Eine Minute Erinnerung

Am 16. Oktober 2020 wurde in Frankreich der Lehrer Samuel Paty nachmittags auf offener Straße ermordet. Die Umstände dieses Verbrechens sind gut bekannt. Der Täter war der 19-jährige, in Russland geborene und polizeibekannte Tschetschene Abdulach Abujesidowitsch Ansorow. Er hatte mit seiner Familie 2010 in Frankreich einen Asylantrag gestellt, der zunächst abgelehnt und dann in einen zehnjährigen Aufenthaltstitel umgewandelt worden war.

Knapp zwei Wochen nach dem Mord rief der französische Bildungsminister Jean-Michel Blanquer die europäischen Länder dazu auf, den ermordeten Lehrer mit einer Gedenkminute in den Schulen zu ehren. Damit wurde das deutsche Schulwesen in die unangenehme Verlegenheit gebracht, Stellung zu beziehen, Haltung zu zeigen und ein Zeichen zu setzen. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Dr. Stefanie Hubig, entledigte sich dieser ihr unverkennbar unangenehmen Pflicht mit einer dürren zwölfzeiligen Erklärung. Es gelang ihr, zu einer Gedenkminute aufzurufen, ohne klar zu sagen, worum es eigentlich ging. Dass es sich um einen religiös motivierten Ritualmord handelte, dem der Kollege zum Opfer gefallen war, konnte man der KMK-Mitteilung nicht entnehmen. Die KMK-Präsidentin zeigt sich in bewährter Routine „fassungslos“ und versichert: „Wir als Kultusministerinnen und Kultusminister stehen hinter unseren Lehrerinnen und Lehrern. Wir wissen um ihre zentrale Rolle als Botschafterinnen und Botschafter für Demokratie“. Erkennbar war der KMK-Präsidentin die Beachtung gendersensibler Sprachregeln wichtiger als die Benennung des Sachverhaltes. Und dass gleich in der ersten Zeile der Mitteilung über Wochen hinweg ein gravierender Fehler stehen geblieben ist, zeigt die Hast und die Gleichgültigkeit, mit der man sich dieser lästigen Pflichtaufgabe entledigte.

Genau so hielt es die Bundeskanzlerin. An ziemlich entlegener Stelle, in ihrem Grußwort vom 10. November 2020 zu einem virtuellen „interreligiösen Weltgipfel“, erwähnt sie flüchtig in einer Art Sammelklage „die abscheulichen Geschehnisse in Dresden, Frankreich und in Wien im Herbst dieses Jahres“. Dass diese Meldung unter der Überschrift „Religionen können mehr zum Frieden beitragen“ verbreitet wurde, wollte allerdings nicht so recht in den Zusammenhang passen, und wer für die „abscheulichen Geschehnisse“ verantwortlich war, blieb besser unerwähnt.

Dass der lustlose KMK-Aufruf zu einer Gedenkminute an Deutschlands Schulen keine besondere Resonanz finden würde, war abzusehen. Sofern er nicht einfach ignoriert wurde, waren die Erfahrungen oft genug zwiespältig. Die Berichterstattung aus Berlin ließ erkennen, dass die Aktion bei den Schülern nicht durchgehend Beifall gefunden hatte – nicht etwa, weil sie lieber gelernt hätten, sondern weil dem ein oder anderen Sekundarschüler nicht ganz klar war, warum man eines Lehrers gedenken sollte, der den Propheten beleidigt hatte. Auch aus anderen Bundesländern und Schulregionen mit weniger brisanten demographisch-konfessionellen Gemengelagen hat man wenig von dieser Gedenkminute gehört.

 

Der Mord und die Medien

Medial wurde die Aufforderung des französischen Bildungsministers in Deutschland ambivalent aufgenommen. Grundsätzlich überwog in den Leit- wie in den Regionalmedien die Zustimmung; immerhin ging es um die „europäische Solidarität“, die der französische Minister nicht ungeschickt ins Spiel gebracht hatte. Aber die Zwischentöne waren unüberhörbar. In den sozialen Medien, auf Twitter und Facebook und Instagram, wurde unverhüllte Sympathie für den Mörder aufgebracht, und offensichtlich ist die Auffassung bis weit in die Mitte der Gesellschaft salonfähig geworden, dass Meinungsfreiheit dort ihre Grenze habe, wo es um den Islam geht.

