Ferien im Bundestag

Am 7. Juli 2023 gab es im Deutschen Bundestag ein denkwürdiges Ereignis. Ein Abgeordneter der größten Regierungsfraktion stürmte auf einen Abgeordneten der größten Oppositionsfraktion zu und bedachte ihn mit Worten, welche die Stenographen des Bundestags zu notieren sich weigerten. Sie erscheinen also nicht im Protokoll. Die Bundestagspräsidentin, eine Parteigenossin des Abgeordneten, hatte sie hingegen gehört und bedachte den Delinquenten spontan mit einer Ordnungsstrafe von 1000 Euro.

Der Abgeordnete war offenbar schon in Ferienstimmung. Darauf wies jedenfalls seine Freizeitkleidung hin, mit der er an dieser Bundestagssitzung teilnahm. Das war vormittags gegen 11 Uhr. Fünf Stunden später demonstrierte er, dass alles wieder gut ist: Er postete ein Bild, das ihn gut gelaunt gemeinsam mit dem zuvor attackierten Kollegen zeigte. Wenn es sich um eine Bierzeltrauferei gehandelt hätte, würde man sagen: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“, aber das würde der Würde des Hohen Hauses nicht gerecht.

Das Bild wurde auf dem Berliner Flughafen aufgenommen; beide Abgeordnete machten sich offensichtlich gerade auf den Heimweg, es war Freitag und ohnehin der letzte Sitzungstag vor der Sommerpause. Zur gleichen Zeit tagte der Bundestag und versuchte, in fliegender Eile noch das „Energieeffizienzgesetz“ (EnEfG) vor der Sommerpause zu verabschieden, das enorme Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland haben wird. Die Abstimmung musste verschoben werden, ohne dass diesmal das Bundes­verfassungsgericht eingreifen musste: Es waren schlicht zu wenig Abgeordnete da, nämlich nur 241 statt 736, sodass das Parlament beschlussunfähig war.

Zu denen, die nicht dabei waren, gehörte der Abgeordnete mit den schlechten Manieren. Vor seiner Wahl in den Bundestag 2017 war er Gymnasiallehrer im oberbayerischen Fürstenfeldbruck. Es ist schwer zu entscheiden wo der Mann weniger Unheil anrichten kann: Im Parlamentssaal oder im Klassenzimmer. Er unterrichtete Deutsch, Geschichte und Sozialkunde. Er sollte also wissen, wie man sich ausdrückt, wohin eine Missachtung parlamentarischer Sitten führen kann und welchen Sinn Abstimmungen in einem Parlament haben.

Das alles weiß er aber offensichtlich nicht. Aber er weiß, wozu Ferien gut sind. Und hier kann er den Schülern ein Vorbild sein. Denn auch die verzichten gerne einmal auf die Anwesenheit im Unterricht. Eine besondere Konfliktzone stellen die letzten Schultage dar. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass reisefreudige Eltern für einen billigen Urlaubsflug oder eine günstige Reise in ihr Heimatland die letzten Schultage ausfallen lassen, da mit Ferienbeginn die Flugpreise sprunghaft, um bis zu 60 Prozent, ansteigen. Bei schulpflichtigen Kindern stellt das Fehlen eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit Bußgeldern geahndet werden kann – sofern die betreffende Schule oder die Polizei das Thema konsequent angeht, was allerdings nur ausnahmsweise der Fall ist. In Hamburg werden pro Fehltag und Kind 80 Euro berechnet; wenn man im Gegenzug für einen Flug nach Bangkok rund 500 Euro einspart, kann Schulschwänzen also ein durchaus lohnendes Geschäft sein. Irgendein Unrechtbewusstsein ist ohnehin nicht mehr vorhanden. Die Schulschwänzer von „Fridays for Future“ haben hier neue Maßstäbe gesetzt. Jedenfalls erklärt die Vorsitzende des Bundeselternrats ganz unverblümt, dass man es Eltern nicht zumuten könne, höhere Flugpreise zu zahlen, nur weil die Kinder in die Schule müssen, wo sie ohnehin nichts lernen würden. In Nordrhein-Westfalen werden die Schulleitungen ganz offiziell aufgefordert, die Attestforderung eher locker zu handhaben, denn Reisende soll man nicht aufhalten.

