Nichts als Einzelfälle

Nun also auch die Familienministerin. Franziska Giffey, SPD, ist das dritte Mitglied eines Merkel-Kabinettes, das seinen Doktortitel unredlich erworben hat. Das ist nicht weiter bemerkenswert. Bei jährlich knapp 30 000 Promotionen in Deutschland spielt es keine Rolle, ob ein Doktortitel mehr oder weniger aberkannt wird. Es sind noch genug da, und man gewöhnt sich daran.

Im Fall Giffey haben alle Beteiligten schon weit im Vorfeld erklärt, dass der Vorgang keine nennenswerten politischen und beruflichen Konsequenzen nach sich ziehen werde. Die Ministerin ist zurückgetreten unter Mitnahme eines Übergangsgeldes von 57 000 Euro, mit dem sie sich und ihren Mann wohl bis zur Landtagswahl in Berlin im September 2021 über Wasser halten kann. In Berlin strebt sie aussichtsreich das Amt des Regierenden Bürgermeisters an, und wenn sie das doch ihrer grünen Kontrahentin überlassen muss, wird es zumindest für einen auch nicht schlecht dotierten Senatorenposten reichen.

Man darf den Beteuerungen wahrscheinlich Glauben schenken, dass die Betroffenen sich keiner Schuld bewusst sind und sie, wie Giffey gerade wieder versichert hat, nach „bestem Wissen und Gewissen“ gehandelt haben. Mit beidem ist es wohl nicht weit her, und offensichtlich ist es so, dass sie die Regeln gar nicht gekannt haben, an die sie sich hätten halten sollen.

Zufällig kam gleichzeitig mit dem Giffey-Rücktritt eine Diskussion auf über den akademischen Status von Giffeys Generationsgenossin Annalena Baerbock. Lange Zeit wurde ihr von den Medien und in biographischen Angaben unwidersprochen bescheinigt, sie habe in Hamburg einen Bachelor in Politikwissenschaft und an der renommierten London School of Economics and Political Science – Karl R. Popper hat hier gelehrt, aber das ist lange her – einen Master of Law in „Völkerrecht“ erworben. Bei näherer Betrachtung – die übrigens keineswegs von „rechten Medien“ vorgenommen wurde – entpuppte sich der Hamburger „Bachelor“ als eine undatierte Bescheinigung über das Vordiplom, das in London nach knapp einjährigem Studium und ohne erkennbare Abschlussprüfung auf wunderbare Weise ein Upgrade zum „Master“ nicht gerade in „Völkerrecht“, aber doch in „Public International Law“ erhielt.

Die Fälle Guttenberg, Schavan, Giffey, Baerbock sind Symptome einer Übergangsphase, in der die Welt der Akademiker noch ihre über Jahrhunderte hin­weg aufgebaute Reputation bewahrt, ihr Ethos aber verloren hat. Die kleinen oder größeren akademischen Schwindeleien gelten in dem Milieu, in dem sich Giffey und Baerbock bewegen, allenfalls als lässliche Sünde.

Die Generation Baerbock hat neue Maßstäbe für das gesetzt, was man können und wissen muss, wenn man Politik in vorderster Reihe gestalten will. Die eklatanten Bildungs‑ und Wissenslücken, welche die Parteivorsitzende Baerbock in ihren öffentlichen Auftritten ebenso zu erkennen gibt wie ihren wackligen Sachverstand in Kernfragen deutscher Politik, sind branchenüblich. Amüsant wäre es sicherlich, sie mit jenem Wissenskanon zu konfrontieren, der bei Bewerbern – üblicherweise mit Realschulabschluss und Fachhochschulreife – für den gehobenen nicht-technischen Dienst in Bayern vorausgesetzt wird: deutsche Sprache, logisches-schlussfolgerndes Denken, grundlegende Allgemeinbildung werden hier erwartet. Bundeskanzleraspiranten sollten diesen Bildungsstand eines bayerischen Realschülers nicht unterschreiten; wer sich um eines der wichtigsten politischen Ämter der westlichen Welt bewirbt, sollte also zumindest über gründliche Kenntnisse in Politik, Geschichte, Zeitgeschichte, Geographie, Naturwissenschaft, Wirtschaft, Kultur verfügen. Das hilft, sich in der Welt zurechtzufinden.

