Jugend in der Zeitenwende

Im September 2024 wurde der „17. Kinder- und Jugendbericht“ der deutschen Bundesregierung vorgelegt. Er verspricht, die „Lage der jungen Menschen in Deutschland“ auf 628 großformatigen und eng bedruckten Seiten zu beschreiben, verfasst wurde er von 14 überwiegend professoralen Experten im Auftrag des federführenden „Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. Dieser Bericht ist nicht der einzige, der das Rätsel der deutschen Jugend lösen will. In jüngster Zeit ist ein halbes Dutzend Studien erschienen, darunter auch die 19. Ausgabe der prominenten „Shell Jugendstudie“, die um die Jugend kreisen, deren Befindlichkeiten ausloten und Ratschläge für den Umgang mit ihr geben wollen. Die Studien sind kaum miteinander vergleichbar; sie sind sich nicht einmal über den Altersrahmen einig, dem man die „Jugend“ zuordnen soll. Einig ist man sich aber in einem Befund: Es ist etwas passiert mit der deutschen Jugend; irgendetwas hat sich verändert, und zwar innerhalb einer kurzen Zeitspanne von wenigen Jahren.

Jedenfalls hat das Umfrage- und Wahlverhalten der Jugend in Deutschland in jüngster Zeit offensichtlich eine Schubumkehr erfahren. Wenn man die Europawahlen und die drei Wahlgänge in den ostdeutschen Bundesländern der letzten Monate in ihrer Summe betrachtet, dann ergibt sich eine dramatische Veränderung: Bei den Wahlen des Jahres 2024 errang die AfD bei den Jungwählern im Durchschnitt knapp 30 Prozent, gefolgt von den Unionsparteien mit rund 14 Prozent. Inzwischen sind in der Hälfte aller Bundesländer Jugendliche ab 16 Jahren wahlberechtigt; und im Gründungsvertrag der aktuellen amtierenden „Fortschrittskoalition“ wird auch eine Senkung des Bundestagswahlalters auf 16 Jahre angestrebt. Nach den jüngsten Wahlergebnissen wird man sich das wohl noch einmal überlegen. Auf die Jugend kann man sich eben nicht mehr verlassen.

 

Eine gescheiterte Generation?

Man erinnert sich noch an den medialen Jubel vor drei Jahren, als es hieß, dass der Bundestag „jünger und weiblicher“ werde. Der Jubel kam etwas verfrüht. Im Herbst 2024 konnte man das Scheitern dieser gerade gefeierten jungen Generation hochbegabter Jungpolitiker in Echtzeit erleben: Nach dem desaströsen Abschneiden der Berliner Regierungsparteien bei der Europawahl und den ostdeutschen Landtagswahlen haben zwei dieser Parteien sich sehr zügig entschlossen, ihr Spitzenpersonal austauschen – nicht die eigentlich Verantwortlichen in der ersten Reihe, sondern die Mitverantwortlichen knapp darunter. In der einen Partei wurden die beiden „Bundessprecher“ aus dem Amt gedrängt und man hatte nicht den Eindruck, dass sie freiwillig gegangen sein. Es sollen sogar, wie in diesem entrationalisierten Politikmilieu üblich, Tränen geflossen sein; zugleich kam der Partei auch das Führungspersonal ihrer Nachwuchsorganisation abhanden. In der größten Regierungspartei, die so groß auch wieder nicht ist, ist der Generalsekretär gegangen. Der politischen Nahkampferfahrung ihrer Altvorderen in der eigenen Partei waren die jungen Hochbegabten offensichtlich nicht gewachsen.

Auch die TikTok-Tänzerinnen im Bundestag sind etwas aus dem Rampenlicht ins Dunkel der Hinterbank geschoben worden, und von der seinerzeit jüngsten Bundestagsabgeordneten, Emilia Fester, die sich mit einer unsterblichen Rede in die Sitzungsprotokolle des Deutschen Bundestages eingeschrieben hat, hört man nichts mehr. Das ist auch gut so. Denn „Jugend“ allein ist kein Qualitätsmerkmal im politischen Betrieb. Im deutschen Bewusstsein ist eine historische Tatsache kaum präsent, auf die der Außenseiter-Historiker Götz Aly beiläufig hingewiesen hat: Die politische Führungsschicht des „Dritten Reichs“ war extrem jung. Als sie an die Macht kamen, war Hitler mit 43 Jahren der älteste in der nationalsozialistischen Führungsriege. Ihm folgten Göring mit 40 Jahren, Goebbels mit 35, Himmler mit 33, Speer mit 28, Eichmann mit 27 Jahren. Goebbels freute sich darüber, „daß Deutschland heute von seiner Jugend regiert wird.“ Etwas Gutes herausgekommen ist dabei aber nicht.