Der deutsche Fußballnationalspieler Antonio Rüdiger hatte nach dem Mord einen weltweit verbreiteten Post öffentlich für gut befunden, der den französischen Präsidenten Macron mit einem Stiefelabdruck im Gesicht zeigt. Der Fußballspieler hat sich dann zügig entschuldigt mit dem Hinweis, er habe nicht gewusst, was er da verbreitete. Auch versicherte er, ein unermüdlicher Kämpfer „gegen Gewalt und Rassismus“ – „den ich auch selbst erfahren habe“ – zu sein.

Welchen Bildungsabschluss der in Berlin aufgewachsene Fußballspieler hat, ist unbekannt. Eigentlich braucht man kein Abitur, um zu wissen, was ein drastischer Stiefelabdruck im Gesicht eines westeuropäischen Politikers bedeuten soll. Aber Abitur oder nicht – der Fußballspieler ist schlau genug, um die Mechanismen politischer Einflussnahme zu kennen: Er weiß, wie man die Grenzen des Sagbaren ausdehnt – was heute noch etwas verlegen zurückgewiesen wird, wird morgen mit einem Achselzucken hingenommen und erscheint übermorgen als Normalität. Ob es das war, was der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, Fritz Keller, meinte, als er im September 2020 sagte: „Wir müssen dankbar sein, wenn junge Leute für Werte, für die wir alle stehen, auch als Sportler eintreten“?

Rüdiger war nicht allein. Auch der Berliner „Tagesspiegel“ hatte ein „Problem mit der Schweigeminute an den deutschen Schulen“. Er sah in der Gedenkminute ein den muslimischen Schülern aufgezwungenes „Bekenntnis zur Meinungsfreiheit“, das man an einer Pflichtschule niemandem abverlangen dürfe. Darauf muss man erst einmal kommen.  Das einschlägige meinungsbildende Szeneblatt „taz“ war unentschieden. Einerseits war man der Ansicht, dass es nicht ganz in Ordnung ist, Lehrer aus religiösen Gründen umzubringen. Andererseits aber hielt man es in der „taz“ auch nicht für angebracht, die ganze Sache so „zu einer Grundsatzfrage“ aufzubauschen, wie es die französische Regierung getan habe.

Nun ist der Mord in Frankreich aber genau das: eine Grundsatzfrage. Wenn die Bundeskanzlerin eitler wäre als sie es tatsächlich ist, könnte sie mit einigem Stolz darauf verweisen, dass sie es schon vor zehn Jahren gewusst hat: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert“, sagte sie im Oktober 2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam. So ist es wohl.

An religiös motivierte Morde, die immer Einzelfälle und Ausnahmen bleiben werden, wird man sich gewöhnen müssen. Das ist der blutige Preis, den die offene Gesellschaft für ihre No-Borders-Politik entrichten muss. Keine Einzel- und Ausnahmefälle, sondern gesellschaftlicher Alltag sind aber die Milieus und Zustände, die den Nährboden für diese Politik und ihre Folgen bilden. Fundamentale kulturelle und zum guten Teil auch rechtlich gesicherte Grundlagen des Zusammenlebens in westlichen Gesellschaften werden teils mit versteckter Duldung, teils mit offener Zustimmung Schritt für Schritt aufgegeben: Bigamie und Polygamie, Kinder‑ und Verwandtenehe, Kopftuchzwang, häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung, Paralleljustiz nach Scharia-Regeln erscheinen immer mehr als Gegenstand von „Aushandlungs­prozessen“. Langsam versteht man, was die seinerzeitige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, gemeint hat. In einem „Eckpunktepapier für eine integrative Flüchtlingspolitik in Deutschland“ vom September 2015 forderte sie kurz vor der Grenzöffnung, das Zusammenleben müsse „täglich neu ausgehandelt werden“ – als ob eine westeuropäische Gesellschaft ein orientalischer Basar sei, in dem man darum feilschen könne, was gilt und was nicht gilt.