 

Reisen bildet

„Kennst Du das Land, in dem die Zitronen blühn?“, dichtete Johann Wolfgang von Goethe in den 1780er Jahren. Er wollte damit ausdrücken, dass es in Italien wärmer ist als in Deutschland, so warm jedenfalls, dass dort Südfrüchte reifen. Einige Jahre später, 1786, reiste er selbst nach Italien und blieb dort eineinhalb Jahre. Goethe war zu der Zeit Minister des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. Eigentlich war er nur zu einer Erholungskur nach Karlsbad aufgebrochen; dass er eineinhalb Jahre in Italien zu verbringen gedachte, hatte er seinem Herzog und Dienstvorgesetzten vorsichtshalber nicht mitgeteilt. Der säumige Bundestagsabgeordnete und Deutschlehrer könnte sich also auf ein großes Vorbild berufen. Immerhin ist aus Goethes Reise eines der wichtigsten Bücher der deutschen Klassik hervorgegangen, die „Italienische Reise“, die in der Folgezeit ganze Generationen von deutschen Bildungsreisenden prägte und wesentlich zur Blüte des Italientourismus beitrug. Bis heute ist Italien, im engen Schulterschluss mit Österreich, das beliebteste Auslandsziel deutscher Urlauber.

Goethes Ministerkollege, der sich 237 Jahre später auf den Weg nach Italien machte, hat weiterreichende Ambitionen als nur ein Buch zu schreiben. Der deutsche Bundesgesundheitsminister stellte zu seiner Verwunderung fest, dass es in Italien im Juli immer noch ziemlich warm ist. Per Kurznachrichtendienst empfahl er seinen deutschen Landsleuten, von jahrhundertealten Gewohnheiten Abstand zu nehmen und nicht mehr nach Italien zu reisen. Außerdem versprach er, qua Amt die Zahl der Hitzetoten zu halbieren. Als erste Abhilfe empfahl er die Nutzung italienischer Kirchen als „Kälteräume“. Dass er dabei die „Basilica di San Francesco“ in Siena mit der Basilika „San Domenico“ verwechselte, worauf deren Hausherr, der Superiore der Dominikaner in Siena, hinwies, hat ihn nicht weiter bekümmert und seine Follower nicht überrascht. So genau nimmt es der Gesundheitsminister auch sonst nicht.

Reisen bildet, und manchmal ist es ja auch so. Aber Bildung setzt die Bereitschaft voraus, sich bilden zu wollen. Man kann jedoch auch reisen, ohne sich bilden zu wollen. Das nennt man dann „Tourismus“. Der Tourismus ist weltweit einer der wichtigsten und, nach dem Corona-Knick, weiterhin unaufhaltsam expandierenden Wirtschaftszweige. Hans Magnus Enzensberger ist vor Jahrzehnten in seiner „Theorie des Tourismus“ dem Geheimnis dieses Erfolges auf die Spur gekommen: Der Massentourismus ist ein Kind der entstehenden Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts. Sein treibender Impuls ist ein Fluchtreflex – der Tourist flieht für eine genau umgrenzte Zeit aus der Zivilisation mit ihrem durchgetakteten Lebensalltag. Er sucht die Freiheit und das Glück des „ganz anderen“, aber er bekommt genau das, was er hinter sich lässt – eine durchgeplante und normierte Urlaubswelt, und das weiß er auch und das will er auch. Dem romantischen Versprechen der Freiheit steht die industrialisierte Erfüllung der Pauschalreise gegenüber.

Für die Deutschen ist die Urlaubsreise schon ganz in die Nähe eines verbürgten Grundrechts gerückt, auch wenn sie den inoffiziellen Titel des „Reiseweltmeisters“, inzwischen an die Chinesen haben abtreten müssen. Aber Mitte Juli 2023 ging eine Alarmmeldung durch die Presse: Knapp 22 Prozent der Deutschen – männlich wie weiblich –­ können sich keinen Urlaub leisten. Das hängt, so wurde erläutert „oft mit Armut zusammen“. Dass die Deutschen einen gesetzlichen Anspruch auf mindestens 24 Tage bezahlten Urlaub haben, ist seit 1963 nach dem „Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer“ geregelt. Dass sie aber auch ein Recht auf eine möglichst billige Urlaubsreise haben sollen, ist eine neuere Idee – so ganz neu aber auch wieder nicht, denn darauf war man schon im „Dritten Reich“ gekommen. Die Organisation „Kraft durch Freude“ versprach den Deutschen billige Urlaubsreisen im eigenen Land, und in Prora auf Rügen entstand ein Ruine gebliebener Koloss, der als „Seebad für 20 000 Volksgenossen“ hätte dienen sollen.

