Der Mantel des Samariters

In der politischen Diskussion der Gegenwart spielt die Berufung auf „unsere westlichen“ – wahlweise auch „christlichen“, „europäischen“, seltener „abendländischen“ – „Werte“ eine Schlüsselrolle. Wie es mit der Kenntnis dieser Werte bestellt ist, zeigt eine Episode aus der bundesrepublikanischen Fernsehlandschaft. Am 11. September 2020 sendete das ZDF-Morgenmagazin ein fünfminütiges Interview mit der Fraktionsvorsitzenden der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ im Deutschen Bundestag, Katrin Göring-Eckhardt. Sie befand sich gerade auf einem Ausflug nach Lesbos, wo sie die Reste des durch Brandstiftung zerstörten Flüchtlingslagers Moria besichtigt hatte. Die Gelegenheit nutzte sie, noch einmal eindringlich dafür zu werben, dass Deutschland noch mehr Flüchtlinge von dieser Insel aufnehmen müsse.

Warum das so sein soll, sagte sie nicht. Aber zur Bekräftigung ihrer Forderung verwies sie auf den barmherzigen Samariter, der schließlich auch seinen Mantel mit Bedürftigen geteilt habe: „Vielleicht mal ganz einfach in die Ohren von Christdemokraten gesprochen: Der barmherzige Samariter, der hat auch den Mantel geteilt und hat nicht etwa gewartet, bis irgendjemand gekommen ist und gesagt hat, ich wäre auch noch bereit.“

Dass sie hier eine Erzählung aus dem Lukas-Evangelium (Lk 10, 30–37) mit einer Heiligenlegende aus dem 4. Jahrhundert durcheinander wirft, hat kaum jemand gemerkt. Gestört hat es erst recht keinen. Man wusste ja, was sie gemeint hat, nämlich dasselbe wie immer. Die kreative Bibelauslegerin GöringEckhardt hatte früher einmal ein evangelisches Theologiestudium begonnen, und sie war lange Zeit Präses, also Vorsitzende, der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands. Diese Bildungslaufbahn berechtigt aber offensichtlich nicht zu der Erwartung, dass sie über theologisches Drittklässler-Wissen verfügt. Zugute halten kann man ihr allerdings, dass das Andenken an den mantelteilenden Heiligen Martin, Bischof von Tours, am Martinstag, dem 11. November, aus interkulturellem Feingefühl heute nicht mehr unbedingt mit „Martinszügen“, sondern gelegentlich ersatzweise mit „Sonne-Mond-Sterne“- oder „Lichterfesten“ wachgehalten wird.

Dass selbst im institutionellen Kernbereich der evangelischen Kirche elementare Bibelkenntnisse nicht mehr vorausgesetzt werden dürfen, ist das eine. Viel interessanter ist aber das andere: dass die Politikerin, wie inkompetent auch immer, zur Legitimation eines umstrittenen politischen Ansinnens auf uralte, in der westlichen Kultur fest verankerte symbolische Traditionsbestände glaubte sich berufen zu müssen. Damit hat sie nicht Unrecht.

 

 „Zukunft braucht Herkunft“

Ganz ungewollt zeigt die Fraktionsvorsitzende, dass es eben doch die Tradition der westlichen Kultur ist, vor der sich bis heute politisches Handeln in Deutschland rechtfertigen muss. Denn jede Gesellschaft beruht auf kulturellen Traditionen, aus denen sie ihre Wertvorstellungen und die Leitlinien für das politische wie das individuelle Handeln bezieht. Prägnanter kann man es nicht formulieren, als es der Gießener Philosoph Odo Marquard vor Jahrzehnten getan hat: „Zukunft braucht Herkunft“. Das Interview der Fraktionsvorsitzenden hat beiläufig belegt, was längst offensichtlich ist: dass die Herkunft verblasst und die Berufung auf „unsere Werte“ eine leere Geste ist. Wenn man die Formel von „unseren Werten“ historisch ernst nehmen und sie auf ihre antiken Wurzeln zurückführen würde, dann wären das eher Weisheit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Schönheit und Wahrheit. Aber dieser Werte- oder Tugendkanon ist wenig gegenwartstauglich. Er hat nichts Anheimelndes und lässt sich schwer in Einklang bringen mit  dem, was man sich heute so unter „unseren Werten“ vorstellt: Empathie, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Umwelt‑ und Klimaschutz.