Damit werden 300 Jahre westeuropäischer Aufklärung wieder rückabgewickelt.

.

Zustände im Klassenzimmer

Die Politik hat sich des Mordes an Samuel Paty mit ein paar gut geölten rhetorischen Ritualen schnell entledigt. Den Schulen hingegen bleibt das Problem erhalten. Der Lehrermord fand nicht in den berüchtigten Pariser Banlieues statt, sondern in der beschaulichen, gutbürgerlichen Kleinstadt Conflans-Sainte-Honorine mit ihren 36.000 Einwohnern nordwestlich von Paris, wenige Kilometer entfernt vom Nachbarort Auvers, in dem van Gogh begraben liegt. Der schutzsuchende tschetschenische Mörder war 80 Kilometer weit angereist, um seine Tat zu begehen. Wenige Tage vor dem Mord hatten Schülereltern eine von Islamisten befeuerte digitale Hetzkampagne gegen den Lehrer wegen seines Unterrichts inszeniert, durch die der Mörder auf sein Opfer aufmerksam wurde. Das alles ist ohne weiteres in Deutschland ebenfalls denkbar.

Dass die Berliner Schulen besonders anfällig sind für interkulturelle Konfliktlagen, liegt nicht nur an der demographischen Situation der Bundeshauptstadt. Es liegt auch an ihrer Schulpolitik. 2010 veröffentlichte der Schulsenator eine Handreichung  „Islam und Schule“ – in der Reihenfolge – für Lehrer zum Umgang mit kultursensiblen Themen. Im Kapitel über archaische „Geschlechterbilder“ bei migrantischen männlichen Jugendlichen, in dem ausdrücklich der „Ehrenmord“ genannt wird, empfiehlt der Schulsenator ein behutsames Vorgehen: Die Lehrer sollten mit den Schülern das Gespräch „auf gleicher Augenhöhe“ führen und sich davor hüten,  die Schüler von einer höheren moralischen Warte aus zu „überwältigen“ – so als ob der „Ehrenmord“ in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland im 21. Jahrhundert eine soziale Handlungsoption sei, über die man sich in aller Ruhe einmal austauschen könne. Die Frage, ob man jemanden enthaupten dürfe, der den Propheten beleidigt habe, stand damals noch nicht zur Debatte.

Das sind Epiphänomene eines  systemischen Islamismus, den die Schulen längst nicht mehr in den Griff bekommen. Überall in Deutschland müssen Lehrer alltäglich einen zermürbenden Kleinkrieg führen um Teilnahme am Schwimmunterricht und an Klassenfahrten, um Kopftuchzwang und Gebete oder Moscheebesuche während der Unterrichtszeit, um Klassenarbeiten während des Ramadan, um koedukativen Unterricht, Bekleidungs- und Essensvorschriften; ganz zu schweigen vom islamischem Antisemitismus und vom ebenso simplen wie brutalen Mobbing deutscher Schüler, das völlig von der politisch-medialen Tagesordnung verschwunden, auf den Schulhöfen hingegen sehr präsent ist.

Mehr und mehr sind auch die Unterrichtsinhalte davon betroffen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Heinz-Peter Meidinger hat das bereits 2018 angesprochen und seine Warnungen im Herbst 2020 mehrfach wiederholt. An Deutschlands Schulen herrsche „ein Klima der Einschüchterung“, weil Lehrer von muslimischen Eltern und Schülern unter Druck gesetzt werden, bestimmte Themen zu meiden: Dazu gehören Israel, der Holocaust, der Islam überhaupt – von Mohammed-Karikaturen ganz zu schweigen.

Die Eltern muslimischer Schüler bewegen sich, professionell beraten von ihren Verbänden und Rechtsanwälten, wie ein Fisch im Wasser einer deutschen Rechtswirklichkeit, in der Behörden wie Gerichten jeder Sinn dafür abhanden­gekommen ist, was eine westlich-aufgeklärte Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Der Islam ist es sicher nicht.

