der Arbeit. 46 Millionen Erwerbstätige stehen jeden Morgen auf, und packen an“, versicherte er. Das entspricht zumindest dem Bild, das die Deutschen traditionell von sich selbst haben. „Fleiß“ gehört zu jenem Kernbestand „deutscher Tugenden“, welche die Deutschen sich gerne zuschreiben und die ihnen von ausländischen Beobachtern bis heute auch zugeschrieben werden. Ein Körnchen Wahrheit enthält dieses Selbstbild zweifellos. Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, die aus dem Trümmerhaufen der Nachkriegszeit eine weltweit fast beispiellose Wohlstands­gesellschaft werden ließ, wäre ohne die enorme Anstrengungsbereitschaft der Bevölkerung nicht möglich gewesen.

Dass Arbeit, Fleiß, Anstrengung und Leistungsbereitschaft nicht nur die Grundlagen des Wohlstands, sondern auch herausragende menschliche Tugenden seien, ist eine in die Frühe Neuzeit zurückreichende Vorstellung. Dieses „Arbeitsethos“ ist festeingewurzelt in der westeuropäischen Mentalität, und im besonderen Maße in der deutschen, in der es durch die verschiedenen Verzweigungen der lutherischen Lehre noch einen religiösen Ankergrund erhielt. Daran haben auch marxistische, sozialistische und kommunistische Ideologien nicht gerüttelt.

Selbst die überschwenglichsten Verkünder einer klassenlosen Gesellschaft waren realistisch genug, sich von dieser Tradition nicht gänzlich zu verabschieden. Überhaupt nichts zu tun, war auch für Karl Marx keine Option. Auch er sah in der „Arbeit“ eine „von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit“. Denn das „wahre Reich der Freiheit“, kann eben nur „auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen“. Das kam der Realität schon ziemlich nahe, und wie real diese Einschätzung war, haben die Bewohner des real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion oder in der DDR dann selbst erfahren dürfen. In der DDR-Verfassung von 1949 war ein „Recht auf Arbeit“ verankert, das einer „Pflicht zur Arbeit“ verdächtig nahekam. Als sich das DDR-„Paradies der Werktätigen“ aus der Geschichte verabschiedete, betrug die Wochenarbeitszeit immer noch knapp 44 Stunden.

 

Leistungsdruck

Das ist lange her. Heute hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass die Deutschen auch schon bei einer 40-Stunden-Woche zu viel arbeiten. Das Ansinnen, fünf Tage in der Woche täglich knapp acht Stunden arbeiten zu sollen und nur vier bis sechs Wochen Jahresurlaub zu haben, wird als unerträglicher und unzeitgemäßer Leistungsdruck wahrgenommen. Die daraus resultierende periodisch erhobene Forderung nach einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich genießt große Popularität. Auch im Frühjahr 2024 ging sie wieder durch die Medien. In anderen Ländern dieser Welt, in China zum Beispiel, ruft sie Heiterkeit hervor.

Im Zug dieser Diskussionen wurden Statistiken über die jährliche Arbeitszeit in verschiedenen Ländern verbreitet. In Deutschland ist man inzwischen bei 1200 Jahresarbeitsstunden angekommen und belegt damit, ähnlich wie bei den Olympiamedaillen, einen der hinteren Plätze unter den Industrieländern. In China wird mit rund 2500 Stunden doppelt so viel gearbeitet wie in Deutschland. Das ist weniger dramatisch, als die enorme Diskrepanz auf den ersten Blick glauben machen könnte. Denn 2500 Arbeitsstunden im Jahr bedeuten nichts anderes als eine 48-Stundenwoche und zwei Wochen Jahresurlaub – das sind Rahmenbedingungen, die in den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik normal waren.

Nun ist die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft an der Zahl der erbrachten Arbeitsstunden kaum ablesbar. Wenn es so wäre, hätte die Wirtschaft der DDR der bundesdeutschen überlegen sein müssen. So war es aber nicht, denn wichtiger als die Zahl der Arbeitsstunden ist die Produktivität der Arbeit – und die wiederum hängt von mancherlei Faktoren ab: vom technischen Stand der Produktivkräfte, von der Leistungsfähigkeit der Infrastruktur, von der Berechenbarkeit und der Funktionalität der staatlichen Bürokratie und nicht zuletzt von der Ausbildung und schließlich auch von der Motivation der Arbeitskräfte. Und mit der hat es seine eigene Bewandtnis.

