Die Currywurst

In seiner 1993 erschienenen Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ beschreibt Uwe Timm die Situation im zerbombten Hamburg am Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Leben der Menschen ist bestimmt von der Sorge um die elementaren Lebensbedürfnisse, von Tauschhandel und Schwarzmarkt. Aus dieser von Zufällen beherrschten Mangelsituation heraus schildert Uwe Timm phantasiereich, wie die Currywurst erfunden worden sein könnte: Durch einen kleinen Unfall beim Stolpern auf einer Treppe, bei der die mühsam von den Briten ertauschten Lebensmittel Curry, Ketchup und hautlose Kalbslebwerst durcheinander gerieten und dank der Tatkraft der zupackenden Lena Brücker zu einem halb exotischen Genussmittel im grauen Hungeralltag der Hamburger wurde.

Uwe Timm hat seine Geschichte erfunden. Von anderer Seite wurde behauptet, dass die Currywurst um 1949 in Berlin entstanden sei. So oder so – im Laufe der Jahrzehnte ist die Currywurst zu einem festen Bestandteil der deutschen Ess-, wenn auch nicht unbedingt der Feinschmeckerkultur geworden, übrigens im Westen wie im Osten.  Vor allem dort, wo gearbeitet wird, in den Werkskantinen und vor den Fabriktoren hat sie sich fest etabliert. In der Currywurst verdichten sich Konsumgewohnheiten, die sich in den folgenden Jahrzehnten in Deutschland etablieren werden: Fleisch- und Wurstkonsum, billiges Essen, Außer-Haus-Essen, Fast Food und ein Hauch von Exotik.

Es konnte nicht ausbleiben, dass auch dieses Nahrungsmittel, das zum Inbegriff proletarischer deutscher Ernährungskultur geworden ist, in einen Kulturkampf hineingezogen wurde. Dass das Volkswagenwerk 2021 in einer seiner Werkskantinen die Currywurst abschaffen und durch vegetarische Gerichte ersetzen wollte, erregte bundesweite Aufmerksamkeit.

 

Verbieten statt genießen

Der Symbolgehalt der Currywurst bewährte sich erneut, als im Mai 2023 Überlegungen der „Deutschen Gesellschaft für Ernährung“ in die Öffentlichkeit kamen. Sie wollte den deutschen Erwachsenen empfehlen,  täglich nur zehn Gramm Fleischwaren zu essen. Damit wäre, so wurde schnell ausgerechnet, das monatliche Fleischkontingent mit einer  Currywurst abgedeckt. Die DGE ist eine wissenschaftliche Einrichtung, welche zu drei Vierteln aus  öffentlichen Mitteln von Bund und Ländern gefördert. Es bestand also Anlass, hellhörig zu werden.

Die Resonanz auf diese noch gar nicht offiziell ausgesprochene „Empfehlung“ war jedenfalls so groß, dass sie zügig wieder in der Versenkung verschwand. In einer denkwürdigen Fernsehdiskussion versicherte der zuständige Ernährungsminister am 6. Juni 2023, dass er gar nicht daran denke, den Bürgern in die Küche und den Kühlschrank hineinzuregieren. Das Papier sei nur ein Papier, von unabhängigen Wissenschaftlern entworfen, habe nichts mit ihm selbst zu tun. Der Minister wird sich noch des PR-Desasters erinnern, das seine Partei 2010 mit dem Beschluss ausgelöst hat, einen verbindlichen „Veggie-Day“ – einen modernisierten Nachfolger des 1933 in Deutschland zur Stärkung der Volksgemeinschaft eingeführten „Eintopfsonntags“ – in öffentlichen Kantinen einführen zu wollen.

Nun ist der Bundesernährungsminister eines der wenigen Mitglieder im aktuellen Kabinett, das eine berufliche Vorqualifikation für sein Ministeramt bringt. Vor seiner politischen Karriere war er Erzieher, und das ist er geblieben. Bevormunden will er den Bürger nicht, seine Aufgabe sehe er vielmehr darin, die Bürger „zu ermächtigen“, selbst ihre Ernährungsentscheidungen zu treffen. Ob es dazu eines Ermächtigungs­gesetzes bedürfe, ließ er offen, erklärte aber – er muss auch an seine Stammwähler denken –, seine Einflussmöglichkeiten in öffentlichen Einrichtungen zu nutzen: In Kantinen und Mensen. in Kitas, Schulen, Betrieb‑ und Behördenkantinen soll der Anteil saisonal-regionaler Lebensmittel erhöht und eine „pflanzenbasierte Ernährungsweise“ gestärkt werden.

