Die Kapitulation: KI Im Hörsaal
„Herr, die Not ist gross! | Die ich rief, die Geister, | werd ich nun nicht los“, ließ Goethe (dt. Schriftst., 1749-1832) einst seinen „Zauberlehrling“ klagen. In deutschen Klassenzimmern und Hörsälen wird diese Ballade sicher nicht mehr gelesen. Aber vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn man sie in deutschen Landesministerien gründlich studierte. Dort ist man gerade dabei, sich mutwillig in die Situation des Zauberlehrlings zu begeben und sich auf Entwicklungen einzulassen, denen man nicht gewachsen ist.
Im Februar 2025 teilte das bayerische Wissenschaftsministerium mit, dass man erwäge, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei studentischen Prüfungsleistungen zu erlauben. Besonders ausgereift ist die Überlegung nicht, wie genau und unter welchen Bedingungen der Vorschlag umgesetzt werden soll, ist noch offen. Besonders die juristischen Probleme sind unüberschaubar: Das über Jahrhunderte hinweg etablierte zentrale Bewertungskriterium der „selbständigen Prüfungsleistung“ als Maß aller Dinge wird man wohl aufgeben müssen. Mit dem Widerstand von Professoren muss man jedoch nicht rechnen. Die avancierteren unter ihnen haben längst gemerkt, dass sich Routinegutachten zu studentischen Prüfungsarbeiten viel rationeller mit KI erledigen lassen – am Ende kommt ohnehin immer die Note „gut“ heraus.
Auch im bayerischen Kultusministerium spricht man vornehm von einer „Prüfungskultur“ an den Schulen, die weiterentwickelt werden müsse. Man strebe „innovative und praxisnahe Leistungsmessungen“ an, die man, was auch sonst, in „Modellversuchen“ erproben werde. In Baden-Württemberg träumt man ebenfalls von der schönen neuen Pädagogenwelt. Die „Individualisierung“, welche die moderne Schulpädagogik als didaktische Monstranz vor sich herträgt, werde nun auch in den heterogensten Klassenzimmern in feinster Körnung möglich sein. Für jeden einzelnen Schüler könne in jeder einzelnen Unterrichtstunde ein eigenes, ein „individualisiertes“, Arbeitsblatt erstellt werden – genauer: man könne es von KI erstellen lassen. Das könnte sogar funktionieren: Man gibt den IQ, die Ethnie, die Muttersprache, die letzten Sprachtestergebnisse eines Schülers in eine Maske ein und in Sekundenschnelle kommt ein Arbeitsblatt heraus, das man nach seiner Bearbeitung durch den Schüler wieder einscannt, damit die Maschine das nächste Arbeitsblatt ausrechnen kann. Am Ende wird es so ausgehen, dass die Algorithmen unter sich bleiben. Davon träumen Lehrerverbände, nicht ohne hinzuzufügen, dass diese maschinelle Erleichterung des Lehrerdaseins keineswegs zu einer Erhöhung des Stundendeputats führen dürfe. Vielmehr müsse die gewonnene Zeit für wichtigere Zwecke genutzt werden – aber welche wichtigeren Aufgaben als den Unterricht im Klassenzimmer gibt es für Lehrer?
Ausgangspunkt für diese phantasievollen Überlegungen war eine Nachricht der Landesregierung Baden-Württembergs. Mitte Februar lancierte sie eine „innovative“ – was sonst – „KI-Assistenz“, die das „Innovationslabor“ – was sonst – der Landesregierung entwickelt habe. Schon diese Ankündigung liest sich so, als sei sie selbst schon von der besagten „KI-Assistenz“ mit dem Namen „F13“ formuliert worden. „F13“ soll in der Landesverwaltung eingesetzt werden und bietet vier Funktionen an: Die Assistenz soll 100-seitige Textvorlagen auf zehn Seiten zusammenfassen können; sie soll „umfangreiche Kabinettsvorlagen“ in „prägnante Vermerke umwandeln“, sodass auch Minister sie verstehen; sodann gibt es eine „Rechercheassistenz“; und die Krönung ist schließlich die „Fließtextgenerierung“, die aus mehreren Texten einen macht – eine Arbeit, die bis vor kurzem Politiker beim Plagiieren ihrer Doktorarbeiten noch manuell erledigen mussten. Auch das bayerische Digitalministerium zeigte sich interessiert an diesen Entwicklungen, an deren Ende also nicht nur die Lehrer, sondern auch die Politiker und ihre Verwaltungen überflüssig geworden sein werden.