 

Das Recht auf Faulheit

Die Einstellung der Deutschen zur Arbeit hat sich im neuen Jahrtausend erkennbar gewandelt. Marx‘ Einsicht in die Arbeit als „ewiger Naturnotwendigkeit“ ist zwar keine besonders attraktive, dafür aber eine ziemlich realistische Vorstellung. Gegenstimmen haben sich nur wenige gefunden, aber die Faulheit hat durchaus ihre Fürsprecher gehabt. Friedrich Schlegel sprach um 1800 in seinem Roman „Lucinde“ – er trug den Untertitel „Bekenntnisse eines Ungeschickten“ – von der „gottähnlichen Kunst der Faulheit“ und forderte, man solle das „Studium des Müßiggangs“ zur „Kunst, zur Wissenschaft, ja zur Religion bilden“. Ob man für dieses Studium dann auch noch Leistungspunkte bekommen soll, ist eine andere Frage. Weit entfernt ist man davon an deutschen Universitäten mit ihren „Räumen der Stille“ und „safe spaces“ nicht mehr.

Ein knappes Jahrhundert nach Schlegel veröffentlichte ausgerechnet Karl Marx‘ Schwiegersohn, der gebürtige Kubaner Paul Lafargue – der übrigens von seinem Schwiegervater ebenso wie von dessen Mäzen Friedrich Engels mit sehr hässlichen rassistischen Ausdrücken bedacht wurde –, das Gegenprogramm zum bürgerlichen wie sozialistischen Arbeitsethos. In einem Essay von 1880 propagierte er ein „Recht auf Faulheit“, das er dem von der Pariser Februarrevolution 1848 geforderten „Recht auf Arbeit“ entgegenstellte. Durchgedrungen ist er damit zunächst nicht.

Wieder ein knappes Jahrhundert später ist es dem Schriftsteller Arno Schmidt gelungen, mit einer Bemerkung zum Thema „Faulheit“ auch bei einer literarisch desinteressierten Öffentlichkeit einen Skandal hervorzurufen: Das ganze deutsche Volk sei, so ließ er 1973 in seiner „Dankadresse zum GoethePreis“ vortragen, „an der Spitze natürlich die Jugend, mit nichten überarbeitet, vielmehr typisch unterarbeitet: ich kann das Geschwafel von der ‹40=Stunden=Woche› einfach nicht mehr hören.“ Der Satz löste große Empörung aus. Denn die 40-Stundenwoche, die in Westdeutschland seit den 1950er Jahren als Chiffre für gewerkschaftspolitische Forderungen und Erfolge verwendet wurde, galt als eine der zentralen Errungenschaften des Sozialstaates, die polemisch in Frage zu stellen ein Tabu berührte.

Selbstverständlich war es schon in dieser Zeit, den goldenen Jahren der Bundes­republik, nicht mehr, sich auf das altpreußische und altprotestantische Arbeitsethos zu berufen. Der westdeutsche Sozialstaat, der seine Wurzeln noch in der Bismarckzeit hatte, war gerade dabei, sich zum Wohlfahrtsstaat zu wandeln; und hier war Arbeit nicht mehr der höchste aller Werte. Inzwischen ist die Vorstellung weiter verbreitet, dass man auch ein Anrecht auf Nichtstun habe, ohne vorher gearbeitet zu haben. Das Deutsche hat dafür kein eigenes Wort zur Verfügung, deshalb musste eins aus dem Englischen importiert werden: „Chillen“. Immanuel Kant verwendete für diese Form der Untätigkeit noch einen anderen Begriff. Den „Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit“ nannte er „Faulheit“.

 

„Die Vögel unter dem Himmel“

Nun gibt es aber das Problem, dass auch Menschen, die nicht oder nur ungern und wenig arbeiten, von etwas leben müssen. Dafür bietet der moderne Wohlfahrtsstaat eine Lösung an, die an das neutestamentliche Modell des Matthäus-Evangeliums angelehnt ist: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ (Mt. 6,26) Dieses Konzept hatte der deutsche Bundesarbeitsminister wohl im Hinterkopf, als er die Deutschen wegen ihres Fleißes lobte. Das Lob war etwas vergiftet, denn der Arbeitsminister, der in Personalunion auch Sozialminister ist, fügte gleich hinzu, wem dieser Fleiß zugute kommen solle: Die fleißigen Erwerbstätigen sorgen „für die soziale Sicherheit ihrer Eltern und Großeltern, der 21 Millionen Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland.“ Nun arbeiten in einer modernen Gesellschaft Menschen nicht in erster Linie, um die „soziale Sicherheit“ anderer zu gewährleisten, sondern um ihrer eigenen Lebensunterhalt zu sichern und um einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten, den man möglicherweise sogar noch vererben kann. Auch der Gedanke an die vom Minister vergessenen nicht erwerbstätigen Zuwanderer, Asylbewerber und andere Transferleistungsempfänger ist wahrscheinlich nicht der Grund, weshalb Erwerbstätige jeden Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen.

