Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland

In der Bonner Republik herrschten geordnete Verhältnisse. Niemand hätte sich vorstellen können, dass Wahlen systematisch manipuliert werden, und erst recht undenkbar wäre es gewesen, dass ein Bundesland gar nicht erst in der Lage sein würde, Wahlen ordnungsgemäß durchzuführen. Das ist fast vierzig Jahre her, und seitdem hat sich manches geändert. Bei den Bundes‑ und Landtagswahlen 2021 hat sich gezeigt, dass speziell das Bundesland Berlin weder die Wahlen zu seinem eigenen Abgeordnetenhaus noch die zum Bundestag auch nur annähernd sachgerecht durchführen konnte. Als drei Jahre später nach dem Scheitern der dann irgendwie doch zustande gekommenen Bundesregierung vorzeitige Bundestagswahlen notwendig wurden, erklärte die zuständige Bundeswahlleiterin, zugleich Präsidentin des Bundesamtes für Statistik, dass sie wegen Papier- und Personalmangels sowie überhaupt wegen allgemeiner Unfähigkeit erheblichen Zweifel daran habe, die Neuwahlen innerhalb der grundgesetzlich vorgeschriebenen Fristen durchführen zu können. In der deutschen Öffentlichkeit, namentlich der „vierten Gewalt“, der Presse, wurde das alles stillschweigend und achselzuckend hingenommen, als dürfe man von diesem Staat ohnehin nichts anderes mehr erwarten.

 

Was passiert mit den Stimmen?

Die simple Vorstellung, dass Menschen in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl ihre Stimmen abgeben, dass diese Stimmen gezählt, und aus dem Ergebnis die Mitglieder des Bundestages hervorgehen, die wiederum die Interessen des Volkes vertreten, ist weit entfernt von der Wirklichkeit.

Es ist eine Illusion, dass es Verfahren gibt, die zu einem gerechten Wahlergebnis führen, in der jede Stimme das gleiche Gewicht hat. Kommunal‑, Landtags‑, Bundestags‑ und Europawahlen haben sehr unterschiedliche Wahlmodi, bei den einen gibt es eine Fünf-Prozent-Klausel, bei den anderen nicht, bei den einen liegt das Wahlalter bei 16, bei anderen bei 18 Jahren, Wahlkreise haben trotz aller Bemühungen einen unterschiedlichen Zuschnitt, sodass man in dem einem mehr Stimmen für ein Mandat braucht als in dem anderen, Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft dürfen zweimal wählen. Eines der großen Geheimnisse der parlamentarischen Demokratie ist schließlich die Frage, wie aus Wählerstimmen Abgeordnetensitze werden. Denn mit dem bloßen Zählen ist es nicht getan. Die proportionale Verteilung erfolgt seit 2008 nach dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren, davor war es das Hare/Niemeyer-Verfahren und davor das D’Hondt-Verfahren. Und dann gibt es noch ein Problem: In Deutschland können die Wähler zwar wählen, aber sie können nicht wählen, wen sie wählen können. Denn die Rekrutierung des zur Wahl stehenden politischen Personals erfolgt nach Regeln, welche dem Zugriff des Wählers ebenso wie den Blicken der Öffentlichkeit entzogen sind.

Schließlich gibt es das vor jeder Wahl beschworene Phänomen der „verschenkten“ oder „verlorenen“ Stimmen Bei der Bundestagswahl 2021 wurden 46 854 508 Stimmen abgegeben, wobei die Ergebnisse der Berliner Wiederholungswahl berücksichtigt wurden sind. 39 Parteien kamen nicht in den Bundestag, damit waren 4 061 325, also immerhin knapp zehn Prozent der Stimmen „verloren“, nicht gerechnet die 412 825 ungültigen Zweitstimmen. Die größten Gewinner unter den Verlierern waren die Freien Wähler mit gut 1,1 Millionen, die Tierschutzpartei mit rund 675 000 und die coronamaßnahmenkritische Partei dieBasis mit etwa 630 000 Zweitstimmen. Nicht verloren sind übrigens die 55 578 Stimmen für den regierungstreuen Südschleswigschen Wählerverband, der nicht an die Fünf-Prozent-Klausel gebunden ist.