Eine „neue Kulturtechnik“
Bei der „Künstlichen Intelligenz“ handele sich, so erläuterte der bayerische Wissenschaftsminister, um eine „neue Kulturtechnik“ wie Lesen, Schreiben und Rechnen, die man nicht aus den Universitäten fernhalten könne. Ganz so neu ist die Kulturtechnik jedoch nicht. Das Konzept „Artificial Intelligence“ wurde erstmals 1956 am Dartmouth College diskutiert und definiert. Als Kernelelement künstlicher Intelligenz wurde die Fähigkeit von Maschinen benannt, „Sprache zu verwenden“, Probleme zu lösen und vor allem: „sich selbst zu verbessern“. In der „EU-Verordnung über künstliche Intelligenz“ vom 2024 wird das aufgegriffen: KI-Systeme sind maschinelle Systeme, die bis zu einem gewissen Grad autonom operieren, die sich selbständig an Umwelten anpassen und auf Umweltherausforderungen reagieren können, denen man Aufträge erteilen und Ziele vorgeben kann, die bestimmte Ergebnisse hervorbringen und die ihre physische wie virtuelle Umgebung beeinflussen.
Rund 70 Jahre nach den ersten Ansätzen ist man sehr nahe an die Lösung dieser Herausforderungen herangekommen – so nahe, dass man in Ministerien glauben kann, KI sei eine „neue Kulturtechnik“. Aber das ist sie nicht. KI ist keine Kulturtechnik, sondern eine Kulturersatztechnik. Mit der Einführung des Taschenrechners im Mathematik-Unterricht der deutschen Schulen vor einem halben Jahrhundert haben die folgenden Generationen das Rechnen verlernt, und mit der Zulassung der KI an den Universitäten werden sie auch das Sprechen und am Ende das Denken verlernen – sofern sie es überhaupt je gekonnt haben.
Jeder technische Fortschritt bedeutet eine Lebenserleichterung, und jeder technische Fortschritt kennt ein Übermaß, das aus der Erleichterung eine Gefährdung werden lässt. Es hat etwas Deprimierendes, wenn man ein Jahrzehnt lang in der Schule eine Fremdsprache erlernt hat und man dann feststellen muss, dass eine Maschine in Sekundenschnelle einen Übersetzungstext produziert, von dem man anerkennen muss, dass er idiomatisch zweifellos allem überlegen ist, was man selbst in einem Vielfachen des Zeitaufwandes leisten könnte. Wer die Übersetzungen vor Augen hat, die noch vor wenigen Jahren den in China produzierten Waren als Gebrauchsanweisung beigegeben waren, wird die gigantischen Fortschritte anerkennen müssen, die auf diesem Gebiet erzielt wurden. Es ist absehbar, dass die „Künstliche Intelligenz“ auch in vielen anderen Bereichen, in der Medizin und im Journalismus, eine teils hilfreiche, teils zerstörerische Rolle spielen wird.
Aber KI hat ihre Grenzen. Einem Menschen, ob Lehrer oder Schüler, Professor oder Student, Politiker oder Journalisten, Arzt oder Manager, kann man abverlangen, dass er jede seiner Handlungen oder Äußerungen begründet. Von einer Maschine wird man die Antwort bekommen, sie sei nun einmal so programmiert; und damit ist die Diskussion zu Ende. Dem Ansinnen, sie möge sich doch bitte anders programmieren, wird sie nicht folgen können. Sie wird es nicht einmal verstehen, bevor sie jemand so programmiert, dass sie es versteht.
Es ist im Übrigen noch nicht ausgemacht, ob der Einsatz von Künstlicher Intelligenz die Anforderungen an die natürliche Sprachkompetenz wirklich reduziert. Es wird wohl eher so kommen, dass sich neue soziale Hierarchisierungen herausbilden werden, eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in eine sprachfähige Elite und eine ständig größer werdende Gruppe sprachunfähiger Heloten. Denn die Befehle, die „Prompts“, die dem KI-System gegeben, oder besser: die Aufträge die ihm erteilt werden, müssen eben auch in eine sprachliche oder symbolische Form gefasst werden – wer die falschen Fragen stellt, bekommt die falschen Antworten. Das also muss man können, ganz zu schweigen von den Herausforderungen, welche die Konzeption von Algorithmen‑ und KI-Architekturen für die natürliche Intelligenz der Entwickler bedeutet.