In den 1960er Jahren forderte der Deutsche Gewerkschaftsbund unter der Parole „Urlaubsgeld erschließt die Welt“ die Zahlung von zehn Mark pro Urlaubstag, eine Forderung, die der Bundeskanzler Ludwig Erhard als „sozialen Humbug“ zurückwies. Einem heutigen Bundeskanzler würde eine solche Äußerung schlecht bekommen. Tatsächlich wurde von einer politischen Partei, diesmal waren es die anderen Sozialisten,  schon „Urlaub für alle gefordert“.

 

Ferien im Schwimmbad

In früherer Zeit bildete Reisen vor allem deshalb, weil es Gelegenheit bot, fremde Kulturen kennenzulernen. Heute hat sich das umgekehrt: Wer in die Fremde reist, findet das vor, was er schon kennt; und fremde Kulturen kann man auch zu Hause haben. Oft muss man nur einen Schritt vor die Haustüre machen.

Wer nicht verreisen kann, kein Geld, keine Lust hat, wem Reisen zu anstrengend ist, der bleibt zu Hause. Zu den klassischen Freizeitbeschäftigungen gehört der Besuch von öffentlichen Schwimmbädern. Sie gehörten in den 1960 und 1970er Jahren einmal zu den Insignien der Wohlstandsgesellschaft. Der Bau und der Unterhalt von Freibädern ist teuer. Deshalb entwickelte sich die Freibadkultur um 1900 an Flüssen und am Meeresstrand, wo die natürlichen Gegebenheiten durch eine Infrastruktur von Sichtschutzzäunen, Umkleidekabinen und Kassenhäuschen verfeinert wurden.

Schwimmbäder waren und sind eine eigentümliche Zwischenzone zwischen familiärer Intimsphäre und öffentlichem Raum. Zunächst einmal sind öffentliche Schwimmbäder soziale Erben der Bäderkultur, die mit Prachtbädern wie Bad Pyrmont, Karlsbad, Marienbad ihre Anfänge im 18. Jahrhundert und ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert hatte. Die Bäder waren exterritoriales Gebiet, in der sich alle sozialen Stände – soweit sie es sich leisten konnten – begegnen konnten. Goethes Vorliebe für Karlsbad rührt auch daher, dass er, der frisch geadelte Emporkömmling aus einem unbedeutenden Kleinherzogtum, hier mit den Größen der deutschen Gesellschaft von gleich zu gleich verkehren konnte.

Aber die Sache war damals komplizierter und ist es heute auch noch. Sich in einem solchen Raum angemessen verhalten zu können, setzt ein hohes Maß an vorgängiger und erfolgreicher Sozialisation voraus. Man muss wissen, was sich gehört, ohne dass es einem gesagt wird. Es war nie ganz einfach, beim Baden die richtigen Verhaltensformen zu finden, und heute ist es schwerer denn je. Denn öffentliche Badeanstalten sind in besonderer Weise kultursensibel. Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade über Fragen der Badebekleidung – oder Nicht-Bekleidung – heute  wieder gezielt Kulturkämpfe angefacht werden. Die Freibäder und erst recht die nicht kontrollierten Badeseen sind empfindliche Orte, die besonders anfällig sind für kulturelle Umcodierungen.

