Schulschließungen

An einem normalen Arbeitstag kommen in Deutschlands Klassenzimmern knapp 12 Millionen Menschen zusammen; 11 Millionen Schüler und 800000 Lehrer an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen. Das sind rund 15 Prozent der deutschen Bevölkerung. Eine sofortige Schließung der Schulen zu Beginn der Corona-Krise hätte also nahe gelegen. Sie hätte den geringstmöglichen wirtschaftlichen Schaden und vermutlich einen hohen epidemiologischen Effekt gehabt. Aber bevor die Politik sich zur Schließung von Schulen durchringen konnte, wurde mit dem Volkwagenwerk das größte deutsche Industrieunternehmen und der weltgrößte Automobilkonzern geschlossen, Audi, Daimler, BMW, Ford und andere Unternehmen der Automobilbranche folgten, wodurch ein unabsehbarer betriebs- und volkswirtschaftlicher Schaden entstand.

 

Schlüsselkinder und Betreuungsfälle

Diese seltsame Prioritätensetzung ist erklärungsbedürftig. Der Bundes­gesundheitsminister hat die Erklärung schon in einer frühen Phase der Krise angedeutet: Schulen müssen, ebenso wie erst recht die vorschulischen Einrichtungen, geöffnet bleiben, damit die Kinder betreut werden.

Damit gibt er ungewollt die Antwort auf eine Frage, die vor nunmehr zwei Jahrzehnten Hermann Giesecke in seinem immer noch lesenswerten Buch „Wozu ist die Schule da?“ stellte: zur Kinderbetreuung. Denn in der Krise entpuppt sich die deutsche Schule als Dienstleistungsunternehmen für Betreuungsaufgaben, eine Entwicklung, die sich schon in der Ganztagsschuldebatte abgezeichnet hatte. In erster Linie geht es darum, dass beide Eltern ihren Berufen nachgehen können, und für „systemrelevante“ Berufe wird, je nach Bundesland unterschiedlich, eine Notbetreuung aufrechterhalten. Das sind administrative Maßnahmen, die in der Krise ihren Sinn haben.

Warum es aber so kommen konnte, dass man Grundschulkindern, von älteren ganz zu schweigen, nicht mehr zutraut, eine Arbeitstag alleine oder mit den Geschwistern zu Hause zu verbringen, ist eine Frage, die vor fünf Jahrzehnten niemand gestellt hätte. Alleinerziehende Mütter oder doppeltberufstätige Eltern sind ja keine Errungenschaft der Jetztzeit; auch in den Nachkriegsjahrzehnten gehörten sie kriegsbedingt zur gesellschaftlichen Normalität. In der DDR reagierte man darauf wie heute in der Gesamtrepublik: mit staatlicher Rundumbetreuung vom Krippenalter an, in Westdeutschland blieb es den einzelnen Familien überlassen, eigene Lösungen zu finden. Oft war die Lösung das „Schlüsselkind“: das Schulkind, das einen eigenen Schlüssel hatte und nachmittags alleine zu Hause war. Pädagogisch optimal war das nicht, aber es musste gehen und es ging meistens auch.

Heute löst diese Vorstellung blankes Entsetzen aus. Wahrscheinlich waren es nicht zuletzt Hollywood-Filme – in denen einmal auch Donald Trump als Schauspieler auftrat, was die Sache nicht besser macht –, welche Ängste davor geschürt haben, Kinder allein zu Hause zu lassen. Eine Schule, die immer mehr Familien- und Fürsorgepflichten übernimmt, schickt die Schüler in der Corona-Krise in eine soziale Wüste, wenn sie in ihren eigenen vier Wänden bleiben müssen.

Dabei entspricht doch gerade dieses Schlüsselkind dem selbstverständlich gewordenen Leitbild der modernen Pädagogik, dem Leitbild des „selbstständigen Kindes“, das in der Lage ist, seinen Alltag weitgehend selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu regeln, ohne dass ihm Erwachsene reinreden.