Der KI-Markt
Der Hoffnungsträger „F13“ – benannt nach den Funktionstasten einer Computertastatur – ist eine baden-württembergische Eigenproduktion. Sie wurde im Wesentlichen entwickelt vom Heidelberger Startup Aleph Alpha. Das Startup wurde 2023 vom Bundeswirtschaftsminister und Kinderbuchautor als „deutscher KI-Champion gefeiert“. Wie weit die Vorschusslorbeeren reichen, wird sich zeigen. Man kann sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, wie lange sich das Unternehmen auf dem globalen Markt behaupten wird und es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Landesregierungen und Schulbehörden Insellösungen implementieren, mit denen sie sich von den großen KI-Entwicklungstrends abkoppeln.
Die Diskussion um die „Künstliche Intelligenz“ hat zufällig fast gleichzeitig mit der Ankündigung des bayerischen Wissenschaftsministers einen neuen Schub erfahren: Mitte Januar stellte die von Liang Wenfeng gegründete chinesische Firma High-Flyer die Version R1 ihres KI-Modells DeepSeek vor und erschütterte damit die globale KI-Szene. Die US-amerikanische Konkurrenz spricht von einem „Sputnik-Schock“. Deep Seek, so lautete das Urteil der Experten, sei dem aktuell führenden, im Dezember 2024 vorgestellten Modell (o1) von OpenAI – dem US-Softwareunternehmen, das 2022 auch ChatGPT hervorgebracht hat – deutlich überlegen. Die Grundanlage ist bei beiden Modellen die gleiche: Sie können Wörter aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeiten so aneinanderreihen, dass sinnvoll wirkende Sätze und Texte entstehen. Beide Modelle verfügen zudem über ein neues Leistungsmerkmal, das die Anbieter etwas vollmundig „Reasoning“ nennen: Sie können sich auch mit sich selbst auseinandersetzen und Schlüsse aus dieser Auseinandersetzung ziehen – sie „denken, bevor sie antworten“, verspricht der Anbieter. Das wäre immerhin eine Neuerung in deutschen Klassenzimmern, Hörsälen, Parlamenten und Zeitungsredaktionen.
Nach dem Urteil der Fachleute wird DeepSeek nicht nur die Nutzung von KI, sondern vor allem den Markt revolutionieren. Der amerikanischen Konkurrenz ist es doppelt überlegen: Es ist sehr viel billiger; es kostet nach Expertenschätzung nur ein Zwanzigstel bis ein Vierzigstel der amerikanischen Produkte; und es ist ein Open Source-Angebot, was bei OpenAI (o1), anders als der Firmenname verspricht, nicht mehr der Fall ist. Auch auf diesem globalen Zukunftsmarkt erarbeiten sich chinesische Firmen gerade einen Vorsprung. Nicht einmal das in solchen Fällen hilfsweise gerne herangezogene Argument des unlauteren Wettbewerbs erweist sich als stichhaltig: DeepSeek wurde ohne die Hilfe der chinesischen Regierung entwickelt, und es wurde auch gut kapitalistisch vom Hedge-Fund des Gründers Liang Wenfeng finanziert.
Die Europäische Union nimmt an diesem Marktgeschehen auf die ihr eigentümliche Weise teil: mit gedrucktem Papier. Die „EU-Verordnung über künstliche Intelligenz“ von 2024 ist ein abenteuerlicher, 144-seitiger, eng bedruckter und völlig unleserlicher Text, der die gleichen Ambitionen hat wie der „Digital Services Act“ vom Februar 2024: Regulierung und Reglementierung. Die KI-Verordnung rühmt sich, „die weltweit erste umfassende gesetzliche Regelung für KI“ zu sein, mit der alles, die Grundrechte, die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Gesundheit und die Umwelt vor den fluchwürdigen Auswirkungen der KI geschützt werden sollen.
