„Das Ende der Welt“

Der neu gewählte künftige US-Präsident wird erleichtert aufgeatmet haben. Die deutsche Außenministerin versicherte ihm, dass die „transatlantische Freundscheit“ – möglicherweise wollte ihr das Wort „Freundschaft“ nicht über die Lippen kommen, dafür spricht auch ihr Gesichtsausdruck – „nicht auf eine Partei gebucht sei“. Was genau sie meinte, weiß man nicht so recht, aber sie wollte wohl etwas Freundliches sagen. Politikerinnen, deren historisches Bewusstsein gerade noch bis zum vorletzten Parteitag reicht, werden nicht wissen, dass die deutsch-amerikanische Freundschaft schon länger zurückreicht. Man kann ihren Anfang auf das Jahr 1785 datieren. Im September dieses Jahres unterzeichneten die Staaten Preußen und die erst zwei Jahre zuvor im Frieden von Paris unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika einen Handels- und Freundschaftsvertrag. Dabei erkannte Preußen auch erstmals die in der amerikanischen Unabhängigkeits­erklärung formulierten Menschenrechte an. 1917 endete die Laufzeit des Vertrags nach zweimaliger Verlängerung mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg.

Ganz zufällig war dieser Vertragsabschluss nicht. Schon in dieser Zeit waren die USA ein attraktives Zielland für deutsche Auswanderer gewesen und die deutschen Einwanderer waren in manchen Regionen zum kulturprägenden Faktor geworden. Bereits seit den 1680er Jahren siedelten Deutsche, vorwiegend Religionsflüchtlinge, in Nordamerika. Die großen Einwanderungswellen begannen aber erst in den 1820er Jahren. Seitdem sind, bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts, sieben Millionen Deutsche in die USA eingewandert. Heute sollen rund 45 Millionen Amerikaner deutsche Wurzeln haben, das sind immerhin rund 14 Prozent der amerikanischen Gesamtbevölkerung.

Dass der künftige amerikanische Präsident in der Großvätergeneration deutsche Wurzeln hat, scheint ihm jedoch ziemlich gleichgültig zu sein. Darauf zu hoffen, dass er der ihm von jenseits des Atlantiks entgegen schlagenden Welle der Abneigung mit milder Freundlichkeit begegnen wird, ist sicher unrealistisch. Im November 2016, kurz vor dem ersten Amtsantritt Donald Trumps, sah ein Unterhaltungsmagazin aus Hamburg auf seiner Titelseite „Das Ende der Welt“ nahen. Ganz so schlimm es nicht gekommen. Die hyperventilierende Reaktion auf das amerikanische Wahlergebnis sagt mehr über Deutschland aus als über den amerikanischen Präsidenten. Eine Gesellschaft, deren führende Medien und Politiker einen ausländischen Staatspräsidenten, von dem sie auf absehbare Weise auch künftig abhängig sein wird, in ein derartigen Weise diabolisiert, ist offensichtlich nicht mit sich selbst im Reinen.

Übrigens ist nicht jeder Deutsche unglücklich über die Wahl der Amerikaner. Der Aufsichtsratschef des Kettensägen-Herstellers Stihl, der zwei Produktionsstandorte in den USA betreibt, gehörte zu den ersten Deutschen, die Trump – zum Missvergnügen der heimischen Presse – gratulierten. Allmählich sieht man wohl ein, dass das Investitionsklima in den USA verlässlicher sein könnte als das Subventionsklima in Deutschland.

 

Deutschlands Amerika

Der Journalist und Redenschreiber Willy Brandts  Klaus Harpprecht hat 1982 sein Buch „Der fremde Freund“ veröffentlicht, in dem er seine Erfahrungen als Amerika-Korrespondent der 1970er Jahre in einem großflächigen Geschichts- und Gegenwartspanorama auswertete. Harpprechts Buchtitel trifft das deutsch-amerikanische Verhältnis ziemlich genau, und das umfangreiche Buch belehrt darüber, dass man es sich mit „Amerika“ – womit in Deutschland fast immer die USA gemeint sind ­– nicht zu leicht machen sollte.

