Hinweis: Am Sonntag, 5. September 2021 – Christoph Martin Wielands Geburtstag – bringt „indubio. Der Podcast von Achgut.com“ eine Diskussionsrunde zu aktuellen Themen der Woche mit dem Gastgeber Burkhard Müller-Ullrich, Peter J. Brenner, Aleksandra Rybińska und Birgit Kelle

 

Die Corona-Republik

„Sind Sie schon geimpft?“ Wie in früheren Zeiten ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen sein konnte und heute das unverbindlichste aller Themen, das Gespräch über das Wetter, schnell in einen ideologischen Meinungsstreit münden kann, so kann die inzwischen obligatorische Frage nach der Impfung leicht eskalieren, wenn die falsche Antwort gegeben wird. Richtig ist ein uneingeschränktes: „Ja, selbstverständlich“. Gerade noch akzeptabel ist ein „Nein, noch nicht“. Wer die Frage aber schlankweg verneint und dieses Nein gar noch einer Begründung unterzieht, setzt sich der Gefahr unverzüglicher sozialer Ächtung aus.

Dabei ist die impfpolitische Argumentationslogik selbst für den geübten Denker nicht ganz leicht nachzuvollziehen: Gesunde Menschen sollen sich impfen lassen, damit sie niemanden infizieren, der schon geimpft ist und deshalb nicht infiziert werden kann. Im real existierenden Sozialismus nannte man so etwas Dialektik, im realen Leben heißt es Widersinn.

Mit der regierungsamtlichen Nötigung zu einer möglichst flächendeckenden Durchimpfung der Bevölkerung hat die Coronapolitik eine neue Dimension erreicht. Die weitgehende Lahmlegung des öffentlichen Lebens, Reisebeschränkungen, die Verhinderung sozialer Kontakte, die Stilllegung ganzer Wirtschaftszweige, sind selbstverständliche Praktiken des Corona-Regimes geworden. Die Rechtswissenschaftler Jens Kersten und Stephan Rixen haben eine Liste der grundgesetzlichen Freiheitsrechte erstellt, welche durch die infektionsschutz­rechtlichen Maßnahmen betroffen sind: Art. 2,1; Art 3, 1; Art 4, 1u. 2; Art 5, 3; Art 7,1; Art. 12,1; Art. 8,1; Art, 91; Art 11,1; Art. 13,1; Art. 14,1; Art. 16,1. Das hat noch keine vorherige Bundesregierung zustande gebracht, aber auf großes Interesse stößt das in der Öffentlichkeit nicht.

Das durch politischen, sozialen und bald auch ökonomischen Druck verordnete Impfregime bringt nun eine grundsätzlich neue Qualität in den Maßnahmenkatalog. Es erlaubt den staatlichen Zugriff auf den Körper. Damit ist die vorletzte Bastion des abendländisch-neuzeitlichen Menschenbildes bedroht. Das „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ – Art. 2,2 GG, aber was zählt das schon – ist zur Disposition gestellt. Immerhin: Die letzte Bastion bürgerlicher Grundrechte wankt noch nicht. Jeder kann weiterhin denken, was er will, auch wenn es nicht unbedingt ratsam ist, diese Gedanken zu äußern. Hier gilt die Maxime, die Kant in seinem berühmten Aufklärungsaufsatz Friedrich II. zugeschrieben hat: „Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!“

 

 „Der Fluch der bösen Tat“

Nun gibt es zweifellos gute Gründe für das Impfen. Das Impfen ist eine der großen Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Medizingeschichte ist Fortschrittsgeschichte, und diese Fortschrittsgeschichte in Misskredit gebracht zu haben, ist nicht die geringste Nebenwirkung der vollkommen missratenen deutschen Impfpolitik. Der Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart hat in fasslicher Form den großen Bogen der Impfentwicklung vom frühen 18. Jahrhundert bis zur Corona-Epidemie nachvollzogen. In der Summe ist es eine Fortschrittsgeschichte, die aber auch ihre Rückschläge und Irrwege kannte. Das sollte man nicht ganz aus den Augen verlieren, wenn man über Corona-Massenimpfungen spricht. Dem Impfstoff des Pharmakonzerns BioNTech/Pfizer wird nachgerühmt, der erste auf der mRNA-Technologie basierende zugelassene Impfstoff zu sein. In so kurzer Zeit einen offensichtlich wirksamen Impfstoff – wie wirksam, weiß man noch nicht – entwickelt und auf den Markt gebracht zu haben, ist eine Leistung, auf die Wissenschaftler und Unternehmer stolz sein können. Der Virologe Alexander Kekulé jedenfalls ist begeistert: „Das ist ein Weltexperiment, ein historisches Experiment seit Entstehung des Homo sapiens.“ Ein Drittel der Menschheit sei inzwischen gegen Corona geimpft, heißt es. Das wären zwei bis drei Milliarden Menschen weltweit. Hoch und heilig versichern die zuständigen Wissenschaftler, dass die mRNA-Impfung keine genetischen Veränderungen hervorrufen werde. Höchstwahrscheinlich haben sie Recht. Man will es wenigstens hoffen, denn wenn sie Unrecht haben, wäre ein einzigartiges, praktisch global wirksames Experiment schief gegangen.