 

Lernen in der Krise

Was für den Alltag gilt, sollte nach gemeinpädagogischer Auffassung erst recht für den Unterricht gelten. Was man seit Jahrzehnten einer Schülergeneration nach der anderen, von der ersten Klasse bis zum Abitur, eingehämmert hat: eigenverantwortliches Arbeiten, selbständiges Lernen, Lernen des Lernens, könnte sich jetzt bewähren. Lehrer, so hieß es, seien überflüssig geworden, im Klassenzimmer allenfalls noch geduldet als learning facilitator oder Moderator selbstgestalteter Lernprozesse.

Aber das Vertrauen auf den Erfolg dieser Didaktik scheint nicht sehr groß zu sein; zu Recht wahrscheinlich. Fachleute rätseln jetzt in den Feuilletons darüber, wie denn die Schüler in ihren eigenen vier Wänden zum Lernen oder wenigstens zum Vertreiben ihrer Langeweile gebracht werden können. Vorstellbar ist nicht mehr, dass man den Schülern einfach, wie früher bei den Hausaufgaben, ein Pensum aufgibt, das sie sich aus ihren Schulbüchern – die gibt es nach wie vor – erarbeiten sollen. Und den Eltern wird im lehrenden Umgang mit ihren Kindern vielleicht bewusst, dass es nicht immer am Lehrer liegen muss, wenn im Unterricht nichts herauskommt.

Jetzt sei die Stunde des Online-Learning gekommen, könnte man glauben. Es steht in der Tat außer Frage, das Online-Lernen in der Zeit eines unkalkulierbaren Unterrichtsausfalls eine gute Lösung ist. Die technischen Voraussetzungen dafür darf man nicht überbewerten. Am Ende könnte es auch im Online-Schulbetrieb so funktionieren wie es jetzt, der Not gehorchend, in den vielen Betrieben funktionieren muss, die auf spontan geschaffenen Home-Office-Betrieb umstellen: dass eben Lehrer wie Schüler auf ihre privaten technischen Ressourcen zurückgreifen und dass die Flexibilität der digitalen Technologien dazu genutzt wird, sich den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen – die vielen Pläne, welche den alltäglichen Unterricht bestimmen, Stundenpläne, Wochenpläne, Stoffverteilungspläne, Lernfortschritts­kontrollen müssen dann auch einmal zurückstehen.

Ob da nun dieser oder jener Aspekt des Lernplans ungelernt bleibt, ist am Ende auch unwichtig. Denn was in der Schule gelernt wird, ist ohnehin nur ein winziger Ausschnitt aus dem unendlichen Meer des Wissenswerten. Die didaktische Bedeutsamkeit des schulischen Lehrstoffs bemisst sich immer an seiner exemplarischen, seiner welterschließenden Kraft; und da hält im Augenblick die Wirklichkeit mehr Lehrstoff bereit, als es jedes Schulbuch könnte.

Online-Learning ist jetzt eine unverzichtbare, aber eine zwiespältige Lösung. Hier sind die Lehrer nicht nur nicht überflüssig, sondern doppelt gefragt und gefordert: Sie müssen eine Didaktik entwickeln, die auch digital funktioniert; und sie müssen ihre Schüler vor der Übergriffigkeit der digitalen Medien schützen. Denn Online-Medien sind grundsätzlich keine Helfer, sondern Konkurrenten von Pädagogen; sie entfalten eine erzieherische Eigendynamik, durch die sich ungewollt und unerwünscht Denkformen, Arbeitsformen, Wahrnehmungsformen verändern.

Den Unterricht im Klassenzimmer können diese Technologien nicht kompensieren oder ersetzen; sie können nur den Ausfall überbrücken. Denn Schule hat nicht nur eine kognitive und nicht nur eine kuratorische Aufgabe, sie hat auch sozialisierende Effekte, gewollte und ungewollte. Die Corona-Krise wird noch einmal bewusst machen, was man eigentlich schon weiß: dass Unterricht auf einer personalen Beziehung beruht; dass er den persönlichen Kontakt, den sozialen Verbund im Klassenzimmer, den lehrenden Lehrer und möglichst auch den lernenden Schüler braucht. Das gilt für die Schulen, das gilt für die Universitäten, und das gilt für die Weiterbildung.