Dass „unsere westlichen Werte“ wie Staub unter den Fingern zerfallen, wenn man sie fassen will, hat seinen Grund. Sie haben ihren Sitz im Leben verloren. Denn Werte stehen nicht für sich. Sie sind verwurzelt in einem dichten kulturellen Geflecht; in Überlieferungen, religiösen wie profanen. Literatur und Musik, Kunst und Architektur haben dazu beigetragen, den Wertehorizont lebendig zu erhalten und immer wieder zu erneuern. Diese Wurzeln sind abgestorben, und mit ihnen auch die Werte, die aus ihnen herausgewachsen sind ist. Das hat Folgen. Eine Kultur, die nicht kritisch-produktiv weitergeführt wird, die keine kanonischen Bestände mehr benennen kann, die sie fortsetzen oder von denen sie sich absetzen will, verliert ihre kultivierende, ihre zivilisierende und damit auch ihre pazifizierende Kraft.

„Edel sei der Mensch, | hilfreich und gut“, wünschte sich Goethe. So ungefähr wird man sich in den meisten deutschen Bundestagsfraktionen und Medienredaktionen wohl „unsere europäischen Werte“ vorstellen. Aber die Menschen sind nicht so. Der Geheimrat und Minister Goethe war von der Lebenswirklichkeit seiner Zeit fast genau so weit entfernt wie ein Grünenpolitiker von der unseren. Kant, der Zeitgenosse Goethes, hat es besser gewusst, als er schrieb, dass der Mensch aus krummem Holz gemacht sei, aus dem man nichts Gerades zimmern könne. Sicher ist Kants illusionsloser Pessimismus näher an der deutschen Wirklichkeit als Goethes olympische Entrücktheit.

 

Gangsta Rap

Seit 2018 wird die deutsche Öffentlichkeit mit Nachrichten unterhalten über einen Rechtsstreit, in den der gebürtige Bonner Anis Ferchichi verwickelt ist. Ferichich ist ein bekannter Musiker, der 2011 für seine Integrationsleistungen mit dem Bambi-Integrationspreis ausgezeichnet wurde. 2015 wurde er wegen Steuerhinterziehung, 2016 wegen versuchten Versicherungsbetrugs verurteilt. In dem verworrenen Prozess vor dem Berliner Landgericht gegen den Clanchef Arafat Abou-Chaker geht es um viel Geld, um Erpressung, Gewalt- und Clankriminalität und alles Mögliche andere.

Nun müsste einen das alles nicht über den allgemeinen Unterhaltungswert hinaus interessieren, wenn dieses hier vor Gericht verhandelte kriminelle Milieu nicht auch das kulturelle Milieu der Zukunft darstellte. Denn der Deutsch-Tunesier Ferichich ist unter dem Namen „Bushido“ eine Ikone der deutschen Jugendkultur. Seit seinem Erstling „Vom Bordstein bis zur Skyline“ von 2003 hat er neben rund 50 Singles und weiteren multimedialen Produktionen 13 Studio-Alben mit einer Gesamtauflage von über 1,4 Mio verkauft, dicht gefolgt von einem Kulturträger gleichen Ranges namens Sido. Bushido und Sido gehören inzwischen zum alten Eisen. Sie sind längst abgelöst von neuen Gangsta-Rap-Göttern. Die deutschen Charts werden dominiert von Kollegah und Farid Bang, von Capital Bra, Kontra K, Serum 114, Punch Arogunz, Apache 207 und wie sie alle heißen.

