Notre Dame de Paris
Am 7. Dezember 2024 fand in der Pariser Kathedrale Notre Dame ein Festakt statt, mit dem eines der größten, ältesten und bekanntesten Gotteshäuser der christlichen Welt wieder eröffnet wurde. Rund vierzig Staatspräsidenten und gekrönte Häupter nahmen an der Veranstaltung teil.
Es hatte seinen Sinn, die Wiedereröffnung so und nicht anders, als politischen Staatsakt und nicht als katholische Feier, in einem Gotteshaus durchzuführen. Man wollte etwas vom Glanz einer alteuropäischen Tradition zehren, ohne sich in religiöse Unkosten stürzen zu müssen. Im laizistischen Frankreich wird die Religionszugehörigkeit nicht in amtlichen Statistiken erfasst. In Umfragen bezeichnen sich rund 50 Prozent der Franzosen als katholisch, 30 Prozent gehören keiner Religion an, rund 10 Prozent sind Muslime und 3 Prozent sind Protestanten. Eine katholische Messe als nationalen Prestigeakt zu feiern, wäre unter diesen Umständen ein schwieriger Balanceakt geworden.
Deshalb wurde der Festakt als Staatsakt mit religiöser Tönung inszeniert. Der Papst fehlte, geistliche Würdenträger in liturgischen Festgewändern waren anwesend, aber eine Messe wurde nicht gefeiert. Überzeugend gelungen ist die Inszenierung nicht. Die machtpolitischen Hintergedanken eines französischen Präsidenten, der innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand steht, waren allzu offensichtlich. Wenn der Festakt eine symbolische Deutung zuließ, dann war es nur die eine: Es geht zu Ende mit dem alten Europa.
2019 hatte der französische Präsident noch den richtigen Instinkt gehabt, als er die Deutungsherrschaft über den Wiederaufbau der Kathedrale nach dem verheerenden Brand vom 15. April an sich zog. Unmittelbar nach der Katastrophe, die in der westlichen Welt allenthalben Bestürzung hervorgerufen hatte, rief der Präsident zu einer nationalen Kraftanstrengung auf. Enorme Summen wurden von privaten Spendern, Milliardären und einfachen Bürgern, bereitgestellt; fast eine Milliarde Euro kam zusammen Am Ende beteiligten sich 350 000 Spender aus der ganzen Welt an der Finanzierung des Wiederaufbaus.
Während der Bau der ursprünglichen Kathedrale im 13. und 14. Jahrhundert noch über eineinhalb Jahrhunderte gedauert hatte, war der Wiederaufbau nach gut fünf Jahren abgeschlossen – ganz so, wie der französische Präsident es gewünscht und wie niemand es für möglich gehalten hatte. Diese Kraftanstrengung war eine Frage des nationalen Prestiges. Die Kathedrale Notre Dame de Paris ist ein Monument nationaler Größe, eine von zehn gotischen Kathedralen Frankreichs. Sie ist zugleich ein Symbol der abendländischen Christenheit, das über Frankreich hinaus auf „Europa“ verweist. Diese gotischen Kathedralen sind Monumente einer Vergangenheit, welche die Zeiten überdauert und in die Gegenwart hineinragt.
Im Wiederaufbau der Kathedrale wiederholten sich die Konfigurationen, die bei ihrer Errichtung im Mittelalter den Bau ermöglicht haben. Kathedralen waren Demonstrationen kirchlicher und weltlicher Macht, zugleich aber auch ein Gemeinschaftswerk, an dem sich die ganze Bevölkerung, arm wie reich, mit Spenden beteiligte, und nicht zuletzt waren sie planerische und technische Meisterleistungen mittelalterlicher Baukunst.
Das alles hatte der, im Gegensatz zu seinen deutschen Politikerkollegen hochgebildete, französische Präsident sicherlich im Sinn, als er seinen pathetischen Aufruf zum Wiederaufbau der Kathedrale verkündete. Rund zweitausend Restauratoren, Handwerker, Architekten wurden zusammengerufen, um mit den Techniken und Materialien des mittelalterlichen Kathedralenbaus die zu weiten Teilen durch den Brand zerstörte Kathedrale in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.