Im Oktober 2024 haben Jungpolitiker aus dem Bundestag dem Hamburger Unterhaltungsmagazin „Der Spiegel“ Einblicke in ihr Seelenleben gewährt. Sie klagen über Vereinsamung, Suchtprobleme, fehlendes Privatleben. Diese Politikergeneration wird mit der bestürzenden Erfahrung konfrontiert, dass für die rund 11 000 Euro, die sie monatlich als Diäten erhalten, von ihr eine Gegenleistung erwartet wird, für deren Erbringung ihnen jede Voraussetzung fehlt. Damit stehen sie nicht allein.

 

Wer ist jung?

„Jugend“ ist nicht unbedingt eine Frage des Alters. Jede Epoche bringt ihre eigene „Jugend“ hervor, und jede Epoche entscheidet wieder neu, wie sie Jugend definiert und wie sie mit ihrer Jugend umgehen will. Dass die „Jugend“ als ein eigener sozialer Typus begriffen wird, der spezifische kohortentypische Merkmale aufweist, und nicht nur als ein individueller Lebensabschnitt, ist eine Entwicklung, die in Westeuropa wohl erst in der Zeit um 1900 eine klare Gestalt annahm. Gewiss hat es auch schon hundert Jahre zuvor, in der deutschen Romantik, erste Anzeichen gegeben. Um 1900 jedoch etablierte sich eine eigene, weit verbreitete „Jugendbewegung“, die eigene Lebensformen und auch eigene politische Vorstellungen hervorbrachte. Traditionell war man zumindest in der Pädagogik und der Psychologie der Auffassung, dass die „Jugend“ jene Lebensphase sei, in der der Mensch sich auf den Weg zur Mündigkeit begebe. Aber in der Bundesrepublik der Gegenwart herrscht eine auffällige Unentschiedenheit bei genau der Frage, wann ein junger Mensch mündig sei und was getan werden müsse, um ihn mündig werden zu lassen.

Jung zu sein ist ein unverdientes Privileg, das sich aber im Laufe der Jahre von selbst verliert. Wann es soweit ist, weiß man nicht genau. Denn selbst die bürokratischen und gesetzlichen Regelungen zum Ende des Jugendalters weisen eine sehr merkwürdige Unbestimmtheit aus. Der Schutzbereich des Jugendschutz­gesetzes endet konsequenterweise im Alter von 18 Jahren – denn dann ist man erwachsen und für sein Tun und Lassen selbst verantwortlich. Im Jugendstrafrecht sieht man das aber wieder anders: Hier gilt der Schutzbereich des Jugendrechts zum Teil auch noch für Heranwachsende bis zum 21. Lebensjahr, und bei der Unterhaltspflicht der Eltern sieht es wieder anders aus: Sie endet erst mit dem Ende der ersten Berufsausbildung oder des ersten Studiums. So lange müssen Eltern für den Unterhalt ihrer Kinder aufkommen – und das kann dauern, bis hin zum 27. Lebensjahr und im Einzelfall auch darüber hinaus, und diese Ausbildungs­finanzierung hat Vorrang vor der eigenen Alterssicherung der Eltern.

Und dann gibt es noch den Sonderfall der Berufsjugendlichen im Politikbetrieb: In den Jugend­organisationen der meisten Parteien bleibt man Mitglied bis zum 35. Lebensjahr, bei den Grünen Jugend endet die Mitgliedschaft je nach Landesverband mit dem 28 oder 30. Lebensjahr. Statistiker und Jugendforscher wiederum müssen sich um etwas kleinteiligere Einteilungen bemühen, um die verschiedenen Entwicklungsphasen des Jugendalters markieren zu können. Der „Kinder- und Jugendbericht“ unterscheidet zwischen den Lebensphasen Kindheit von 0 bis 11 Jahren, Jugend von 12 bis 17 Jahren und junges Erwachsenenalter von 18 bis 27 Jahren.