 

Der Lohn der Mühen

Warum eigentlich nehmen Politiker die Mühe auf sich, akademische Titel zu erschwindeln oder universitäre Laufbahnen zu simulieren? Zunächst einmal hilft es im politischen Betrieb: Knapp 82 Prozent der Bundestagsabgeordneten haben einen Hochschulabschluss; in der Bevölkerungsgruppe der 25- bis 65-jährigen sind es dagegen nur 22 Prozent. Rund 17 Prozent der Parlamentarier haben einen Doktortitel, und etwas mehr als zwei Prozent sind habilitiert; der größte Anteil der Habilitierten findet sich übrigens in der AfD-Fraktion. Die deutsche Bundeskanzlerin kann neben ihrem echten Doktortitel auf immerhin 17 Ehrendoktorate verweisen. Ihr türkischer Migrationspaktpartner Erdogan indes überbietet sie um ein Vielfaches mit seinen 44 Ehrendoktortiteln. Zweifellos repräsentieren akademische Laufbahnen und Titel also auch in der Politik „symbolisches Kapital“, um es mit dem Soziologen Bourdieu auszudrücken.

Aber ebenso unverkennbar verblasst das symbolische Kapital akademischer Würden. In der politischen Welt gelten längst andere Werte. Heute sammelt man symbolisches Kapital durch den permanenten Missbrauch der deutschen Sprache vor den Ohren der Öffentlichkeit, und höhere symbolische Weihen erhält man durch Teilnahme an oder zumindest öffentliche Befürwortung von halbkriminellen Aktionen der Klimaaktivisten, der Haus- und Waldbesetzer, der Menschenrechtsschleuser und alles in allem zusammengefasst, im „Kampf gegen rechts“.

Baerbock ist es deshalb, genauso wie Giffey, nicht schwer gefallen, ihre ohnehin nur halbherzig erworbenen und zweifelhaft gebliebenen akademischen Meriten wieder abzustreifen. Sie haben ihren Zweck erfüllt. Für ihr Londoner Ein-Jahres-Studium hat Baerbock eigenen Angaben zufolge rund 11 000 Euro an Studiengebühren bezahlt. Eine lohnende Investition. Denn mit einem Studienabschluss erhöht sich die Chance, sich den profanen Anforderungen des alltäglichen Arbeitslebens entziehen zu können und in irgendeinem parteipolitischen Biotop, etwa als Büroleiterin einer Bundestags- oder Europaparlamentsabgeordneten, Unterschlupf zu finden, wo es nicht so darauf ankommt. Dazu benötigt man aber zumindest ein simuliertes Studium. Dass jemand mit einer abgeschlossenen Ausbildung als Spenglermeister oder Fliesenleger Leiter eines Abgeordnetenbüros geworden sei, hat man jedenfalls noch nicht gehört. Können würden sie es sicher auch.

Inzwischen erhält die Bundestagsabgeordnete Baerbock monatliche Diäten von 10 000 Euro, eine steuerfreie Kostenpauschale von 4500 Euro und weitere rund 23 000 Euro für Personal, und wenn die Kanzlerkandidatenaspirantin je auf den Gedanken kommen sollte, mit der Bahn zu fahren, dann kann sie ihre kostenlose BahnCard 100 dafür nutzen. Das alles zusammen sollte doch reichen.

Aber es reicht nicht. Man muss sich selbst zusätzlich einen Bonus für erfolgreiche Wahlen und eine Corona-Zulage für erschwerte Arbeitsbedingungen während der Pandemie – damit kann eigentlich nur das Maskentragen gemeint sein – genehmigen, in einer Situation, in der ganze Branchen um ihr Überleben kämpfen und Mitarbeiter mit Kurzarbeit Null, also bis zu 40-prozentigen Lohnkürzungen,­ auskommen müssen.