Es ist nicht sicher, ob die Wähler dieser Verliererparteien ihre Stimmen als verloren betrachtet haben. Wahrscheinlich nicht. Fast alle werden sie von Anfang gewusst haben, dass die gewählte Partei keine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag hatte, und wenn sie doch eingezogen wäre, hätte das keine Bedeutung gehabt. Man kann sich wundern, dass die Wähler trotzdem ihre Stimme so abgegeben haben, wie sie es getan haben. Mehr noch kann man sich wundern, dass Parteien überhaupt zugelassen werden, die chancenlos sind und nur Geld kosten und Mühe verursachen. Man könnte diese Mühen der Aussichtslosigkeit mit dem Demokratieprinzip erklären und mit dem Gebot der Fairness rechtfertigen. Der stets illusionslose Niklas Luhmann hat einen besseren Grund gefunden: Zu den vielen Funktionen, welche Wahlen in Demokratien oder auch Nicht-Demokratien haben, gehört die „Absorption von Protesten“: Wahlen ermöglichen die Artikulation von „Unzufriedenheit ohne Strukturgefährdung“, und solange das funktioniert, ist das Geld in die 39 aussichtslosen Parteien der letzten Bundestagswahl gut investiert.

Ganz offenkundig weisen die praktischen Verfahren der Demokratie klare Gerechtigkeitsmängel auf. Das lässt sich nicht ändern. Die Welt ist nun einmal ungerecht, und dieser Mangel lässt sich durch noch so ausgefeilte Verfahren nicht beseitigen. Im Gegenteil: wenn die Verfahren überkompliziert werden, sodass sie niemand mehr versteht, dann verzehren sie die eigentliche Ressource, auf der die Demokratie beruht: das Vertrauen der Bürger.

 

Der Wählerwille

Das politische Phänomen der „Wahlen“ ist demokratietheoretisch hochgradig mythisch aufgeladen. In ihnen komme, so sagt man, ein „Wählerwille“ zum Ausdruck, der wiederum das Handeln von Politikern legitimiere. Dieser Wählerwille ist ein Konstrukt der öffentlichen Meinungsbildung und der Selbstlegitimation von Politikern. Irgendein verfassungsmäßiges, gesetzliches oder auch verfahrenstechnisches Fundament hat er nicht. Der „Wählerwille“ ist ein später Abkömmling der „volonté générale“, die Jean-Jacques Rousseau in den 1760er Jahren in die politiktheoretische Diskussion eingeführt hat. Rousseau unterschied zwischen einer „volonté de tous“ und eben dieser „volonté générale“.

Die „volonté de tous“ ist leicht zu ermitteln, indem man Wahlen durchführt und Stimmen auszählt. Aber sie ist ein minderwertiger Wille, in ihm kommen nur partikulare Privatinteressen zum Ausdruck die zu illegitimen Zufallsmehrheiten führen können. Die „volonté générale“ hingegen entspringt einer mythischen Volkseinheit, die sich auf paradoxe Weise mit einer unhörbaren Stimme zu Gehör bringt, wirkungsmächtig, aber vernehmbar nicht für jeden.

Nach einer demokratischen Abstimmung gibt es Mehrheiten und Minderheiten. Die moderne Demokratie fordert von der Minderheit, dass sie sich dem Willen der Mehrheit so lange beugt – sofern nicht unabdingbare Grundrechte betroffen sind, die auch Minderheiten geltend machen ­können –, bis sie selbst wieder eine Mehrheit errungen hat. Aber das war Rousseau zu wenig. Er fordert nicht nur Gehorsam gegenüber dem Mehrheitswillen, sondern weit darüber hinaus das Zugeständnis der Minderheit, selbst im Irrtum verhaftet zu sein. Aus den formalen Fragen der Demokratie wird dann eine gesinnungshafte Unterwerfungsforderung, die in den Kern der individuellen Persönlichkeit hineingreift: Sie soll die Mehrheitsmeinung als einzig gültige Wahrheit anerkennen. Das ist die Keimzelle eines jeden politischen Totalitarismus, und so ist es auch gekommen.

Auf Rousseau folgte Robespierre. In der terreur der Französischen Revolution koppelte sich die „volonté générale“ von der „volonté de tous“ ab und verselbständigte sich. Die minoritäre Jakobinerherrschaft emanzipierte sich von dem Mehrheitsverhältnissen des Nationalkonvents im sicheren Bewusstsein, über ein höheres Wissen und eine bessere Legitimation zu verfügen.

