Corona-Wissenschaft: Die Köpfe und die Zahlen

Im Corona-Jahr 2020 erschien die Wissenschaft im glänzendsten Licht. Noch nie zuvor wurde in Deutschland Wissenschaftlern eine so große Bühne geboten, auf der sie der Öffentlichkeit  ihre Forschungen und mehr noch sich selbst darstellen konnten. Selbst die Klimaforschung der letzten Jahre hat nicht die konzentrierte Wucht öffentlicher Präsenz erreichen können wie die Corona-Forscher.  Die Klimaforschung wird allerdings den längeren Atem haben, da sie die Bewährung ihrer Aussagen in eine ferne Zukunft verlegt. Bei den Corona-Forschern hingegen kann man innerhalb weniger Wochen sehen, was ihre Ratschläge an die Politik wert sind. Zugleich wird aufgrund der epidemischen Entwicklungsdynamik manches auf offener Bühne ausgetragen, was sich in der Klimaforschung und verwandten Gebieten hinter den Kulissen verbirgt.

Das spöttische Wort vom „Hofvirologen“ trifft die Sache recht genau. Es erinnert an den Hofastrologen in Schillers „Wallenstein“, der dem Feldherrn einredet, jetzt sei die Zeit gekommen: „Jetzt muß | Gehandelt werden, schleunig“. Mehr weiß er aber auch nicht, und wie seine Ratschläge geendet haben, zeigt das berühmte Bild Carl Theodor von Pilotys in der Münchner Neuen Pinakothek: „Der Hofastrologe Seni vor der Leiche Wallensteins“ von 1855. Denn mit dem Handeln ist das in der Wissenschaft so eine Sache. Politiker müssen handeln, manchmal auch schnell handeln.  Wissenschaft hingegen dauert lange, ist meist schwer verständlich und in der Regel nicht für den unmittelbaren Alltagsgebrauch geeignet.

Wenn Wissenschaftler in dieser Konstellation zu politischen Akteuren werden, dann müssen sie ihre Reputation in die Waagschale werfen und ihre komplexen Forschungsergebnisse so verdichten, dass sie politikkompatibel, und das heißt: medientauglich werden. Dann zählen die Köpfe und die Zahlen.

Wie das in der Praxis funktioniert, konnte man in der Corona-Krise hautnah beobachten. Sehr schnell kristallisierte sich eine Handvoll von Wissenschaftlern heraus, die an der Seite der Politiker das öffentliche Meinungsbild beherrschten. Besonders geeignet für Talkshowzwecke sind Mediziner mit Professorentitel – habilitiert oder nicht – und Regierungsparteibuch. Nachdem man, erstaunlich spät übrigens, den Gender-Fauxpas bemerkt hatte, wurden eilends noch ein paar Frauen in die Talkshows nachgereicht. Am Ende war es ein halbes Dutzend Wissenschaftler, die zügig mit ebenso eingängigen wie alternativlosen Forschungs­ergebnissen bei der Hand waren, auf die wiederum die Politik ihr Handeln stützte. Eine Wissenschaft, die Einspruch erheben könnte, gibt es kaum noch, und wo es sie gibt, kommt sie nicht zu Wort, und wo sie zu Wort kommt, wird sie übertönt vom Zahlen-Stakkato der massenmedial omnipräsenten Fernsehvirologen.

Die Corona-Politik der Bundes- und der Länderregierungen beruht auf Zahlen; auf Zahlen, die im Falle des „R-Wertes“ sogar bis auf die Nachkommastelle genau ausgerechnet werden und damit einen unabweislichen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch erheben. Inzwischen weiß aber auch der letzte unter den aufmerksamen Bundesbürgern, dass diese Zahlen keinen Wert haben. Die täglich gemeldeten Zahlen der Neuinfektionen, der Todesfälle, der „Inzidenzen“, des „R-Wertes“ beruhen nicht auf repräsentativen Stichproben, die allein statistische Aussagekraft hätten, sondern auf Zufallsbefunden, die zudem mit untauglichen PCR-Tests erhoben werden. Denn die wiederum messen nicht das, was sie zu messen vorgeben: nämlich Corona-Erkrankungen. Komplettiert wird dieses Systems des Versagens durch unzuverlässige und lückenhafte Erfassungsmethoden und Meldewege der Gesundheitsbehörden.