Denn die Vereinigten Staaten sind groß. Sie haben 331 Millionen Einwohner und umfassen eine Fläche von knapp 10 Millionen km2. Wenn man aber durch den Wahrnehmungstunnel der deutschen Medien über den Atlantik blickt, dann schrumpft dieses riesige Land auf „die Amerikaner“, und das ist dann jener Teil der ameri­kanischen Bevölkerung, welcher die Universitäten der Ivy League besucht hat, die Medien beherrscht und die Politik in Washington bestimmt; jener Teil, der Kriege anzettelt und Pipelines in der Ostsee sprengt. „Heartland“, das Herzland Amerikas, die Flyover-States, die man überqueren muss, wenn man von den intellektuellen Gated Communities der West- in die der Ostküste gelangen will, kommt in diesem Amerika-Bild nicht vor. Wolfgang Büscher hat dieses Amerika  2011 in seinem Buch „Hartland. Zu Fuß durch Amerika“ eindrucksvoll beschrieben. Diese Amerikaner, die Hinterwäldler, haben sich in den beiden Trump-Wahlen überraschend per Stimmzettel zu Wort gemeldet. In der – vom jetzigen deutschen Bundeskanzler einst hochgelobten – autobiographischen „Hillbilly“-Elegie des designierten Vizepräsidenten haben sie auch eine literarische Stimme erhalten.

Das Amerika der Deutschen war immer schon ein anderes als das Amerika der Amerikaner. Wenn die Deutschen an die „Freiheit“ in Amerika dachten, meinten sie nicht die Freiheit gleichberechtigter Individuen in einer egalitären Demokratie, sondern die Freiheit einer unbegrenzten Natur. Noch der große Heinrich Heine sprach von Amerika als dem Land von „Gleichheitsflegeln“. Den deutschen Auswanderern des 19. Jahrhunderts war der gemütlich scheinende, ständisch organisierte Süden der Cavaliers mit seiner Sklaven- und Plantagenwirtschaft näher als der industrialisierte, rastlose und geldgetriebene Norden der Yankees.

Viel abgeschaut hat man sich in Deutschland von der amerikanischen Politik auch nicht, und wenn, dann das Falsche. In Deutschland kursiert die vage Vorstellung, man müsse dem glamourösen  „Einwanderungsland“ USA nacheifern. Nun gelten die USA zwar als liberales Einwanderungsland, aber sie wissen auch, wann Schluss sein muss: 1924 erließen sie den Immigration Act, der die Zuwanderung scharf begrenzte und kontingentierte. Hundert Jahre später ist damit zu rechnen, dass der neue Präsident sich nicht nur wieder daran erinnert, sondern auch tut, was getan werden muss. Die deutsche Einwanderungspolitik hingegen orientiert sich eher an der Flower-Power-Bewegung der 1960er Jahre. In der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 gebärdeten sich die Deutschen nach dem Urteil des britischen Politologen Anthony Glee als gefühlsselig berauschter Hippie-Staat.

Dass sie glaubten, es damit den Amerikanern gleichzutun, war wohl das vorletzte Missverständnis des American Way of Life. Das bislang letzte kam kurz danach: Man importierte die identitätspolitischen Phantasmagorien der postkolonialen „Social Justice“-Verschwurbelung, eines „strukturellen Rassismus“, einer „Critical Race Theory“, einer „White Supremacy“, einer „Black-Lives-Matter“-Bewegung. Der Wahlsieg Donald Trumps hat gezeigt, dass diese Bewegungen keinen Sitz im Leben der amerikanischen Gesellschaft haben, sondern kryptoakademische Hirngespinste überflüssiger Eliten sind. Gerade die ethnischen Minderheiten, deren kuratorischer Fürsprecher zu sein sich diese Bewegungen anmaßten, wählten anders, als sie es hätten tun dürfen – eine Eigenschaft, die sie auch mit den deutschen Wählern teilen.

 

Antiamerikanismus: Hegemonen und Vasallen

Dass die Beziehungen zwischen Ländern, die sich in zwei Weltkriegen bekämpft haben, nicht ganz friktionslos sein können, liegt auf der Hand. Aber schon vorher, im späten 19. Jahrhundert, hat der Antiamerikanismus in Deutschland feste Wurzeln geschlagen. Dieser Antiamerikanismus wurde und wird bis heute vom Schatten des Antisemitismus begleitet, der gerne auch im Gewand vornehmer Israelkritik einherkommt. Die gesellschaftlichen Turbulenzen, welche der Prozess der Industrialisierung und Modernisierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts mit sich brachte, wurden als Phänomene einer ungewollten „Amerikanisierung“ wahrgenommen. Man sah ein Zeitalter des Materialismus, der Mechanisierung und der Massengesellschaft auch in Deutschland heraufkommen.