Dass die Regierung mit den Ernährungsgewohnheiten der Deutschen ebenso wenig zufrieden ist wie mit ihrem Mobilitätsverhalten, ihrem Heizungsverhalten, ihrem Gesundheitsverhalten und ihrem Wahlverhalten, ist ein offenes Geheimnis. Die Ernährungslenkung erscheint der Regierung auch deshalb attraktiv, weil sie die Richtigen trifft. Denn sie lässt sich auch mühelos mit dem „Kampf gegen rechts“ koppeln. Längst haben internationale Studien nachgewiesen, dass jeder, der Fleischkonsum befürwortet, zumindest über eine autoritäre Persönlichkeitsstruktur verfüge, zur „Dominanzorientierung“ und zum „rechtsgerichteten Autoritarismus“ neige. Dazu passt, dass in den neuen Bundesländern und in Bayern der Fleischkonsum seit je und bis heute höher ist als im Westen und im Norden. Wohin das führt, sieht man an den Wahlergebnissen. Dazu passt allerdings weniger, dass der Führer des „Dritten Reichs“ Vegetarier war und sein oberster Handlanger beim Massenmord, ein diplomierter Landwirt,  setzte seine persönliche Vorliebe für die biologisch-dynamische Düngung im „Kräutergarten“ des KZ Dachau um.

 

Essen als Kulturgut

Die Regierung sorgt sich also um die Ernährung. Das ist gut und richtig. Die Bürger sollten darauf vertrauen können, dass genügend Nahrungsmittel bereit stehen und dass die Lebensmittelsicherheit garantiert ist. Beides ist in Westdeutschland seit siebzig Jahren der Fall. Die Lebensmittelsicherheit wird durch ein dichtes und funktionierendes Netz von Kontrollinstitutionen und ‑verfahren gewährleistet. Für die Nahrungsproduktion sorgen im Wesentlichen die Landwirte. Ziemlich genau 50 Prozent der Gesamtfläche der Bundesrepublik werden landwirtschaftlich genutzt. Nur noch ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig, während zugleich die Produktivität enorm gestiegen ist: 1990 ernährte ein Landwirt 69 Menschen, 2020 waren es 139. Der Selbstversorgungsgrad mit Nahrungsmitteln liegt in Deutschland bei 87 Prozent, am höchsten ist er bei Kartoffeln, Fleisch, Zucker Milch und Getreide mit  110 bis 130 Prozent, in anderen Sektoren, bei Obst und Gemüse, hingegen nur bei 30 Prozent; hier sind also Importe nötig.

Eigentlich sieht also alles ganz gut aus. Nun ist „Ernährung“ das eine, „Essen“ das andere. „Ernährung“ ist eine biologische Notwendigkeit, „Essen“ ist eine Kulturform, in die eingeübt zu werden wiederum ein zentraler Bestandteil des Zivilisations­prozesses ist. In der denkwürdigen Fernsehdiskussion verwies der Bundesernährungsminister auch auf diesen Zusammenhang. Offenkundig war er überreizt wegen der Berichterstattung in kritischen Medien, deren Journalisten er in einem Zustand sehenswerter Erregung (ab Minute 62) die Fähigkeit absprach,  mit Messer und Gabel essen zu können.  In der Tat hat der Gebrauch von Messern etwas mit Zivilisation zu tun. Das weiß auch die Kabinettskollegin aus dem Innenministerium. Sie will den Besitz von Messern im öffentlichen Raum verbieten, offen ist noch, ob davon auch Restaurants betroffen sein sollen.  Nun ist der Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen, dem Messer als Tatwaffe und dem Messer als Ausdruck zivilisatorisch gereifter Esskultur, gar nicht so weit hergeholt. Der aus Deutschland vertriebene Kulturhistoriker Norbert Elias veröffentlichte 1939 in der Schweiz sein epochales Buch über den „Prozess der Zivilisation“, das erst in den 1970er Jahren zu seinem verdienten Nachruhm kam. Elias beschreibt, wie mühsam über Jahrhunderte hinweg der gesamte Affekthaushalt des einzelnen diszipliniert und umgeformt werden musste, um das Messer von der Waffe zum „Eßinstrument“ umzuwidmen.  Elias ist 1990 gestorben. Es blieb ihm erspart, ein Folgewerk über den Prozess der Entzivilisierung in Deutschland zu schreiben, der spätestens ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod einsetzte.