Das Europa, das es nie gab
Das ist wieder mehr als fünf Jahre her, und in diesem halben Jahrzehnt ist die Strahlkraft alteuropäischer Traditionsmonumente immer weiter erodiert. Die Zeit lässt sich nicht stillstellen. Die Wiederaufbau‑ und Eröffnungsinszenierung diente der Beschwörung eines alteuropäischen, christlich geprägten, ins Mittelalter zurückreichenden Kulturraums, in dem sich ganz nebenbei die französische Nation als Führungsmacht präsentieren konnte.
Aber dieses Europa war eine Vision der Romantik, die sich ein Europa ausgedacht hat, das es nie gab. Die europäische Romantik um 1800 war die große Zeit der nostalgischen Europaverklärung. In Deutschland gab Novalis mit seinem Essay „Die Christenheit oder Europa“ den Ton vor; in Frankreich war es Chateaubriand mit seinem „Génie du christianisme“. In diesem fünfbändigen Werk gibt Chateaubriand eine enthusiastische und umfassende Darstellung des Einflusses, den das Christentum auf das geistige Leben des Abendlandes, auf Kunst, Architektur und Literatur, auf Musik und Malerei und auch auf das Naturgefühl und die Wissenschaften ausgeübt hat. Lange gehalten hat diese Vision nicht. Die Errungenschaften der Aufklärung erweisen sich als unhintergehbar und die Vorzüge der Moderne sind gar zu attraktiv, als dass man sie zugunsten eines dubiosen Mittelalterkultes aufgeben mochte. Denn Europa ist anders und war schon immer anders, als die Romantiker es sich vorgestellt haben.
„Europa“ ist eine Figur der griechischen Mythologie, aber die Vorstellung eines einheitlichen Kontinents „Europa“ ist erst im 18. Jahrhundert, in der Zeit der Aufklärung, entstanden. Und von Anfang an wurde diese Vorstellung für politische Ziele in Dienst genommen. Der Geburtshelfer des neuen, realen Europa war Napoleon. Er war der erste, der in einem Strudel von Blut und Gewalt die Grenzzäune niedergerissen und eine neue Ordnung geschaffen hat – eine Ordnung, in der neue Grenzen gezogen, neue Staaten geschaffen, neue Herrschaftsverhältnisse errichtet, in der aber auch die Prinzipien der Aufklärung und der Revolution in Westeuropa verbreitet und dauerhaft etabliert wurden.
Europa ist ungemütlich
Das Europa der Moderne ist kein bequemer Kontinent, und gemütlich ist Europa nie gewesen. Wer in Europa lebte und lebt, sah sich immer wieder Zerreißproben ausgesetzt, die sich aus den Besonderheiten dieses eigenartigen Kontinents ergeben. Das charakteristische Merkmal Europas ist seine Kleinteiligkeit. Die historische Entwicklung Europas von der Antike bis zum 18. Jahrhundert und darüber hinaus ist geprägt vom Nebeneinander und Miteinander auseinanderstrebender Kräfte. Politisch und geographisch zerfällt Europa in eine Vielfalt von Regionen und Landschaften, für die einen gemeinsamen Nenner zu finden man gar nicht erst versuchen sollte, und kulturell neigt es zur Anarchie.
Die Enge des Kontinents führt zur Nachbarschaft der Gegensätze und zum Zwang, die Unterschiede auszuhalten – und wenn sie nicht ausgehalten werden, dann gibt es Konflikte und es gibt Kriege. Die geistigen und die politischen Bewegungen Europas sind seit den ältesten Anfängern der Überlieferung, seit Homers „Odyssee“ und „Ilias“, auf Kampf, Wettstreit, Konflikt und Auseinandersetzung ausgerichtet – eine Konstellation, die oft genug, vom Peloponnesischen Krieg über den Untergang des Römischen Weltreiches und den Dreißigjährigen Krieg bis hin zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, zur Selbstzerstörung führte.