Gangsta-Rap ist ein Subgenre der HipHop-Kultur, das sich um das Jahr 2000 etabliert und das seine Wurzeln in einem migrantischen Milieu hat. In diesen zwei Jahrzehnten ist es zum populärsten Zweig der deutschen Popkultur geworden, mit Milliardenumsätzen und unablässig steigenden Verkaufszahlen. Das sagt mehr über die künftige Kultur in Deutschland aus als die Lehrpläne der gymnasialen Oberstufe sämtlicher Bundesländer. Während sich die deutschen Schulen noch mit Wertevermittlung, Empathieerziehung und Holocaust-Education abplagen, wird die Jugend überschwemmt von einer Subkultur, die der westlichen Zivilisation und ihren neuen Werten den Kampf angesagt hat.

Diese Subkultur ist sehr weit weg von der Wertewelt der Gretas und Luisas. Hier wird hemmungsloser Konsum gepredigt, protzige Autos, rücksichtloser Aufstieg unter Missachtung aller Regeln einer zivilisierten Gesellschaft. Und vor allem: Im Gangsta Rap werden die Grenzen des Sagbaren weiter nach rechts verschoben, als es eine politische Partei oder ein Bestseller-Autor je könnten. Gangsta Rap ist die Ausdrucksform eines gewaltverherrlichenden, rassistischen, antisemitischen, ausländer- und frauenfeindlichen, homophoben Milieus, eingerahmt von einer vulgären visuellen Provokationsästhetik.

Und das Ganze ist ein Milliardengeschäft, das nicht nur auf dem Musikmarkt abgewickelt wird, auch wenn die Streamingdienste, allen voran Spotify, mit ihren unablässig sprudelnden Tantiemen den Löwenanteil der Einkünfte sichern. Die Gangsta-Rap-Szene hat darüber hinaus ihre eigene, weit ausgreifende Ökonomie hervorgebracht. Sie folgt einerseits den klassischen Mustern der globalen Kulturindustrie mit Merchandisingprodukten; sie schließt Werbeverträge mit etablierten Konzernen wie dem Brauselimonadeproduzenten Red Bull, dem Schuhverkäufer Deichmann, dem Elektronikhändler Conrad und zeitweise auch dem Automobilhersteller Mercedes. Auf der anderen Seite stehen die obligatorischen Verbindungen zur Clankriminanität, zu Geldwäsche und Drogenhandel. Im Gangsta Rap inszeniert sich ein Milieu aggressiver und bildungsferner Männlichkeitsrituale, zu denen tatsächliche, nicht nur vorgespielte Kriminalität als Authentizitätsnachweis gehört: Gerichtsprozesse und Vorstrafen treiben die Verkaufszahlen in die Höhe

Allerdings stehen die Rapper nicht wegen ihrer Liedtexte, sondern wegen anderweitiger krimineller Machenschaften vor Gericht. Es ist seltsam, dass auf der einen Seite Polizei und Staatsanwaltschaften ebenso wie private Medienunternehmen die letzten Winkel der sozialen Netzwerke auf der Suche nach „Hass und Hetze“ durchforsten und auf der anderen Seite mit „Hass und Hetze“ in aller Öffentlichkeit unbehelligt Milliardenumsätze erzielt werden können. Über gelegentliche Indizierungen durch die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“, also das Verbot des Verkaufs an Jugendliche, sind Maßnahmen gegen diese Form von Hass und Hetze nicht hinausgekommen.