Nicht jeder hat das als Bedrohung wahrgenommen. In der Zwischen­kriegszeit, den Goldenen Zwanziger Jahren der Weimarer Republik, gab es eine breite Strömung, die sich den Einflüssen der amerikanischen Kultur bereitwillig öffnete und der sich auch die Linksintellektuellen nicht verschlossen. Das war auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht anders. Man beklagte und beklagt bis heute eine Amerikanisierung, die als kulturelle Soft Power zersetzend in die westlichen Gesellschaften eingedrungen sei und mit ihrer Massenunterhaltungsindustrie deren kulturelles Leben präge. So progressiv sich diese Kritik auch bis heute gebärdet – hier schwingt immer noch alteuropäischer Dünkel mit. Aber zum Kulturhochmut der Deutschen besteht eigentlich kein Anlass. Schließlich waren sie es, die sich den American Way of Life gierig angeeignet haben. Niemand hat die Westdeutschen der Nachkriegszeit gezwungen, Kaugummi zu kauen, Coca Cola zu trinken, Disneyfilme zu sehen, Rock‘n Roll zu hören, Jeans zu tragen und eine Sprache zu verwenden, die sie für Englisch halten.

„Wir Kinder von Marx und Coca-Cola“ hieß eine 1971 erschienene Gedichtsammlung von deutschsprachigen Autoren der Nachkriegsgeneration. Als man irgendwann in den1960er Jahren des amerika­nischen Softdrinks überdrüssig geworden war, wandte man sich eben Marx zu. Der Stichwortgeber, der Heidegger-Schüler und zeitweilige Mitarbeiter des US-amerikanischen Geheimdienstes Herbert Marcuse, sah in den USA den „historischen Erben des Faschismus“ und Reinhard Lettau lieferte 1976 in seinem Buch über den „alltäglichen Faschismus“ in den USA das Material nach. Aber auch die amerikafeindlichen 68er Rebellen wussten, dass es sich unter dem Sternenbanner in der Bonner Republik ganz gut leben ließ. Ob es ihnen im China Maos, im Nordvietnam Ho Chi Minhs, im Nordkorea Kim Il-sungs, im Kambodscha Pol Pots oder auch nur in Ulbrichts DDR besser gefallen hätte, weiß man nicht. Vom Ernteeinsatz in Fidel Castros Kuba sind sie jedenfalls schnell und ernüchtert zurückgekehrt.

Man hat sich in amerikakritischen Kreisen, übrigens links wie rechts gleichermaßen – les extrêmes se touchent – , angewöhnt, die USA in verächtlicher Absicht als machtlüsternen „Hegemon“ und die Bundesrepublik als ihren „Vasallen“ zu betrachten. Wenn man die abschätzigen Untertöne beiseite lässt, ist das nicht falsch. Großmächte entfalten nun einmal hegemoniale Kräfte. Wenn man 1949 in der Bundesrepublik die Wahl gehabt hätte zwischen Stalin und Harry S. Truman, dann wäre diese Wahl sicher nicht anders ausgefallen als so, wie es dann tatsächlich gekommen ist, ohne dass deutsche Politiker darauf großen Einfluss gehabt hätten. Den einmal eingeschlagenen und durch den Marshall-Plan, die Care-Pakete und die Rosinenbomber der Berliner Luftbrücke materiell unterstützten Weg der „Westbindung“ konsequent weiterzuführen, war eine Entscheidung der Adenauer-Regierungen, welche der Bundesrepublik sicher nicht schlecht bekommen ist.

Gewiss kann man sagen, die Bundesrepublik sei auch in ihrer erweiterten Fassung als „Berliner Republik“ ein von US-amerikanischen Machtzirkeln dirigierter „Vasall“. Das mag so sein. Aber die „Vasallen“ der mittelalterlichen Ständeordnung waren keine Knechte; sie waren ihrem Herrn lehensrechtlich untergeordnet, ihm zu Treue und Dienst verpflichtet, aber sie genossen auch den Schutz des Herrn. Dass das keine geringe Gegenleistung ist, merkt der Vasall Bundesrepublik gerade.

 

Die schwarzen Flecken

Nun haben die USA im 20. Jahrhundert zweifellos einigen Anlass gegeben, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Geschichte der USA weist zwei schwarze Flecken auf: Die amerikanische Gesellschaft war über Jahrhunderte hinweg eine rassistische Gesellschaft und seit dem Philippinisch-Amerikanischen Krieg von 1899 bis 1902 haben sich die USA daran gewöhnt, Kriege in aller Welt zu führen. Die westliche Welt wiederum hat sich daran gewöhnt, der Beteuerung Glauben zu schenken, dass diese Kriege im Interesse der Menschenrechte notwendig seien.  Aber seit dem Vietnamkrieg haben die im Namen der Menschenrechte geführten Kriege ihre Unschuld verloren. Jedoch auch dieser Makel hat seine Kehrseite: Denn beendet wurde der Krieg nicht in Vietnam, sondern in den USA. Die „Armies of the Night“, die „Heere aus der Nacht“, wie sie Norman Mailer in seinem Dokumentarroman von 1968 genannt hat, die gewaltigen Massen­demonstrationen in den USA gegen den Krieg also, dieser wachsende innenpolitische Widerstand hat wohl mehr zu seiner Beendigung beigetragen als die militärischen Kräfte des Vietcong. Die amerikanische Gesellschaft findet manchmal eben auch die Kraft, sich gegen ihre Eliten zur Wehr und durchzusetzen. Auch das gehört zu „Amerika“. Dass die Bundesrepublik ebenfalls über derartige Selbstheilungskräfte verfügt, muss sie erst noch beweisen.