An den Rand gedrängt wird in der Impfdiskussion die eigentlich allgemein bekannte Tatsache, dass die Impfstoffe immer noch unter einer Notzulassung angewendet werden, die auf sehr schwachen europarechtlichen Grundlagen beruht und deren Details von jedem EU-Staat selbständig geregelt werden müssen. Die erfahrungsgesättigten Impfstoffforschungsrichtlinien in Deutschland, die sich von 1900 über 1931 bis zum Arzneimittelgesetz von 1976 entwickelt haben, wurden mit einem Federstrich beiseite geräumt. Wirklich vertrauenserweckend ist das nicht. Unter dieser Perspektive handelt es sich bei der Corona-Impfung um den größten medizinischen Feldversuch der Medizingeschichte, der das sowjetische Massenexperiment der Polioimpfung von 70 Millionen Probanden mit einem kaum erprobten Impfstoff in den 1950er Jahren um einiges überbietet. Auch damals spielten außermedizinische Gesichtspunkte hinein – der Wettstreit der politischen Systeme im kalten Krieg und ganz triviale Vermarktungsinteressen.

Bei der ideologisch aufgeladenen Corona-Impfdiskussion wird stets suggeriert, es gehe ums Ganze, um alles oder nichts. Tatsächlich aber geht es ums Detail, um logistische Abläufe, die beherrscht werden müssen, um die richtige Einschätzung der Wirksamkeit von Impfstoffen, um eine seriöse Abwägung von Risiken. Bei einer gigantischen Anstrengung wie der globalen Corona-Impfung passieren zwangsläufig Fehler bei der Herstellung, Distribution und Verabreichung, die ins Kalkül mit einbezogen werden müssen. Das war bei der insgesamt höchst erfolgreichen Polioimpfung nicht anders: Der Impfstoff funktionierte wie erwartet, nur wurden durch einen Produktionsfehler 120 000 fehlerhafte Dosen verimpft, was zu über 100 Todesfällen führte.

Auf solche Einwände können allerdings nur Impfskeptiker kommen. In der Skala des regierungsamtlichen Stigmatisierungsvokabulars rangiert der Impfskeptiker an dritter Stelle hinter dem Corona-Leugner und dem Impfverweigerer, aber noch vor dem Impfzögerer. Aber der „Skepsis“, daran muss gelegentlich doch erinnert werden, dem ständigen Zweifel am Gegebenen, verdankt sich jedweder wissenschaftliche, auch jeder medizinische Fortschritt. Man würde sich wohler fühlen, wenn auch diese Skepsis ihren legitimen Platz hätte in der Impfdiskussion und in der Impfpraxis.

In ihrer Regierungserklärung vom 25. August 2021 zum Afghanistan-Desaster traf die Bundeskanzlerin die Feststellung: „Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos“. Wie man „im Nachhinein“ etwas „vorherzusehen“ vermag, ist eine Frage, über die Philologen, am besten auf den Spuren Karl Valentins, noch länger grübeln werden. Ansonsten ist die Feststellung zweifellos zutreffend.