Die Bundesrepublik hat ein besonderes Anreizsystem geschaffen, um Menschen von der Arbeit fernzuhalten. Es trägt den sonderbaren Namen „Bürgergeld“ – wahr­scheinlich, weil es von den arbeitenden Bürgern aufgebracht werden muss. Mit diesem „Bürgergeld“ ist der deutsche Sozialstaat nur noch einen Schritt entfernt vom „bedingungslosen Grundeinkommen“. Für das Jahr 2024 sind gut 42 Mrd. Euro im Bundeshaushalt eingeplant, wieder fünf Milliarden mehr als im Vorjahr. Empfangsberechtigt sind fünf Millionen in Deutschland lebende Menschen, von denen behördlicher Einschätzung  zufolge rund 1,6 Millionen arbeitsfähig wären. Fast die Hälfte der „Bürgergeld“-Bezieher hat keinen deutschen Pass, und welchen Pass die andere Hälfte neben dem deutschen noch hat, weiß man nicht.

Wer aber angesichts dieser Zahlen sich berechtigt glaubt, in den Sylter Partyruf „Ausländer raus!“ einzustimmen zu dürfen, wird eine unangenehme Erfahrung machen. Denn die Erfüllung dieser Forderung könnte dazu führen, dass die autochthonen Deutschen jene Arbeiten wieder selbst erledigen müssten, die sie längst an ausländische Zuwanderer abgegeben haben. In den weniger gut bezahlten und körperlich anstrengenden Berufen der Gebäudereinigung, im Hoch- und Tiefbau, in der Gastronomie – auch in der Sylter Partyszene –, im Baugewerbe, in der Transportlogistik, in der Pflege sind Ausländer ebenso, wenn auch nicht im gleichen Maße, überrepräsentiert wie bei den Bürgergeldbeziehern.

 

Work-Life-Balance

Die Entkopplung von Lohn und Leistung ist die Erbsünde der Wohlstands­gesellschaft. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat Goethe die altdeutsche Vorstellung von „Fleiß“ pointiert zusammengefasst: „Alles in der Welt läßt sich ertragen, | Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.“ Die Bundesrepublik hat ihren Einwohnern nicht nur eine Reihe, sondern Jahrzehnte von schönen Tagen verschafft, welche die Deutschen ganz gut ertragen haben. Das ist nicht ohne Folgen geblieben. Wer in einen ererbten Wohlstand hineingeboren wurde oder in ihn hinein immigriert ist, muss sich naturgemäß schwer damit tun, sich eine Vorstellung von den Mühen zu machen, welche diesen Wohlstand hervorgebracht haben.

Humorbegabte Handwerksmeister sprechen von der „Generation Z“, jenen jungen Leuten also, die zwischen 1995 und 2010 geboren wurden, als der „Generation Zumutung“. Dabei ist an eine Zumutung im doppelten Sinn gedacht: für die Handwerksmeister ist es eine Zumutung, Jugendliche ausbilden zu müssen, die es ihrerseits wieder als eine Zumutung empfinden, einer geregelten und dann oft auch noch anstrengenden Arbeit nachgehen zu müssen.

Im Juni 2024 wurde in Deutschland die „Sinus-Jugendstudie“ unter dem beschwingten Titel „Wie ticken Jugendliche?“ veröffentlicht. Fragen nach den Vorstellungen zum künftigen Berufsleben kommen nur am Rande vor, und die Antworten sind sehr konventionell und über die einzelnen Milieus hinweg recht homogen: Alle wünschen sich einen „guten Beruf“, der erfüllend ist, viel Entfaltungsmöglichkeiten und Spielräume bietet, ein sicheres Einkommen und ein geordnetes Leben garantiert. Dass man dafür auch gewisse Vorleistungen erbringen muss, wird widerwillig hin-, wenn auch nicht besonders ernst genommen.

Das neue Zauberwort heißt „Work-Life-Balance“: Der Arbeitnehmer muss wohl oder übel arbeiten, aber er entscheidet weitgehend selbst, wann, wo und wie er das macht. Es liegt auf der Hand, dass das nur in der Arbeitswelt der sozialen Schicht möglich ist, die sich das ausgedacht hat. Ob und wie lange das im globalen Wettbewerb der Volkswirtschaften funktionieren wird, muss sich weisen. Dass man aber mit „Work-Life-Balance“ keine Olympiamedaillen gewinnt, lässt sich jetzt schon vorhersagen.