Nach einer mehrmonatigen epidemiologischen Geisterfahrt hatte sich zunächst die „Reproduktionszahl R“ als Maß politischen Handelns durchgesetzt. Als irgendwann auch dem letzten Beobachter klar wurde, dass sich das Corona-Geschehen regional und lokal sehr unterschiedlich entwickelte, wurde sie ersetzt durch die mythische „7-Tage-Inzidenz“. Diese „7-Tage-Inzidenzen“ orientieren sich an überhaupt keiner medizinischen Expertise, sondern an der angenommenen Fähigkeit der Gesundheitsämter zur „Nachverfolgung“ von Ansteckungsketten. Auch die Öffentlichkeit weiß inzwischen jedoch, dass diese Fähigkeit stark schwankend ist und wesentlich nicht nur von der personellen Ausstattung der Gesundheitsämter, sondern auch davon abhängig ist, ob diese mit Papier, Bleistift und Faxgeräten oder mit der Software Sormas arbeiten. Am Ende haben diese Zahlen keinen größeren wissenschaftlichen Wert als die in Talkshows­ – auch von Wissenschaftlern – gerne vorgebrachte sinnleere Panikformel von den „Zahlen, die durch die Decke schießen“. Und wenn es nicht die Zahlen sind, dann sind es die Särge, die sich „bis an die Decke“ stapeln.

Mit Wissenschaft hat dieses Zahlenabrakadabra wenig zu tun. Aber diese Art von politischer Medienwissenschaft braucht theatralische Effekte: viele Tote, steigende Infektionszahlen, steil nach oben zeigende Kurven und dramatische Wendepunkte. Das ist nicht erst seit der Corona-Krise so. Genial war um die Jahrtausendwende die Erfindung eines „Kipppunktes“ in der Klimaforschung durch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, die sich am Ende zu der völlig unsinnigen Behauptung verdichtete, ab einer Erderwärmung von 1,5o Celsius sei alles zu spät. So einfach ist das aber in der Wissenschaft nicht. Aber für die politische Panikstimulation eignet sich das umso besser. Was in der Klimaforschung die „Erderwärmung“ ist, sind in der Corona-Politik die 7-Tage-Inzidenzen, die mal bei 100, mal bei 50 und mal bei irgendwas als der „Kipppunkt“ angesetzt werden, ab dem drastische Maßnahmen unausweichlich wurden und Wissenschaft übergangslos in Politik umkippte.

 

Die Wissenschaft als Magd der Politik

Die Konstellation spitzte sich am 9. Dezember 2020 zu: Die Kanzlerin drohte in einer dramatischen Rede vor dem Bundestag damit, dass sie bei der Corona-Bekämpfung auf die Empfehlungen „der Wissenschaft“ hören werde, so wie sie im Jahr zuvor beim UN-Klimagipfel ebenfalls erklärt hatte: „Wir folgen der Wissenschaft“. In der Corona-Krise hatte „die Wissenschaft“ sich zufällig am Vortag zu Wort gemeldet. „Die Wissenschaft“ war in diesem Fall die „Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina“, die in ihrer „7. Ad-hoc-Stellungnahme“ ungefragt ihr blindes Einverständnis mit allen Corona-Maßnahmen der Bundesregierung, einschließlich der verfassungsrechtlich bedenklichen und epidemiologisch unwirksamen, erklärt hatte. Die Stellungnahme enthielt so substanzielle Empfehlungen wie: „Wichtig ist insbesondere eine adäquate digitale Ausstattung des Öffentlichen Gesundheits­dienstes“. Hier ist man versucht, die Titelzeile eines Brecht-Gedichtes zu variieren: „1600 Wissenschaftler beten eine Regierung an“.