Die Jakobiner gehören der Vergangenheit an. Ihre letzte historisch wirksame Ausprägung erhielten sie in den stalinistischen und maoistischen Versionen des Marxismus. Aber verführerisch bleibt der Gedanke doch, dass man, wenn man nun schon einmal gewählt ist, an der Mehrheit des Volkes vorbei regieren müsse, weil man es eben besser wisse. So muss man wohl den Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister verstehen, der in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 30. Januar 2025 wie immer etwas verschwurbelt forderte, im Bundestag dürfe nicht Mehrheit werden, „was die Mehrheit im Volk ist“

 

Die Falschwähler

Inzwischen hat sich die Vorstellung verfestigt, dass man die Wähler davor schützen müsse, falsch zu wählen. Angestiftet werden die Falschwähler, darüber scheint man sich in den Kreisen der Politfunktionärseliten einig zu sein, von digitalen Netzwerken, die wiederum im Dienste unbekannter ausländischer Mächte stehen. Das Bundesinnenministerium hat deshalb Mitte 2024 eine „Zentrale Stelle zur Erkennung ausländischer Informationsmanipulation“ eingerichtet. Nun kann man sich fragen, warum sich das Innenministerium für ausländische Desinformation zuständig fühlt. Es läge doch nahe, sich der inländischen Desinformation zu widmen und den Blick nicht nach Moskau, Peking oder Pjöngjang zu richten, sondern nach Hamburg, Mainz, München oder Berlin.

„Desinformation“ ist zwar ein neuer Begriff, aber kein neues Phänomen in der politischen Landschaft. Früher hat man dieses Phänomen als „Lüge“ oder auch als „Wahlversprechen“ bezeichnet. Die Desinformation, vulgo Lüge, aus dem politischen Betrieb entfernen, heißt ihn stillzulegen. YouTube, Facebook, Instagram, TikTok, X und Telegram haben gewiss einen großen Einfluss auf die politische Willensbildung in vielen Ländern der Welt und dass hier viele Falschinformationen und noch mehr schlichter Unsinn verbreitet wird, lässt sich schlechterdings nicht abstreiten.

Dass aber einem wählenden Bürger zugemutet werden kann, die Wahrheit von der Lüge, fremdes Interesse vom eigenen, überhaupt die Spreu vom Weizen zu trennen, gehört nun einmal zu den Grundannahmen des auf Wahlen beruhenden demokratischen Prozesses. Wenn die Wähler vom Staat oder besser noch von der Europäischen Kommission unter Kuratel gestellt werden, dann stehen nicht nur die Grundlagen der Demokratie, sondern das gesamte Menschenbild der modernen westlichen Gesellschaften zur Disposition. Denn das beruht auf der Vorstellung, dass Menschen selbstverantwortliche Subjekte sind, die über ein eigenständiges Urteilsvermögen verfügen, weil sie eine entsprechende Bildung genossen haben. Vor zwei Jahrzehnten hat man das mit dem Begriff der „Mündigkeit“ umschrieben.

Der Mündigkeitsentzug durch deutsche Desinformations­bekämpfungs­behörden und europäische Digital Services Acts steckt erst in den Kinder­schuhen und hat seine Wirksamkeit noch nicht so recht entfalten können: Die Leute wählen immer noch falsch. Es wirkte etwas unelegant, als die deutsche Bundeskanzlerin im Februar 2020 aus Südafrika verfügte, dass die Wahl eines Ministerpräsidenten in Thüringen „rückgängig gemacht“ werden müsse. Inzwischen haben sich elaboriertere Mechanismen im Zusammenspiel von Geheimdiensten und Verfassungsgerichten herausgebildet. Ein immer noch etwas ungelenker Probelauf war die Annullierung des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen im EU-Land Rumänien, aber er weist wenigstens in die richtige Richtung.