 

Essen und Moral: Der Kampf um den Fleischkonsum

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, hieß der kanonische Leitsatz in Brechts „Dreigroschenoper“. Das war vor hundert Jahren. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt. Das Essen folgt moralischen Prinzipien. Der moralische Überschuss der modernen Esskultur verdichtet sich im Kampf um den Fleischkonsum. In der besagten Fernsehsendung sprach der Ernährungsminister unter lebhaftem Beifall des Moderators davon, dass der Fleischkonsum in Deutschland in einem „Affentempo“ zurückgehe. Was immer er damit meint – es stimmt nicht. Der jährliche Fleischkonsum der Deutschen liegt seit Jahrzehnten bei rund 60 Kilogramm pro Kopf; der leichte Rückgang um 5 Prozent lässt sich der Corona-Politik mit ihren gastronomischen Einschränkungen zuschreiben.

Dass vegane und die – eigentlich längst schon verstaubten und unschick gewordenen – vegetarischen Ernährungsformen einen beträchtlichen Teil des öffentlichen Ernährungsdiskurses dominieren, ist unübersehbar. Aber ihre Diskursdominanz steht in keinem Verhältnis zu ihrer realen Bedeutung: Der BMEL-Ernährungsreport 2022 nennt 7 Prozent der deutschen Bevölkerung, die, folgt man ihrer Selbstauskunft, sich vegetarisch ernähren; als Veganer bezeichnet sich 1 Prozent.

Nun ist der Veganismus nicht mehr nur eine Nahrungsweise, sondern, ganz wie die Gendersprache und eng verbunden mit ihr, eine Lebensform, die moralische Qualitäten für sich in Anspruch nimmt. Von außen betrachtet erscheint sie hingegen narzisstisches Selbstwirksamkeitskonzept. Realisierbar ist es nur in einer Gesellschaft, die ihres eigenen Überflusses überdrüssig geworden ist.

Aber die Veganer haben schon recht: Selbstverständlich muss es nicht immer Fleisch sein. Auch Insekten sind, so versichert zumindest die EU, nährreich und wohlschmeckend. Aktuell sind seit  Anfang 2023 vier Insekten als Lebensmittel zugelassen: der Mehlkäfer (Tenebrio molitor), die Wanderheuschrecke (Locusta migratoria), die Hausgrille (Acheta domesticus) und der Getreideschimmelkäfer (Alphitobius diaperinus). Im März 2023 durfte eine erstaunte Öffentlichkeit erfahren, dass auch den „Schoko-Bons“ und anderen Süßigkeiten Insekten beigemischt werden, damit auch die Jüngsten frühzeitig auf den Geschmack kommen.

Nun hat es seinen guten Grund, dass Menschen allen Bedenken zum Trotz  lieber Fleisch essen als Insekten. Die Haltung und Zucht von Nutztieren ist eine der großen Kulturleistungen der Menschheit. Die Entwicklung des Menschen als homo sapiens und die Entwicklung der Menschheit hängen eng mit dem Fleischkonsum zusammen. Der Mensch ist auch nur ein Säugetier und braucht nun einmal Makronährstoffe, zu denen neben Kohlenhydraten Fett und Proteine gehören. In der neolithischen Revolution wurde der Zugang zu Fleisch durch die Weidetierhaltung gesichert, die von den Zufällen der Jagd unabhängig machte. Das war eine wesentliche Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Menschheit, die auch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Vergrößerung des Hirnvolumens steht. Es besteht also Anlass zu der Vermutung, dass der Verzicht auf Fleisch auch mit einem Rückgang der Gehirnkapazität einhergehen wird; erste Anzeichen dafür gibt es bereits.