Diesen Kräften der Bewegung stehen die Kräfte der Beharrung gegenüber. Zusammen gehalten wurde Europa über die Jahrhunderte hinweg von den Stabilitätsankern der großen, traditionsbildenden Institutionen, den christlichen Kirchen, den Klöstern und Universitäten, Hof und Heer, die über Jahrhunderte hinweg Kontinuität und Stabilität garantierten und deren Entwicklung ihren Höhe‑ und vorläufigen Endpunkt in den europäischen Nationalstaaten gefunden hat. Eine der großen geistigen Errungenschaften der europäischen Neuzeit war die Lehre vom Gesellschaftsvertrag. 1651 veröffentlichte Thomas Hobbes sein Buch über den „Leviathan“, in dem er als Konsequenz aus den religiösen Bürgerkriegswirren seiner Zeit die Lehre vom – fiktiven – Vertrag entwickelte, den die Bürger mit ihrem Staat abschließen. Das Abkommen ist einfach: die Bürger unterwerfen sich dem Staat, er garantiert dafür Ordnung und Sicherheit.
An diesem Grundkonzept des staatlichen Gewaltmonopols wurde in den folgenden Jahrhunderten noch viel geschliffen und gefeilt, vor allem kamen die Menschen- und Bürgerrechte hinzu; aber im Kern ist es nach wie vor die Idee, auf der das Zusammenleben in den europäischen Staaten beruht und die ihre institutionelle Gestalt im Nationalstaat gefunden hat. Er hat sich als die leistungsfähigste Form der Organisation moderner Gesellschaften erwiesen. Nicht nur ist er Garant geordneter Verwaltungsabläufe sowie innerer, äußerer und nicht zuletzt sozialer Sicherheit. Er ist auch der einzige Garant der heute wieder so oft beschworenen Menschenrechte – ohne den Nationalstaat wären die Menschenrechte nur schwarze Buchstaben auf weißem Papier.
Im Gleichklang mit der Bändigung der gesellschaftlichen Kräfte hat das Europa der Neuzeit die gedanklichen wie materiellen Instrumente zur Beherrschung der Natur entwickelt. Max Weber, der Urvater der deutschen Soziologie, hat sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem stilprägenden Begriff des „okzidentalen Rationalismus“ beschrieben, der sich auch in einer wohlstandsschaffenden Wirtschaftsform ausgeprägt hat. Max Weber hat vom „Geist des Kapitalismus“ als einer Wirtschafsethik gesprochen, die sich zunächst im Europa der Neuzeit und sodann auch weltweit bewährt hat.
Aufs Ganze gesehen, im globalen Maßstab, haben sich der Kapitalismus als Wirtschaftsform sowie die europäische Wissenschaft im Verein mit der Technik als enorm leistungsfähig erwiesen. Sie haben verheerende Schäden angerichtet; soziale Lebensverhältnisse ruiniert und gigantische Naturzerstörungen verursacht. Aber in der Summe haben sich der Lebensstandard ebenso wie die Lebenserwartung weltweit, wenn auch sehr unterschiedlich, verbessert. Tatsächlich hat sich seit dem Zeitalter der Entdeckungen der „okzidentale Rationalismus“ in unterschiedlichen Formen global verbreitet: als Kolonialismus, als Imperialismus und zuletzt als Globalisierung. Aber diese Kraft sich erschöpft. Übrig geblieben ist nur der Gestus globaler moralischer Anmaßung. Ihren sinnfälligsten Ausdruck findet sie im in Brüssel erdachten und in Berlin verfeinerten „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“, das die ganze Welt dem Maßstab des deutschen Arbeitsschutz‑ und Gleichbehandlungsrechtes unterwerfen will. Aber die Welt interessiert sich nicht mehr dafür.
Die Selbstzerstörung Europas
Das filigrane Geflecht der widerstreitenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte im Gleichgewicht zu halten und zum Guten zu wenden, ist keine leichte Aufgabe. Oft genug ist sie misslungen. Europa hat nicht nur die Demokratien und die Menschenrechte hervorgebracht, sondern auch den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts die ideologischen Stichwörter geliefert. Das Gegenbild zur totalitären Erstarrung Europas im „Zeitalter der Extreme“ ist die ideologisch motivierte Selbstauflösung im beginnenden 21. Jahrhundert. Europa droht an den Werten zugrunde zu gehen, die es sich selbst zurechtgelegt hat. Unter dem Diktat seiner eigenen Werte ist Europa bereit, sich selbst aufzugeben.