Aber so ging es weiter: Am 18. Dezember 2020 fordern rund 300 Wissenschaftler „aus ganz Europa“ in einer Erklärung die Regierungen auf, die Corona-Maßnahmen erneut zu verschärfen, und brachten dabei einen fabulösen Inzidenzwert von 7 pro 100 000 Einwohnern ins Spiel. Unterschrieben wurde die Erklärung selbst­verständ­lich auch von den deutschen Corona-Köpfen, die auf heimischen Boden einen Inzidenzwert von 50 bis 100 forderten.

Im Januar 2021 versicherte der Präsident des bundeseigenen Robert Koch-Instituts in einem Interview, er sei froh, eine Wissenschaftlerin als Kanzlerin zu haben, denn sie „hat sicher verstanden, was ein exponentielles Wachstum ist“ ­– in Bayern ist das Lehrstoff der 10. Klasse „Mittelschule“, die früher Hauptschule hieß. Ein solches Kabinettstück unterwürfiger Selbstverachtung vor laufender Kamera bekommt man selten zu sehen ­– 40 Sekunden, die sich lohnen. Sie erklären manches. Jedenfalls ist die Kanzlerin sicher ebenso froh, einen Tierarzt als Leiter des Robert Koch-Instituts zu haben, der die Fäden der Corona-Bekämpfung in der Hand hält. Beiden wird übrigens ihr Wissen um „exponentielles Wachstum“ nicht viel nützen, denn wenn die Corona-Epidemie tatsächlich exponentiell verliefe, wäre Deutschland längst ausgerottet.

Gesellschaftliche Prozesse – und die Entwicklung einer Epidemie gehört dazu – halten sich nicht an mathematische Funktionen. Aber auch das teilen die Epidemiologen mit den Klimaforschern – und übrigens auch mit der „empirischen Bildungsforschung“ –: dass sie auf ihre Computerbildschirme mit ihren eigenen realitätsfernen  „Modellierungen“ starren, statt einmal einen Blick aus dem Fenster zu werfen und die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.

 

Bekennende Wissenschaft

Dass Wissenschaftler ungefragt auf die öffentliche Bühne drängen, um politische Bekenntnisse abzulegen, ist in den letzten Jahren häufiger zu beobachten gewesen. 2017 formierte sich der internationale „March of Science“, der sich vor allem gegen den amerikanischen Präsidenten richtete, aber bald seine Schwungkraft verlor. In Deutschland markiert der Historikertag von 2018 in Münster einen gewissen Höhepunkt  oder Tiefpunkt, je nach Sichtweise. Mit seiner „Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie“ leistete er seinen eigenen Beitrag  zum Tagungsthema „Gespaltene Gesellschaften“. Im Jahr darauf gab die „Deutsche Zoologische Gesellschaft“ auf ihrer 112. Jahrestagung eine „Jenaer Erklärung“ ab, in der sie sich, völlig überraschend, gegen „scheinbar wissenschaftliche Rechtfertigungen für Rassismus“ aussprach. Anlassunabhängig bewährt hat sich in akademischen Festreden und professoralen Fernsehinterviews die  Beschwörung der Dreifaltigkeit des Populismus: Trump, Brexit, AfD. Aber jetzt ist Trump weg, der Brexit da und die AfD auch nicht mehr das, was sie einmal war. Der  Wissenschaft fehlen die zündenden Ideen, wie sie sich weiter an die Politik anbiedern kann. Da kommt Corona gerade recht.

Universitätswissenschaftler sind in Deutschland – und anderswo wird das nicht anders sein – traditionell systemkonform, staatstreu und regierungsfromm.  Das gehört zu ihrer mentalen Grundausstattung und muss nicht durch äußeren Druck erzwungen werden. Umgekehrt aber beharrten die deutschen Professoren ebenso traditionell  auf ihrer Distanz  gegenüber der Politik. Eine große Ausnahme sind die  „Göttinger Sieben“, jene sieben Göttinger Professoren, darunter die Brüder Grimm, die 1837 aus ihren Ämtern entlassen wurden, weil sie sich weigerten, einen Verfassungsbruch des hannoverschen Königs hinzunehmen. Später und bis heute neigen deutsche Wissenschaftler eher zu weniger risikoreichem Heldenmut und sprechen sich lieber für als gegen die Regierung aus. Aber aufs Ganze gesehen haben sich deutsche Hochschulprofessoren sehr zurückgehalten mit öffentlichen politischen Erklärungen. Die größte Manifestationsdichte gab  es im Ersten Weltkrieg mit rund zehn Kollektiverklärungen deutscher Professoren. Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht waren in den beiden deutschen Diktaturen von 1933 bis 1989 professorale Unterwerfungs­erklärungen wenig willkommen. Im „Dritten Reich“ gab es 1933 zwei Aufrufe deutscher Universitätsprofessoren für Adolf Hitler, und auch wenn die DDR den Zirkel als Symbol der wissenschaftlichen Intelligenz in ihrem Staatswappen führte, taten Wissenschaftler gut daran, sich im  Arbeiter- und Bauernstaat mit öffentlichen Erklärungen zugunsten der Regierung zurückzuhalten. Hier wie dort waren sie nicht gefragt.