In der jüngsten Zeit hat sich unter führenden Politikern die Gewohnheit verfestigt, von „unserer Demokratie“ zu sprechen. Das ist sicher nicht böse gemeint, aber manchmal sagt die Sprache mehr als sie sagen soll. Denn der „Demokratie“ ein besitzanzeigendes Fürwort voranzustellen, legt die Vermutung nahe, dass die Demokratie der einen nicht die Demokratie der anderen ist. Tatsächlich gibt es inzwischen zwei Arten von Demokratie: die eine, traditionelle, die auf so oder so gearteten Wahlverfahren beruht, mit denen Mehrheiten gesucht werden. Man könnte sie die „elektorale Demokratie“ nennen. Und es gibt eine andere, eben „unsere“, Demokratie, die man auch „liberale Demokratie“ nennt. In der „liberalen Demokratie“ müssen die Fehlentscheidungen korrigiert werden, die nun einmal ständig vorkommen, wenn man die Wähler einfach so wählen lässt, was sie wählen wollen. Die liberale Demokratie unterscheidet sich von der gewöhnlichen Demokratie durch das Bewusstsein ihrer Akteure, über eine höhere Legitimation und ein besseres Wissen zu verfügen.

 

Das Gewissen der Gewählten

Aber vielleicht sind ja gar nicht die Wähler das Problem, sondern die Gewählten. In der Bundesrepublik hat man sich für die Konstruktion einer repräsentativen Demokratie mit unabhängigen Mandatsträgern entscheiden. Sie seien, so heißt es in Art. 38 Grundgesetz, „nur ihrem Gewissen unterworfen“. Die Verpflichtung der Abgeordneten auf ihr „Gewissen“ hat einen unentschiedenen Doppelcharakter, der in der ganzen langen Gewissensdiskussion der Philosophiegeschichte unaufgelöst geblieben ist. Denn das Gewissen ist einerseits das, was jedem einzelnen allein zukommt. Andererseits kann es aber auch die Verpflichtung auf eine übergeordnete religiöse, moralische oder soziale Norm sein, die sich mit der Stimme des Gewissens Gehör verschafft – bei Freud heißt das dann „Über-Ich“.

Welches Gewissen gemeint ist, hat der Verfassungsgeber nicht gesagt, und er hat auch nicht gesagt, was mit den Abgeordneten auf sich hat, die kein Gewissen haben. Sie sind aber gar nicht so problematisch. Wer nur seinen eigenen Interessen folgt oder denen seiner Klientele, mag als Egoist oder Opportunist oder Wendehals gescholten werden Aber immerhin muss er bereit sein, wahrzunehmen, was um ihn herum geschieht, er muss darauf reagieren und seine Meinung – oder zumindest sein Abstimmungsverhalten – ändern, wenn sich die Verhältnisse ändern.

Problematisch sind nicht die gewissenlosen Abgeordneten, sondern die Abgeordneten mit einem notorisch guten Gewissen. Das ist das Holz, aus dem Dogmatiker und Fanatiker geschnitzt werden. Sie sind geneigt, ihre privaten Meinungen oder die ihrer politmedialen Entourage für unumstößliche Wahrheiten zu halten und sie ungeachtet aller denkbaren Folgen durchzusetzen, sobald die politischen Verhältnisse es ihnen erlauben. Und wenn dann noch narzisstische Persönlichkeitsmerkmale hinzutreten, wird es gefährlich.

Es geht auch eine Nummer kleiner. In seinem berühmten Aufsatz „Politik als Beruf“ von 1919 hat Max Weber vom Politiker drei Eigenschaften verlangt, die in einem ausgewogenen Verhältnis stehen sollen: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß“. Nicht das Gewissen soll die Leitschnur des politischen Handelns sein, sondern die Vernunft: „Politik wird mit dem Kopfe gemacht“, postuliert Max Weber. Dafür braucht man kein gutes Gewissen, wohl aber Lebenserfahrung, Bildung und Urteilskraft.

Dieser Text wurde mit NI verfasst.

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Am Sonntag, 19. Januar 2025, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag

Zensur! Zweihundert Jahre
Meinungslenkung in Deutschland

von Peter J. Brenner gesendet.

Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.

Eine Gesellschaft ohne Zensur ist eine Illusion. Jede Gesellschaft definiert Grenzen des Sagbaren und des Verbotenen, und wenn es nicht der Staat tut, dann tun es andere wirkmächtige Akteure. Wo aber diese Grenzen verlaufen, ist eine Frage von kulturellen Machtkämpfen. Bestimmte Muster kehren immer wieder, aber neue Gesellschafts- und Medienverhältnisse führen auch zu neuen Konstellationen von Meinungsfreiheit und Zensur: Von den „Karlsbader Beschlüssen“ des Jahres 1819 zum „Digital Services Act“ der Gegenwart führt kein gerader Weg.