Aber was ist von einer Regierung zu halten, die es selbst „hinterher“, nach eineinhalb Jahren, noch immer nicht besser weiß und besser macht? Denn nach einer lähmenden Anfangsphase hat sich die deutsche Corona-Politik auf einen Pfad unbeirrbarer Alternativlosigkeit begeben, der sich beharrlich jeden neuen Erkenntnissen verweigert, alle Irrtümer abstreitet und alle Misserfolge leugnet. Richtig wäre es doch, statt flächendeckender Pauschal­maßnahmen gezielt auf Risikosituationen zu reagieren, vulnerable Gruppen besonders zu schützen und vor allem sich möglichst viele medizinische, politische und administrative Optionen offen zu halten, statt alles auf die eine Karte der „Durchimpfung“ zu setzen, von der längst absehbar ist, dass sie die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen wird. Aber so ist es nun einmal: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, | dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“

 

Bratwurstmedizin

Die deutsche Corona-Politik gibt eineinhalb Jahre nach Beginn der Epidemie kein gutes Bild ab. Auch deshalb ist nicht jeder bereit, der Weisheit medizinischer und politischer Ratschläge zu vertrauen und sich ohne Wenn und Aber impfen zu lassen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat die Impfgegner sorgfältig studiert, sie in fünf Gruppen eingeteilt, von den „Misstrauischen“ bis zu den „Trittbrettfahrern“, und – wissenschaftlich fundiert – festgestellt, dass es zum guten Teil Ostdeutsche, Frauen, Migranten und Ungebildete mit weniger als zehn Jahren Schulbildung seien, die sich dem Impfen verweigern. Eine seltsame Allianz.

Um diese verlorenen Seelen dennoch zu erreichen, müssen neue Wege gefunden werden. In Thüringen hat es sich bewährt, zusätzlich zur Impfdosis eine Bratwurst zu verabreichen. Bei impfunwilligen Ostdeutschen mag das wirken, bei Migranten eher weniger. Aber hier gibt es andere Vorschläge. Shisha-Bars wurden vom Gesundheitsexperten Lauterbach als Impflokale im Gespräche gebracht; als Testzentren haben sie sich bekanntlich bereits bewährt – zumindest für die Betreiber. Der Gesundheitsminister will auf Markt- und Sportplätzen, vor Kirchen und Moscheen impfen lassen und wünscht sich Drive-in-Impfungen, bei denen man durchs Autofenster seine Impfung empfängt. Ende August 2021 kann man sich tatsächlich schon in den Berliner S-Bahnen impfen lassen. Damit hat die medizinische Impfpraxis das Niveau erreicht, das sie in der Regierungsrhetorik immer schon hatte.

Das „Heilmittelwerbegesetz“ verbietet es, fälschlich den Eindruck zu erwecken, dass ein „Erfolg mit Sicherheit erwartet werden kann“ (§ 3 HWG); und es schreibt bei „einer Werbung außerhalb der Fachkreise“ ausdrücklich den berühmten Warnhinweis über „Risiken und Nebenwirkungen“ vor (§ 4 HWG). In der regierungsamtlichen Impfwerbung sucht man danach vergeblich, und die Herstellerangaben, dass die Impfstoffe eine Wirksamkeit von 95 Prozent hätten, ist schon dicht an der fälschlichen Behauptung, ein Erfolg sei mit Sicherheit zu erwarten. Dass die Impfstoffe ihr 95-Prozent-Wirkungs-Versprechen nicht halten werden, war von vornherein abzusehen und hat sich inzwischen bestätigt. Wer sicher von der Impfung profitieren will, sollte BionTech-Aktien kaufen. Gegenüber dem ersten Vorjahres­quartal hat sich der Umsatz der Firma versiebzigfacht und die Umsatzrendite beträgt über 50 Prozent. Für solche Werte müsste man sonst schon ins Drogengeschäft oder in den Waffenhandel einsteigen.

 

Die offene Gesellschaft braucht ihre Feinde

Das Leitbild der modernen Medizin ist der „mündige Patient“, der vor jedem medizinischen Eingriff von seinem Arzt sorgfältig, im Blick auf seinen Gesundheitszustand und seine individuellen Lebensumstände beraten wird und der auf dieser Grundlage seine persönliche Entscheidung trifft und verantwortet. .

In der Corona-Epidemie gilt das alles nicht mehr. In ihrer Impfpropaganda ist die Regierung nicht besonders wählerisch. Auch der Bundespräsident wird eingespannt; im Juli forderte er per Videobotschaft: „Zeigen Sie Verantwortung für sich und für andere. Lassen Sie sich impfen!“ Als Gegenleistung versprach er diesmal keine Bratwurst, sondern „mehr Freiheiten“: „Jeden Tag, mit jeder Impfung befreien wir uns ein Stück mehr aus den Fängen der Pandemie und holen uns unser Leben zurück“ – „wir“ befreien uns! Als ob der Bundespräsident oder irgendein Mitglied des Bundeskabinetts irgendeine der Einschränkungen erdulden müsste, welche sie ihrem Wahlvolk auferlegen.