Auch die Politik ist ratlos oder auch nur unwillig, sich dem Thema ernsthaft zu widmen. Am 25. November 2020 ließ die Bundesregierung in den Hauptnachrichten der ARD ein „Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus“ mit 89 Maßnahmen im Volumen von einer Milliarde – 1.000.000.000 – Euro verkünden. Dreimal ist dabei vom Islam die Rede: Mit den Maßnahmen Nr. 10, 14 und 65 wird die „Islamfeindschaft“ bekämpft. Der islamische Extremismus, der seinem antide­mokratischen, antiwestlichen, antimodernen, antisemitischen, frauenfeindlichen, homophoben Ideengehalt nach auch zum „Rechtsextremismus“ zählen ­müsste, bleibt unerwähnt.

Der Kampf gegen den islamischen Extremismus fällt jedenfalls deutlich beschaulicher aus als der gegen den Rechtsextremismus. Am 10. November, wenige Wochen nach den Morden – oder, wie die Kanzlerin sagte: „Geschehnissen“ – von Wien, Frankreich und Dresden feierte der Bundesinnenminister es als Erfolg, dass er von den in der „Deutschen Islamkonferenz“ vertretenen muslimischen Verbänden die Erlaubnis erhalten habe, einen Lehrgang für deutschsprachige Imame in Osnabrück einzurichten.

 

Was weiß die Wissenschaft?

Die Wissenschaft weiß von alledem nichts. Während die vielgerühmte empirische Bildungsforschung mit ihren Pisa- und sonstigen Studien punktgenau Auskunft geben kann über die „Perzentilbänder mathematischer Kompetenz in den OECD-Staaten“, schweigt sie sich aus über die Kulturkonflikte an deutschen Schulen. Die zuständigen Bildungswissenschaftler meiden jeden Kontakt mit einer schulischen Wirklichkeit, der ihr Weltbild beeinträchtigen könnte. Stattdessen fabulieren sie in einem selbsterfundenen Wissenschaftskauderwelsch von der „Schlechterstellung Migrationsanderer“ und entwerfen drittmittelaffine Projekte und Konzepte, mit denen sie Entwicklungen erklären wollen, die sie nicht verstehen.

Die Bundeszentrale für politische Bildung zeigt in einem aktuellen Sammelband über „Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus“, wie das in der Praxis aussieht. Hier werden die Leser über „soziale Konstruktionen und Performanz vor dem Hintergrund antimuslimischer Einstellungen in Deutschland“ reich belehrt und es wird ihnen erklärt, wie „muslimische Bürgerinnen und Bürger im Zwischenraum einer negativ zugeschriebenen Herkunftskultur und ihrer Heimat Deutschland ihre Identitäten aushandeln“. Gemeint ist damit, dass für islamische Integrations­verweigerung die deutsche Mehrheitsgesellschaft verantwortlich ist.

Im gleichen Band kommt das besinnungslose Wortgeschwurbel eines Berichts über „phänomenübergreifende und gendersensible Präventionsarbeit im Projekt PHÄNO_cultures“ der Lebenswelt muslimischer Schülerinnen zweifellos näher, weil es Projekttage und „genderreflektierte Ansätze des Empowerments mit Mädchen* als spezifischer Zielgruppe der Präventionsarbeit“ zu bieten hat.

Diese Projekte zielen nicht auf die nüchterne Erkenntnis von Wirklichkeit. Sie sind Insidergeschäfte in überzüchteten Akademikerzirkeln, die wechselseitig ihre Papers lesen und ansonsten in ihrem akademischen Paralleluniversum unbehelligt bleiben wollen, in dem sie weiträumig um die tatsächlichen Probleme herumforschen können.

Man darf sich keine Illusionen machen. Der Lehrermord in Frankreich war kein Fanal. Weder die Politik noch die Medien noch die Wissenschaft haben ein Interesse daran, die tatsächlichen Verhältnisse an den deutschen Schulen zu benennen. Auch künftig werden die Lehrer auf sich allein gestellt sein.