 

Im Niemandsland der Anywheres

Baerbock und die ihren sind längst im Land der globalen Eliten, der „Anywheres“, angekommen; im Niemandsland von Menschen, die Deutschland regieren wollen – und es auch schon tun – und die jeden Kontakt zur Lebenswirklichkeit derer verloren haben, die sie regieren wollen. Eine kurze 30-Sekunden-Szene aus der NDR-Dokumentation „45 Minuten“ vom 23. November 2020 mit dem Titel „Kurs aufs Kanzleramt? Baerbock und Habeck“ gibt Aufschluss über das Weltbild, das dahinter steckt. Im Doppelinterview mit Habeck erläutert Baerbock die Rollenverteilung: Hier der dröge Parteifreund Robert mit Gummistiefeln und Melkschemel, dort die Globalistin Annalena, die sich selbst bescheinigt, „eher vom Völkerrecht“ – und nicht etwa nur aus Hannover – zu kommen, aber faktenwidrig glaubt und im „WDR Europaforum“ vom 20.05.2021 verkündet, eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union sei die Vereinheitlichung der Steckdosen gewesen.

Robert Habeck hat zwar recht sonderbare Vorstellungen von der politischen Zukunft Deutschlands, und Sachkunde bei den Themen, über die er Interviews gibt, gehört auch nicht zu seiner Kernkompetenz. Aber an seiner akademischen Qualifikation gibt es nichts zu deuteln. Er hat eine durchaus ansehnliche, auch gedruckt vorliegende Magisterarbeit über den spätaufklärerischen Autor Casimir Ulrich Boehlendorff geschrieben, und seine Doktorarbeit über „Die Natur der Literatur. Zur gattungstheoretischen Begründung literarischer Ästhetizität“ ist auch ganz ordentlich und schwindelfrei, jedenfalls weit entfernt von jedem Plagiatsverdacht. Das ist nichts Besonderes, aber doch mehr als das akademische Nichts, das seine Kontrahentin aufzubieten hat.

 

Wie wird man so?

Aber Baerbock ist Kanzlerkandidatenaspirantin und Habeck nicht. Wie muss ein Bildungssystem aussehen, das diesen Typus hervorbringt, oder, vornehmer ausgedrückt: Wie funktioniert die politische Elitenrekrutierung in dieser Generation?

Die Universitäten in Deutschland und anderen westlichen Ländern haben längst, spätestens seit der Umsetzung des Bologna-Prozesses, die gesellschaftliche Schlüsselstellung verloren, die sie in modernen Zivilisationen zwei Jahrhunderte lang hatten. Wer eine akademische Ausbildung an einer Universität erfahren hatte, musste bestimmte Erwartungen erfüllen: uferlose Wissensbestände, Klarheit des Denkens und Sprechens, theoretische Fundiertheit, Rationalität der Argumentation, die Bereitschaft zur Überwindung von Widerständen und Unlustgefühlen, Neugierde und intellektuelle Redlichkeit hätte man in einem Universitätsstudium gelernt haben sollen – in Kurzform: Klar denken und viel wissen.

Das ist vorbei. Safe-Space-Forderungen und Triggerwarnungen, Cancel Culture und Deplatforming verweisen in grotesker Überspitzung auf den Normalzustand des höheren Bildungswesens in Deutschland und anderswo. Längst hat eine feindliche Übernahme der Universität stattgefunden. Was „Wissenschaft“ ist, wird von den Annalenas und Luisas und ihrer Anhängerschaft definiert; und wer es anders sieht, ist „wissenschaftsleugnerisch“, wie eine der gelungeneren Wortprägungen im selbstgeschaffenen Rotwelsch dieses Milieus lautet. Die Universität wurde zu einem Safe Space umgestaltet, dessen erstes Lernziel die Wirklichkeitsuntauglichkeit ist. Das ist eine postmoderne Form der Unmündigkeit, wie sie sich nur Wohlstands­gesellschaften leisten können.