 

Krisenerfahrungen

Die fürsorgliche Zuwendung der Soziologen ergibt wegen unterschiedlicher Methoden und Frageansätze ein ziemlich inkohärentes Bild, aber ein Trend ist doch erkennbar: Die Jugend hat Angst; sie hat Angst nicht vor der diffusen Zukunftserwartung eines verglühenden Planeten, sondern vor konkreten Gegenwartserfahrungen. Die Jugend ahnt, dass die Klimapolitik weder dem Klimaschutz noch den begleitenden Wohlstandsgewährungsversprechen gerecht wird, und während der „Kinder- und Jugendbericht“ der festen Überzeugung ist, dass sexuelle Diversitätserfahrungen zu den Hauptproblemen der Jugendlichen gehören und ihnen deshalb doppelt so viel Raum widmet wie der Arbeitsmarktsituation, sehen das die Jugendlichen selbst anders: Ihre dominierenden Ängste gelten der Inflation, der künftigen materiellen Sicherheit und den Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, und auch die längst vergessene Angst vor dem Krieg ist aus gutem Grund wieder in den Lebenshorizont der heutigen Jugend gerückt.

Das sind berechtigte, aber immer noch abstrakte Ängste. Daneben mussten die Jugendlichen in den letzten Jahren auch noch andere, ihre Lebenswelt unmittelbar berührende und zutiefst verunsichernde Erfahrungen in einer Lebensphase machen, die als solche schon verunsichernd genug ist. Die Corona-Maßnahmen wurden mit Schulschließungen, Maskenpflicht, Lernrückständen, Bewegungsmangel, Kontaktverboten, Ausgangssperren zum guten Teil auf dem Rücken der Jugend ausgetragen, obwohl gerade diese Altersgruppe am wenigsten gefährdet war. Das hat bleibende Spuren hinterlassen, auch wenn die „Shell Jugendstudie“ wohlgemut feststellt, dass Corona aus „Sicht vieler Jugendlicher eine Krise der Vergangenheit“ sei, die ein paar interessante Erfahrungen vermittelt habe. Ganz so nonchalant sieht das nicht einmal die Bundesregierung, die von einer „Interministeriellen Arbeitsgruppe“ die „Zunahme von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen“ als Corona-Folge feststellen ließ.

Und schließlich sieht sich die Jugend mit noch einer anderen und neuen Erfahrung konfrontiert: Ganz unvermutet wird sie in materielle Verteilungs- und sogar wieder Territorialkämpfe verwickelt. Soziologen vom alten Schlag sprechen von einer „Ethnisierung der sozialen Frage“, aber so ist nun einmal der Befund: Frei­zeitgestaltung verläuft nicht mehr nur entlang sozialer, sondern auch entlang ethnischer Grenzen. Der abendliche Ausgang, der Besuch von Diskotheken, die Nutzung von Freibädern und öffentlichen Verkehrsmitteln, des öffentlichen Raums überhaupt, unterliegt Regeln, die immer neu und vor Ort ausgehandelt werden müssen, und bei diesen Aushandlungsprozessen herrscht nicht unbedingt Waffengleichheit. Auch in den Schulen erfahren die Jugendlichen früher und hautnäher als ihre Eltern oder die Biotop-Politiker, dass kulturelle Fremderfahrungen nicht immer nur als bereichernd wahrgenommen werden können. Der „Kinder- und Jugendbericht“ hat dazu den hilfreichen Vorschlag gemacht, man möge doch auf einen „ressourcenorientierten Aushandlungsprozess“ hinwirken. Und auch politisch ist im öffentlichen Raum einiges in Bewegung geraten. An die Krawalle „erlebnisorientierter Jugendlicher“ in den deutschen Innenstädten hat man sich seit dem Sommer 2020 gewöhnt. Gewöhnen wird man sich auch an die antisemitischen Ausschreitungen mit ihren genozidalen Vernichtungsphantasien – „From the river to the sea“ – auf den Straßen in Berlin und anderswo. Darüber findet man im „Kinder- und Jugendbericht“ nur einen einzigen verhuschten Satz.