 

Wer wird gebraucht?

Und am Schluss darf die ewige bundesdeutsche Schuldebattenkrankheit nicht fehlen: Was wird aus dem Abitur? Darf es stattfinden oder nicht, und was wird, wenn es verschoben wird oder überhaupt nicht stattfindet? Mit solchen Fragen konnten die Kultusminister der Länder mitten in der Corona-Krise einige Tage lang Schlagzeilen und besorgte Kommentare hervorrufen.

Nach den anderen, den Nicht-Abiturienten und ihren beruflichen Schulabschlüssen, fragte niemand. Aber auf die kommt es jetzt an. Gewiss werden auch in Krisenzeiten Absolventen höherer Bildungsgänge an Schlüsselstellen der Gesellschaft gebraucht; Ingenieure, Naturwissenschaftler, umsichtige Wirtschaftsmanager und leistungsfähige Verwaltungsbeamte.

In der „Allgemeinverfügung“ zum Vollzug des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) des „Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege“ werden, ähnlich wie in anderen Bundesländern, die „systemrelevanten Berufe“ aufgelistet. Die Liste mag für manchen, der nicht vorkommt, ernüchternd und kränkend sein. Medienschaffende, Soziologen, Politiker mögen glauben, dass ihre Arbeit für den „Zusammenhalt“ der Gesellschaft wichtig ist. Für das Funktionieren der Gesellschaft braucht man andere Berufe. Dass die in der deutschen Bildungswirklichkeit völlig marginalisierten Gesundheits- und Pflegeberufe zentrale Bedeutung haben, dürfte jetzt den letzten Bildungsjournalisten und ‑politikern klar geworden sein, und dass es ohne Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst nicht geht, sieht man vielleicht sogar in Leipzig-Connewitz ein. Aber es werden auch die sichtbar, die im Verborgenen ihre Arbeit tun: Energieversorger, Wasserwerke, Telekommunikationsdienste, Entsorgungsdienste – gemeint ist die Müllabfuhr –, öffentlicher Nahverkehr und Einrichtungen der Lebensmittelversorgung.

Wer in diesen Berufen arbeitet, hat in der Regel kein Abitur. Hier arbeiten die Absolventen der mittleren Bildungsabschlüsse und die daraus wiederum hervorgehenden Absolventen der Berufsober‑ und Fachoberschulen und der Schulen des Gesundheitswesens. In der Krise sind sie es, die sich als systemrelevant erweisen und in vorderster Front ihren Kopf hinhalten.

 

Lernen aus der Krise

Zum Schulunterricht gehört auch das verborgene Curriculum, das, was nicht in den Lehrplänen steht und doch gelernt wird, wenn jeden Tag Schüler und Lehrer zusammenkommen. Auch die Corona-Krise hält für die Schüler solche verborgenen Lehren bereit. Gemessen an den Katastrophenerfahrungen, welche ihre dritte Vorgängergeneration, vor allem die in den 1920er Jahren Geborenen, machen musste, wird die jetzige Schülergeneration glimpflich davonkommen. Das sei ihr gegönnt.

Aber sie sollte doch ihre Lehren aus der Krise ziehen, und dabei sollten ihr die Erwachsenen behilflich sein. Sie sollten lernen, dass es echte Krisen gibt, und nicht nur herbeigeredete Katastrophen, die man einfach wegstreiken kann. Niemand hat sich eine Corona- oder eine sonstige Krise gewünscht, um diese Lektionen noch einmal zu lernen. Aber die Krise ist eine Lehre fürs Leben, die in den Biographien der jetzigen Schülergeneration und dem kulturellen Gedächtnis Europas ihren Platz behalten muss.