Verständlich wird das, wenn man sich die von der staatlich alimentierten Wissenschaftsschickeria forcierte – und von der „Bundeszentrale für politische Bildung“ verbreitete – Umdeutung des Gangsta Rap anschaut. Die einschlägige Forschung nähert sich ihrem Gegenstand mit unterwürfiger Ehrfurcht. Hier dominiert die Große Erzählung von den unterdrückten und diskriminierten Zuwanderern. Von „Gegenidentitäten in der Migrationsgesellschaft“ ist die Rede, der Deutschrap stelle die Heteronormativität in Frage, thematisiere „Randständigkeitserfahrungen“ und sei insofern eine erfrischende Bereicherung des deutschen Kulturlebens – kurz: der Gangsta Rap setzt alles um, was deutschen Akademikern lieb und wert ist. Wer hingegen die gewaltverherrlichenden Texte kritisiere, so heißt es weiter, beteilige sich an einem Stigmatisierungsdiskurs, mit dem legitimer Protest marginalisiert und „Ermächtigungspotenziale“ entmächtigt werden sollen. Selbst der unverhohlene Antisemitismus in Rap-Texten wird schön geredet – es handle sich um „gewisse Codes“, die man nicht ernst nehmen müsse. Dass in den USA, wo das Ganze herkommt,  viele Rapper die 2013 entstandene Black-Lives Matter-Bewegung unterstützen, rundet das Bild ab. Auf diese Weise wird eine der am giftigsten schillernden Sumpfblüten der globalen spätkapitalistischen Kulturindustrie in einen antikapitalistischen Befreiungskampf umgedeutet und somit wieder anschlussfähig an die geistige Situation dieser Zeit.

An ein derart umhätscheltes soziales Phänomen wagt sich so schnell kein deutscher Staatsanwalt heran.

 

Deutschland – Land der zwei Kulturen

Seit Jahrzehnten bemüht man sich in Deutschland, durch schulische Erziehung und mediale Beeinflussung einen allumfassenden Wertkonsens zu erzielen. Die Idealvorstellung ist offensichtlich eine sedierte Gesellschaft wechselseitigen Wohlwollens auf der gemeinsamen Basis „unserer europäischen Werte“. So aber funktionieren Werte nicht. Denn Werte sind sehr weit davon entfernt, den „Zusammenhalt“ zu festigen. Wer Zusammenhalt will, muss die staatliche Ordnung und den zivilisatorischen ­ – und nicht etwa „zivil­gesellschaftlichen“ – Grundkonsens stärken, auf dem sie ruht. Mit Werten hat das wenig zu tun. Werte stehen immer im Widerstreit. Werte säen Zwietracht, stiften Unruhe und schüren Konflikte.

Seit langem und zu recht ist man besorgt darüber, dass in Deutschland durch die Zuwanderung Parallelgesellschaften entstehen könnten, wie sie in Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Schweden und anderswo längst existieren. Dabei hat man den Islam im Blick, der seine eigene Gegenkultur zur westlichen Zivilisation importiert und dort, wo es ihm möglich ist, auch etabliert. Der Gangsta-Rap verweist aber auf etwas anderes. Er ist der öffentlich sehr sichtbare Ausdruck einer soziokulturellen Entwicklung, die mit dem Islam wenig, aber mit staatsfeindlichen, hochkriminellen und gewaltaffinen Submilieus sehr viel zu tun hat. Ein Blick auf Schweden, auf Göteborg, Malmö, Stockholm, kann darüber belehren, wie es weitergeht und wohin das führt.

Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, Homophobie, Gewaltverherrlichung gehören eigentlich nicht zum Kernbestand dessen, was man heute „unsere europäischen Werte“ nennt. Sie gehören aber zu dem, was künftig den Kernbestand europäischer, jedenfalls westeuropäischer, Werte ausmachen wird. Denn die Gangsta-Rap-Kultur ist auf dem besten Weg, in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Man darf davon ausgehen, dass, regional und lokal sehr unterschiedlich verteilt, an deutschen allgemeinbildenden und Berufsschulen inzwischen knapp 40 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben, mit stark steigender Tendenz.

Das kann man sehen, wie man will. Aber die Vorstellung, dass diese Schüler irgendwann sich allesamt einmal „unseren europäischen Werten“ verpflichtet fühlen werden, ist nicht realistisch. Diese migrantischen Jugendmilieus, aber nicht nur sie, sind die Kunden des Gangsta-Rap. Sie stehen sicher dem Spitzenrapper Gzuz, der gerade von einem Hamburger Amtsgericht wegen Verstößen gegen das Waffengesetz, Drogenbesitz und Körperverletzung zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurde, näher als Goethe und seinem edlen Menschen.

„Kinder sind unsere Zukunft!“, sagt man gerne. Wenn das so ist, dann ist es schlecht bestellt um diese Zukunft.