 

Die andere Jugend

Diesem Aspekt der „Jugend in Deutschland“ gebührt in der Tat besondere Aufmerksamkeit. Das zeigt die Statistik: Knapp 40 Prozent der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen leben in Einwanderungsfamilien; knapp 30 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen unter 25 Jahren in Deutschland weisen eine Einwanderungsgeschichte auf, und die weitere demographische Entwicklung liegt auf der Hand: „Absehbar werden Menschen mit Einwanderungsbiografie die Mehrheit der jungen und schließlich der gesamten Bevölkerung Deutschlands ausmachen“. Das ist sicher richtig, und man würde von den verschiedenen Jugendstudien nun gerne etwas über diese Jugendlichen mit „Einwanderungsbiografie“ – das Wort „Migration“ wird inzwischen nur noch ungern benutzt – erfahren. Man würde gerne wissen wie und wovon sie leben, wie sie denken, welche Wertvorstellungen sie haben, welche Parteien sie wählen, wie sie zur Demokratie stehen. Das alles erfährt man nicht. Dafür erfährt man etwas anderes: Diese Jugendlichen werden diskriminiert. Deutschland, das Land, in das im vergangenen Jahr knapp zwei Millionen Menschen eingewandert sind und das fast die Hälfte der „Bürgergeld“-Zahlungen an Ausländer verabreicht, betreibt, so erfährt man aus dem „Kinder- und Jugendbericht“, eine „migrationsfeindliche“ Politik, die zu „individuellen, institutionellen und strukturellen Diskriminierungen sowohl ukrainischer als auch nicht-ukrainischer geflüchteter junger Menschen“ führt. „Strukturell“ – das Zauberwort aller Soziologen, die nicht mehr weiter wissen – findet sich über 150-mal in dem Bericht, wird aber noch überboten von allen Varianten der „Diskriminierung“ mit einem fast 200-maligem Auftreten. Und es sind nicht nur die „ukrainischen“ und die „nicht-ukrainischen“ geflüchteten Menschen, die diskriminiert werden. Diskriminiert werden auch „die als deutschtürkisch, deutscharabisch oder afrodeutsch/afrikanisch gelesen“ werdenden – eigentlich alle also.

Die ostdeutsche Jugend kommt weniger glimpflich davon. Der „Kinder- und Jugendbericht“ zeigt sich besorgt wegen „des hohen rechtspopulistischen und -extremistischen Stimmenanteils in Ostdeutschland“. Die disruptiven biographischen, sozialen und wirtschaftlichen Brüche, denen die östlichen Regionen Deutschland ausgesetzt waren, werden vornehm als „Transformationserfahrungen“ umschrieben, verbunden mit der Bitte, die ostdeutsche Jugend möge ihr Leben doch nicht aus der „Opferperspektive“ betrachten – das ist ein Privileg anderer Bevölkerungsschichten – und die falschen Parteien zu wählen. Man könnte auch sagen: Sie sollen schauen, wie sie zurechtkommen, denn die Politik und die sie unterstützenden zahlreichen Jugendhilfeorganisationen haben andere Prioritäten.

 

Der Wind hat sich gedreht

Wer in einer Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen ist, hat einen anderen Blick auf die Wirklichkeit als eine Generation, die sich ihren Wohlstand erarbeiten musste. Eine Wohlstandsgeneration kann glauben, dass Wohlstand etwas Selbst­verständliches sei, dass Deutschland ein reiches Land sei und es immer bleiben werde, dass man diesen Reichtum mit allen Bedürftigen dieser Welt teilen könne, dass Strom für die Smartphones auch dann noch aus der Steckdose kommt, wenn man alle Kraftwerke abschaltet. Das sind Weltvorstellungen, die nicht erst die aktuelle Jugend, sondern auch schon deren Elterngeneration – sofern sie in Westdeutschland aufgewachsen ist – herausgebildet und weitergegeben hat.

Aber die fetten Jahre sind vorbei – und wer weiß, vielleicht haben die Krisenerfahrungen eine heilsame Wirkung. Die Notwendigkeit, seine eigene Zukunft selbst wieder in die Hand nehmen zu müssen, ist der kürzeste Weg zur Mündigkeit.