Und auch in den Tiefenschichten der globalen Industrie- und Finanzwirtschaft deuten sich Verwerfungen an, die beim Weltwirtschaftsforum 2025 in Davos erstmals offen angesprochen wurden: „Klima“ war gestern. In Davos wurde der Primat der Klimapolitik sang- und klanglos abgeräumt. Die Zukunft der Weltwirtschaft gehört nicht mehr den Windkraftanlagen und Solarpanels, den Elektroautos und Wärmepumpen, dem Emissionshandel und dem „Green New Deal“. Dieses Feld ist abgegrast, das Geld, das da noch zu holen ist, wird in China verdient. Die Karawane der globalen Finanzdienstleister und Vermögensverwalter zieht einfach weiter zu den nächsten Futtertrögen, und die heißen KI. Dadurch entsteht ein Energiebedarf, der sich mit Windrädern nicht decken lässt. Das Training und die Nutzungsphase, die „Inferenz“, der KI-Modelle erfordert einen gigantischen Energiebedarf. Wirklich prognostizieren lässt sich das im globalen Maßstab nicht. Man schätzt, dass KI-Rechenzentren um 2030 einen Strombedarf von rund 20 Gigawatt haben werden. Das ist die Leistung von 14 Atomkraftwerken – Google plant gerade den Ankauf eines halben Dutzend allerdings noch längst nicht betriebsreifer Klein-Reaktoren des Entwicklers Kairos Power. Hinzu kommt die Kühlung, für die riesige Wassermengen verbraucht werden. Da kann Klimapolitik nur stören.
Die demokratische Öffentlichkeit
Als Grundlage nicht gerade „unserer“, aber doch der westlichen Demokratien hat man die Existenz einer „Öffentlichkeit“ identifiziert, in der politische Diskurse stattfinden. Dabei bilden sich politische Meinungen heraus, die wiederum zur Legitimation demokratischer Herrschaft führen. Ob das alles so ist und ob es jemals so war, kann dahin gestellt bleiben. Dass es sich aber durch die digitalen Medien radikal verändert hat, liegt auf der Hand. In der aktuellen Diskussion macht sich die hysterische Befürchtung breit, dass sich durch KI demokratische Prozesse illegitim beeinflussen ließen. In einem osteuropäischen EU-Land wurden sogar Wahlen annulliert, weil man annahm, dass eine fremde Macht, die man nicht benennen konnte, den digitalen Informationsfluss im Wahlkampf beeinflusst habe, was man nicht beweisen konnte.
Aber die eigentliche Gefahr droht von einer anderen Seite: nicht von der Manipulationsanfälligkeit, sondern von der kreativen Unproduktivität Künstlicher Intelligenz. In einer von der KI beherrschten Öffentlichkeit treten Algorithmen gegen Algorithmen an, und die unterliegen nun einmal den Beschränkungen, denen KI unterliegt: Sie sind nicht produktiv; sie erkennen Muster und generieren Lösungen aufgrund von stochastischen Modellen, und so schreiben sie in immer neuen Variationen das fort, was immer schon da war. Der Berkeley-Professor Hannes Bajohr hat für diesen von der „Künstlichen Intelligenz“ geschaffenen Diskursraum den schönen Begriff der „synthetischen Öffentlichkeit“ gefunden. Dagegen helfen keine EU-Verordnungen
Mit seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2025 hat der amerikanische Vizepräsident allenthalben Empörung ausgelöst. Man hätte aber besser genau zuhören sollen, als er die Frage stellte, was denn eine Demokratie wert sei, die durch die Verbreitung von algorithmengesteuerten Inhalten gefährdet werden könne. Den Gedanken kann man zu Ende führen: Wenn die deutsche Demokratie Angst vor Algorithmen haben muss, dann liegt es nicht an den Algorithmen. Dann liegt es an den Schulen, wo Schüler unterrichtet und an den Universitäten, wo Lehrer ausgebildet werden.
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Am Sonntag, 16. Februar 2025, wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag
Kultur am Abgrund. Die Weimarer Republik
von Peter J. Brenner gesendet.
Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.
Am Anfang der Weimarer Republik stand die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkrieges und an ihrem Ende stand der Schritt in die Barbarei des Hitler-Regimes. Dazwischen lagen Jahre unablässiger politischer, wirtschaftlicher und sozialer Krisen. Zugleich entfaltete sich ein kulturelles Leben von historisch beispielloser Mannigfaltigkeit. Die Zwanziger Jahre brachten in allen Bereichen Werke von Weltrang hervor, und zugleich schufen sie eine anspruchsvolle Massenkultur, die breite soziale Schichten erreichte.