Von „Lockerungen“ – ein Begriff aus dem Strafvollzugsgesetz (StVollzG § 11) – ist die Rede, und wie verzweifelt muss die Lage sein, wenn ein Mitglied ausgerechnet einer Merkel-Regierung, nämlich der Gesundheitsminister, die Impfung als „patriotischen Akt“ definierte, während sein Kabinettskollege Altmaier, der aus unbekanntem Grund Wirtschaftsminister geworden ist, die Impfeinladungen mit dem Hinweis „Corona tötet“, versehen will. Am gleichen Tag versprach Spahn: „Wir impfen Deutschland zurück in die Freiheit“. Und eine bekannte Völkerrechtlerin und Kanzlerkandidatenaspirantin sprach zwei Wochen später den Umkehrschluss unverhohlen aus: dass Ungeimpfte nicht die gleichen Freiheitsrechte haben dürfen wie Geimpfte. Der rheinland-pfälzische Gesundheitsminister fügte Ende August hinzu, dass man die Ungeimpften im Winter scharf beobachten werde – Allmachtsphantasien einer im kleinbürgerlichen Machtrausch verfangenen Funktionärskaste.

Zu den Verlockungen mit der Bratwurst treten also die Drohungen mit dem Freiheitsentzug. Gewiss hat niemand die Absicht, eine Impfpflicht einzuführen, genauso wenig wie je eine Berliner Mauer gebaut wurde – am Ende wurde es dann ein „antifaschistischer Schutzwall“ –, aber wer nicht geimpft ist, soll aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden oder zumindest finanzielle Buße in Form selbst zu bezahlender Dauertests tun müssen: „Für Ungeimpfte wird es ungemütlich“, jubelte der Bayerische Rundfunk am 10. August 2021, und die Tagesschau fügte hinzu, dass es auch teuer wird: Wer künftig Krankenhäuser, Pflegeheime, Sport-, Kultur- und Freizeitveranstaltungen, Fitnessstudios, Hallenbäder, Hotels, Restaurants oder Cafés, Friseure oder Kosmetikstudios besuchen will, muss einen selbstbezahlten negativen Corona-Test vorweisen; und über den impf- oder testpflichtigen Zutritt zu Einzelhandelsgeschäften, öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Wahllokalen wird bereits diskutiert. Wie teuer das wird, verschweigt man noch; im benachbarten Ausland kosten die Tests zwischen 25 und 150 Euro. Die regierungstreuen Sozialverbände haben sich zu diesen Regelungen, die in erster Linie die treffen, die es sich nicht leisten können, übrigens überhaupt nicht oder nur sehr zurückhaltend geäußert.

Nun könnte man denken, eine Regierung, die ein derart trostloses Bild abgibt, könne ihr Volk nur unter Androhung von Gewalt bei der Stange halten. So ist es aber nicht, im Gegenteil. Dem Machtrausch auf der einen Seite entspricht die Unterwerfungslust auf der anderen. Die Urangst der Deutschen, sie könnten das Vertrauen ihrer Regierung verlieren, hat durch Corona offensichtlich einen neuen Schub bekommen.

Eigentlich sollte man meinen, dass man Menschen nicht mit Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen, Ausgrenzungen, Stigmatisierungen dazu bringen kann, etwas zu tun, wovon sie nicht wirklich überzeugt sind. Aber es funktioniert. Denn die „offene Gesellschaft“ braucht ihre Feinde. Das Leben wird einfacher, wenn man komplexe gesellschaftliche und individuelle Problemlagen auf ein einfaches „Ja oder Nein“, „Geimpfter oder Gefährder“, „Freund oder Feind“ eindampfen kann. Es wird noch einfacher, wenn die Freunde und die Feinde ein Gesicht haben, und sei es auch durch eine Maske verdeckt, und am einfachsten wird es, wenn man selbst auf der richtigen Seite steht und deshalb auf die Gunstbezeugungen der Regierung rechnen darf.