Dieser universitären Sozialisation verdankt sich jene generations‑ und milieutypische Mischung aus Ignoranz, Unverfrorenheit und Selbstüberschätzung, die sich bei Politikern wie Medienvertretern zunehmend beobachten lässt. Die Universitäten sind zum Aufwärmbecken für Karrieren in der Politik, in staatsalimentierten NGOs sowie in den Medien geworden. Wer ein Studium absolviert oder wenigstens einmal begonnen hat, wird Vorstellungen und Verhaltensweisen völlig selbstverständlich finden, die in der arbeitenden Bevölkerung nur mit ungläubigem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen werden: dass bei dem Wort „Steuerzahler“ Frauen „nicht mitgemeint“ seien, dass deshalb Nachrichten­sprecher und Talkshowmoderatoren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Universitäts­angehörige einen Sprachfehler simulieren müssen; dass in Deutschland „systemischer Rassismus“ herrsche, so dass einem amerikanischen Schwerkriminellen Märtyrerstatus gebühre und Straßen nach ihm benannt werden müssten, während umgekehrt der „Zigeunerbach“ und das „Drei Mohren“-Hotel in Augsburg – in dem sich ohnehin verdächtige Personen wie Friedrich II., Mozart, Thomas Mann, Michail Gorbatschow aufgehalten haben – ihren Namen ändern müssen; dass Staatsgrenzen Teufelswerk und Staatsbürgerschaften ein faschistisches Konzept seien; dass man neben seinem SUV auch ein Elektromobil und ein Lastenrad in der Garage stehen haben müsse, und dass schließlich in Urlaub nur fliegen dürfe, wer Geld genug hat, um einen CO2-Ausgleich zu zahlen. Das sind mentale Milieuschädigungen, die so gut wie ausschließlich an Universitäten erworben werden. Kein Mensch, der sich im Alltag, im Beruf und der Familie, bewähren muss, kann auf solche Gedanken kommen.

So entsteht ein in sich geschlossenes Weltbild, das sich von allen Zudringlichkeiten der Wirklichkeit befreit hat. Wer so sozialisiert wurde, traut sich alles zu. Und so kann es auch nicht überraschen, dass nicht nur Annalena Baerbock glaubt, dem Amt des Bundeskanzlers gewachsen zu sein, sondern dass auch ihre medialen Milieugenossen ihr einen Echoraum geschaffen haben, der sie und ihresgleichen in diesem Glauben immer wieder aufs Neue bestärkt. Als Baerbock im April 2021 von ihrer Partei zur Kanzlerkandidatenaspirantin – wirklich kandidieren kann sie ja nicht schon bei den Bundestagswahlen, sondern erst dann, wenn der Kanzler vom neuen Bundestag gewählt wird – ausgerufen wurde, war des medialen Rühmens kein Ende: Sie sei die „Frau für alle Fälle“, sie sei „endlich anders“, sie verkörpere den „Wandel“, ihre Kandidatur sei eine „historische Chance“, mache „Millionen Eltern Hoffnung“, und am erstaunlichsten sei, „dass es auch noch eine Frau“ war, die von den Grünen als Kanzlerkandidatin benannt wurde, was es ja in Deutschland noch nie gegeben hat. Baerbock scheint das alles zu glauben. Ihr steht noch die Erfahrung bevor, die der seinerzeitige „Bild“-Chefredakteur angesichts des Absturzes des Bundespräsidenten Wulff formulierte. Wer mit den Medien „im Aufzug nach oben fährt“, der fährt mit ihnen auch wieder nach unten

Die Kandidatin pflegt offensichtlich die Vorstellung, das Amt des Bundeskanzlers sei eine Art Praktikum, in dessen Anforderungen man sich vor den Augen der Öffentlichkeit irgendwie einarbeiten könne. Für binnendeutsche Verhältnisse mag das auch zutreffen. Die Deutschen sind bekannt für ihre notorische Anspruchslosigkeit bei der Auswahl ihres politischen Personals. Wie es aber sein wird, wenn eine derart konditionierte Bundeskanzlerin mit Politikern wie Putin, Erdogan oder dem chinesischen Staatspräsidenten 習近平 zusammenkommt – Donald Trump ist leider nicht mehr im Spiel –, könnte sie sich von ihrer älteren Schwester im Geiste, der EU-Kommissionspräsidentin, erklären lassen. Die weiß inzwischen, wie es so ist, wenn man die Welt der Roberts und Luisas verlassen und in die rauhe Wirklichkeit der Weltpolitik eintreten muss.

Seit dem „Nibelungenlied“ bescheinigt man den Deutschen gerne eine selbstzerstörerische Lust am Untergang. Aber dass sie im September 2021 wirklich einer vor sich hin schwadronierenden Berufsanfängerin ins Amt des Bundeskanzlers verhelfen, mag man doch nicht glauben. Die Person Baerbock wird aus dem politischen Gedächtnis der Bundesrepublik verschwinden wie ein Gesicht im Sand am Meeresstrand. Aber der Typus bleibt. Er repräsentiert die Zukunft.