Die Geschichte der akademischen Unterwerfungskultur  in der Bundesrepublik ist noch nicht geschrieben.  Ein Teil dieser Geschichte, der sich allerdings nicht in Proklamationen niederschlug,  ist die widerstandslose Unterwerfung fast der kompletten deutschen Professorenschaft unter das Bologna-Regime.

 

Unterwerfung

Man weiß nicht recht, was Wissenschaftler antreibt, wenn sie von der schreibenden zur unterschreibenden Zunft mutieren, wenn sie kollektiv Resolutionen verfassen, Erklärungen abgeben, Stellungnahmen veröffentlichen oder ihre Unterschriften darunter setzen. Eine gute Portion Opportunismus im Blick auf den nächsten Drittmittelantrag wird immer dabei sein. Hinzu kommt die Sorge um die eigene Reputation im akademischen Feld, die Angst vor dem Verlust eines Status, der eben nicht mehr nur durch wissenschaftliche Leistungen und deren fachliche Anerkennung, sondern auch durch devote Gesten der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten gesichert werden muss. Es gilt der akademische Imperativ, der schon Adorno irritiert hatte: „Du mußt unterschreiben! Das Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens.“

„Erklärungen“ zum politischen Tagesgeschehen sind die Königsdisziplin akademischer Unterwerfungskultur. Wer sich zu ihren Erstunterzeichnern zählen darf, ist bei Hofe willkommen. Nicht jedem ist das vergönnt, und das akademische Fußvolk muss seine Bereitschaft zur Unterwerfung unter den Zeitgeist auf andere Weise bekunden. Als alltagstauglicher Ausweis der Unterwerfungsbereitschaft hat sich die „geschlechtergerechte Sprache“ – meist in der Form des  „Gendersterns“ – erwiesen.  Auch die  „Gendersprache“  steht in der Tradition  akademischer Unterwerfungsgesten, welche die unterschiedlichste Gestalt annehmen können. Bei den einen waren es Bekenntnisse zum Führer oder wahlweise zu Rassenlehre in akademischen Publikationen, bei den anderen waren es Marx-, Engels-, Lenin- und zeitweise auch Stalinzitate in angemessener Zahl im Text.

Die neue Politisierung der Hochschulen dringt tief in die Poren des akademischen Betriebs ein. In den politischen Stellungnahmen von Wissenschaftlern bekundet sich ein grundlegender Wandel in der Idee der Universität. Die deutschen Hochschulen – von denen es ohnehin viel zu viele gibt – haben sich vom Leitbild autonomer und weltoffener Forschung verabschiedet und sich zur Wagenburg für Agenda­wissenschaften entwickelt. Während man früher glauben konnte, das sei bloß ein Phänomen in den Geistes‑ und Sozial­wissenschaften, wird man inzwischen eines Besseren belehrt. Die politische Klimadiskussion hat verheerende Folgen für die universitäre Forschungsfreiheit auch in den Natur‑ und Ingenieurwissenschaften, und in der Corona-Forschung deutet sich eine ähnliche Entwicklung an.

Damit geht  eine zwei Jahrhunderte alte und in der ganzen westlichen Welt verbreitete Tradition universitärer Wissenschaftsfreiheit zur Neige. Was folgt, weiß man nicht.