 

„Schöpferische Zerstörung“

Es ist eine kleine Pointe der Geschichte, dass 2026 das 250. Jubiläum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung unter der Präsidentschaft eines Mannes gefeiert wird, der seinen Wahlkampf unter dem Schlagwort „Make America Great Again“ geführt hat. Zufall ist das nicht. Der altgediente, damals 95-jährige Diplomatieveteran Henry Kissinger hat 2018, zu Beginn der ersten Amtszeit Trumps, in der „Financial Times“ prophetische Worte zu Protokoll gegeben: Trump sei eine jener Figuren, die von Zeit zu Zeit in der Geschichte erscheinen, um das Ende einer Ära zu markieren und diese Ära dazu zwingt, ihre alten Vorstellungen aufzugeben. Dass es dabei nicht immer vornehm zugeht, hat er nicht hinzugefügt. In Deutschland reicht ein provinzieller Cum-Ex-Skandal zum Nachweis der Kanzlertauglichkeit. Wer jedoch in den USA Präsident werden will, muss mehr zu bieten haben. Im Auf und Ab der in der Summe höchst erfolgreichen Berufsbiographie des Immobilien­unternehmers und Fernsehunterhalters Trump finden sich manche dunkle Flecken. Aber vielleicht muss das so sein. Denn wer sich im Milieu der New Yorker Immobilienmafia durchgesetzt hat, wird sich wohl auch im Deep State Washingtons behaupten können. Das wird nicht leicht sein. In den USA wie auch in den anderen in die Jahre gekommenen westlichen Demokraten haben sich Strukturen verfestigt, die nicht so leicht aufzubrechen sein werden.

Dass demokratische Gesellschaften nicht ohne Eliten funktionieren können, hat man sich in der Soziologie der 1960er Jahre eingestehen müssen und dafür den verschämten Verlegenheitsbegriff der „Funktionseliten“ geprägt. Dass es dysfunktionale Eliten geben könne, hat man sich damals nicht vorstellen können. Heute weiß man es. Man weiß aber in Deutschland wie in den USA nicht so recht, wie man sie wieder los wird. Das Alt-Berner Elitenethos „servir et disparaître“ ist ihnen fremd, und so krallen sich selbst an jenen Ämtern fest, denen sie offensichtlich nicht gewachsen sind. Die Antwort könnte Donald Trump heißen. Der US-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter hat die inzwischen zum Allgemeingut gewordene Theorie der „schöpferischen Zerstörung“ in die Wirtschaftstheorie eingebracht. Das ließe sich auf die Politik übertragen. Auch hier müssen Widerstände überwunden, alte Strukturen beiseite geräumt oder zerstört werden, um wirtschaftlichen und politischen Wandel zu ermöglichen.

Den lamentierenden deutschen Politkern und ihrer medialen Entourage  möchte man mit Nathan dem Weisen zurufen: „Geht nur! – Mein Rat ist aber der: ihr nehmt | Die Sache völlig wie sie liegt.“ Ändern könnt ihr sie ohnehin nicht, und die Zukunft wird zeigen, wer Recht gehabt hat. Das war auch in Lessings „Nathan“ so.

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Am Sonntag, 10. November 2014, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag

Herrschaftsarchitektur
Bauformen der Macht im postdemokratischen Zeitalter

 

von Peter J. Brenner gesendet.

Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.

Jede Form von Herrschaft bringt ihre eigenen Bauformen hervor. Das Mittelalter baute Kathedralen, der Absolutismus prunkvolle Schlossanlagen. Diktatoren von Stalin über Hitler bis zu Ceaușescu bevorzugen Monumentalbauten und hinterlassen ihren Nachfolgern oft ein lästiges Erbe; Demokratien bauen gerne mit Glas, um Transparenz zu signalisieren. Dazwischen liegen postdemokratische Baustile, vom EU-Parlamentsgebäude bis zum neuen Deutschen Reichstag oder zum Bundeskanzleramt.