Fleischkonsum und Wohlstand hängen jedenfalls epochen- und kulturübergreifend zusammen. Aber diese Kopplung hat ihren Preis gehabt, und der ist nicht gering. Die industrielle Fleischproduktion wurde um 1900 in den Schlachthöfen von Chicago entwickelt. Ihre logische Konsequenz war die Massentierhaltung, die aus dem Tier eine Industrieware machte, und dieser Schritt bedeutete sicherlich einen moralischen Tiefpunkt in der Entwicklung der modernen Gesellschaften. In seiner fulminanten Umweltgeschichte „Im Strudel“ sieht hiermit Frank Uekötter eine Schwelle überschritten, hinter die es wohl kein Zurück mehr gibt. Die empörenden Exzesse der Massentierhaltung oder des Kükenschredderns waren früheren Zeiten unbekannt, aber schon Kant ächtete das Quälen von Tieren, weil sich hier eine Rohheit zeige, die zur Verrohung des Menschen führe.Der Gesetzgeber ist bemüht, tut sich aber schwer, sich gegen die Eigendynamik der Marktwirtschaft durchzusetzen.

Eine Politik und eine mediale Öffentlichkeit allerdings, welche die Massentierhaltung und das industrielle Kükenschreddern moralisch ächtet und gesetzlich verbieten will, ist wenig glaubhaft. Denn auf der anderen Seite forciert sie das Vogelschreddern durch industrielle Windkraftanlagen, die Verwüstung von Acker- und Weideland­schaften durch Photovoltaikanlagen und Maismonokulturen für Biokraftstoff.  Es ist absehbar, dass die übernächste Generation, die nicht die letzte sein wird, mit dem gleichen ungläubigen Staunen die Windkraftindustrie betrachten wird, mit dem sie heute die Fleischindustrie ächtet.

 

„Ernährung“ – eine  Stellschraube im Klimastaat

In der besagten Fernsehdiskussion hat der Bundesernährungsminister  jede Mittäterschaft an den Empfehlungen der DGE weit von sich gewiesen. Glaubhaft ist das nicht. Kurz vor Weihnachten 2022 veröffentlichte sein Ministerium ein „Eckpunktepapier“ zur „Ernährungsstrategie“ der Bundesregierung. Hier heißt es: „Die Transformation des gesamten Ernährungssystems hin zu einer pflanzenbetonten Ernährungsweise ist die wichtigste Stellschraube im Ernährungsbereich, um unsere nationalen und internationalen Klima-, Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.“ Die Tonlage klingt vertraut. Wer weiß, dass es nicht nur eine inzwischen notorisch bekannte „Agora Energiewende“, sondern auch eine „Agora Agrar“ gibt, kann sich leicht vorstellen, wie es weitergeht: Ihr Ziel sei, so formuliert diese „Agora Agrar“ ihre Aufgabe im Schulterschluss mit dem Ministerium, eine „Transformation zu einer nachhaltigen Ernährung, Land- und Forstwirtschaft“. Die Landwirtschaft ist einer der wenigen Wirtschaftssektoren, in dem Deutschland sich noch weitgehend selbst versorgen kann und nicht auf brüchige Lieferketten angewiesen ist. Volkswirtschaftlich gesehen ist es also keine gute Idee, die Ernährung der Deutschen umzustellen von dem, was man selbst hat, auf das, was man importieren muss.

Aber das Thema „Ernährung“ ist in ein verwirrendes Diskursgeflecht eingebettet. Hier spielen biologische und physiologische, ökonomische und politische, moralische und philosophische Erwägungen eine Rolle. Vor allem geht es jedoch um Interessen: die der Verbraucher, der Produzenten, der Zwischenhändler, der Düngemittel- und Saatguthersteller, die längst, nicht anders als die Pharmaindustrie,  einen globalen Markt bilden. Die Zeichen an der Wand sind sichtbar. Es ist abzusehen, dass die bisher gut funktionierende, wenn auch beileibe nicht problemlose,  und weitgehend autarke Lebensversorgung in Deutschland, nicht anders als die Gesundheit, zum Spielball globaler Interessen. Die natürlichen, auf Nutztierhaltung, Acker-, Obst- und Gemüseanbau beruhenden Ernährungs­gewohnheiten werden ersetzt durch Kunstprodukte aus Soja, Insekten oder genetisch veränderten Organismen, die von globalen Oligopolen auf den Markt gebracht werden. Ein Beitrag zur Esskultur ist das nicht.