Als Anfang Dezember 2024 die Kathedrale Notre Dame unter weltweiter Anteilnahme wieder eröffnet wurde, konnte man glauben, dass dieses Jahr einen versöhnlichen Abschluss finden werde. Es kam anders. Keine drei Wochen später fand jenes Ereignis statt, das zumindest in Deutschland den Rückblick auf das Jahr 2024 stärker bestimmen wird als die pompöse Inszenierung in Paris. In Magdeburg, der Hauptstadt Sachsen-Anhalts, wurden bei einer Amokfahrt über einen Weihnachtsmarkt fünf Menschen getötet und mehr als zweihundert verletzt. Niemand wird je wissen, was den Täter angetrieben hat. Er wird als „gut integrierter“, ärztlich ausgebildeter und in einer staatlichen Einrichtung beschäftigter Araber beschrieben, dem die Bundesrepublik Deutschland, deren Bürger er im Dezember 2024 ermordet hat, vor acht Jahren Asyl gewährt hat. Er ist nicht der einzige seiner Art, weder in Deutschland noch in anderen Ländern Westeuropas; tagtäglich kann man dabei zusehen, wie die Gesellschaften Westeuropas von innen heraus zerstört werden. Aber große Reaktionen ruft das nicht hervor. Man hat sich damit abgefunden, dass es nun einmal so ist – man nimmt es hin als Preis einer „Weltoffenheit“, die zum Erbe Europas gehöre oder aber, je nach Perspektive, auch als Strafe für Jahrhunderte des Kolonialismus, mit dem Europa den „globalen Süden“ unterjocht habe.
Die Europamüden
Europa ist seiner selbst müde geworden, nicht zum ersten Mal. 1838, nach der Europa-Euphorie der Romantiker, veröffentlichte der Schriftsteller Ernst Willkomm seinen Roman „Die Europamüden“ mit dem Untertitel „Ein modernes Lebensbild“. Das Werk ist kein Glanzlicht der europäischen Romanliteratur, aber dokumentarischen Wert hat es doch. Der Roman schildert, der Titel verrät es, ein müde gewordenes Europa. Die europamüden Intellektuellen des Romans fühlen sich abgestoßen von der dekadenten Gesellschaft ihrer Zeit. Dem „Pesthaus“ Europa stellen sie den jungen Kontinent Amerika als Alternative entgegen. Viele Intellektuelle des Vormärz – unter ihnen allerdings nicht Ernst Willkomm – sind tatsächlich teils freiwillig, teils politisch erzwungen, in die USA ausgewandert.
Eine späte Spiegelung findet diese Hoffnung auf Amerika in der Festveranstaltung zur Wiedereröffnung der Pariser Kathedrale. Das öffentliche Interesse galt nicht den beiden Repräsentanten der Staaten, die sich für die Kernländer Europas halten – nicht dem gastgebenden französischen Staatspräsidenten und erst recht nicht dem deutschen Bundespräsidenten. Es war eine Person ohne Amt, nämlich der designierte amerikanische Präsident, der die öffentliche Wahrnehmung des Ereignisses beherrschte.
Als Heinrich Heine das Wort des „Europa-müden“ prägte, um eine Zeitstimmung zu beschreiben, die des „dumpfen abendländischen Wesens so ziemlich überdrüßig“ geworden war, richteten sich seine Erwartungen nicht auf Amerika. Heine hatte noch darauf gehofft, dass eine erfrischende Erneuerung Europas ihre Impulse aus dem Orient erfahren würde. Knapp zweihundert Jahre später weiß man: Er hat sich geirrt.
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Am Sonntag, 15. Dezember 2024, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag
Deutsche Tugenden –
Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit
von Peter J. Brenner gesendet.
Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.
Die „deutschen Tugenden“ haben einen zweifelhaften Ruf. Als Garanten deutscher Tüchtigkeit und wirtschaftlichen Erfolgs verschafften sie den Deutschen früher einmal hohes Ansehen in der Welt. Aber seit langem schon sind sie in Deutschland selbst in Verruf geraten, werden sogar als „Sekundärtugenden“ geächtet, mit denen man jedes mögliche Unheil anstiften könne. Im historischen Rückblick erweisen sich die „deutschen Tugenden“ als eine Zwischenstation auf dem Weg von den antiken Tugendlehren zum postmodernen „Werteverzehr“.