Dass diese Kämpfe mehr sein können als der Streit um ein Stück Stoff, haben die Meldungen aus dem Columbia-Bad in Berlin-Neukölln im Juli 2023 gezeigt. Hier ist es zu Ereignissen gekommen, die seit längerem schon medial und politisch unter der kreativen Vokabel „Eventkultur“ verbucht und je nach Phantasie der Berichterstatter auf den Klimawandel, jugendlichen Übermut, Dichtestress, Stigmatisierung zurückgeführt werden, nur nicht auf das, was sie sind. Nicht überall geht es zu wie im Columbia-Bad von Neukölln. Aber von den 6000 öffentlichen Schwimmbädern hat inzwischen die Hälfte Personalprobleme, weil sich niemand gern beruflich mit Beschimpfungen, Randalierern, Schlägereien, Vandalismus, fäkalischen Verunreinigungen und sexuellen Übergriffen befasst. In den Berliner Freibädern wurden jetzt Ausweiskontrollen eingeführt. Anders seien Sicherheit und Ordnung, die durch das Verhalten jugendlicher Gruppen gefährdet würden, über deren ethnische Herkunft man keine Auskunft geben mag, nicht mehr zu gewährleisten.

Dass es so kommen würde, hätte sich jeder Beobachter denken können, und dass es schon so gekommen ist, weiß jeder, dessen Gedächtnis weiter als vier Jahre zurückreicht: Bereits im Juli 2019 war die Eventkultur in Düsseldorfer Freibädern schon so weit fortgeschritten, dass die Düsseldorfer ihren Ausweis zwar nicht beim Überqueren der Grenze zu den Niederlanden, wohl aber beim Betreten eines Freibades vorzeigen mussten.

Aber wer immer nur auf die Exzesse starrt, dem entgeht die Normalität. Die Eventkultur nimmt mehr und mehr  den Charakter einer territorialen Besitznahme an. Schwimmbäder und Badeseen werden zu feindlichen Orten für die autochthone Bevölkerung; und die lässt sich ungern in schlagzeilenträchtige Schlägereien verwickeln, sondern bleibt einfach zu Hause.

 

Reisen in den Klimawandel?

Für viele Deutsche ist der Besuch von Schwimmbädern und Badeseen im heißen Sommer deshalb keine Option mehr. Aber auch mit dem Reisen ist es so eine Sache. Denn dem stehen nicht nur klimamoralische Bedenken und finanzielle Hürden, sondern auch handfeste Widerstände entgegen. Ob der plenarsaalflüchtige Abgeordnete noch rechtzeitig in seine oberbayerische Heimat gekommen ist, weiß man nicht. Allzu weit hatte er es nicht. Er musste nur die 75 Minuten von Berlin nach München fliegen. Für diesen Zweck die Deutsche Bahn zu benutzen, mit der er möglicherweise schneller zu Hause in Fürstenfeldbruck gewesen wäre, erschien ihm offensichtlich nicht zumutbar, obwohl ihm der deutsche Steuerzahler eine BahnCard 100 Erster Klasse kostenlos zur Verfügung stellt. Dass die Flugreise des Abgeordneten im Widerspruch zur Klima-, Energie- und Verkehrspolitik seiner Partei steht, ist auch dem oberflächlichen Betrachter klar. Aber hier muss man trennen: Wenn er über Klimagesetze abstimmt, handelt er als Politiker, beim Reisen ist er Privatmann.

Der Abgeordnete hat seine Reise sicher ungestört durchführen können. Denn nicht nur er, sondern auch die Klimakleber, die seinen Abflug per Straßen- oder Flughafenblockade hätten verhindern können, machen Urlaub bis zum 5. August. Bekanntlich stehen etliche der Klimakleber in einem vertraglichen Arbeitsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber „Letzte Generation“, der wiederum vom US-Klimaprotestkonzern „Climate Emergency Fund“ großzügig alimentiert wird. Auch die Urlaubsansprüche werden entsprechend den gesetzlichen Vorschriften ordnungsgemäß geregelt sein. Jedenfalls kündigten Kleber für die Ferienzeit eine Erholungspause an, die sie wahrscheinlich, wie einige ihrer Kollegen zuvor auch schon, für Flugreisen nach Bali oder Mexiko nutzen werden.

So oder so: Die Ferien haben ihre Unschuld verloren, und die Urlaubsreise erst recht. Am besten folgt man dem Rat von Goethes Zeitgenossen, dem Romancier Jean Paul: „Die nötigste Predigt, die man unserem Jahrhundert halten kann, ist die, zu Hause bleiben.“

 

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Am 25. Juni 2023  wurde im „Kontrafunk“-Internetradio in der Reihe „Audimax – das Kontrafunkkolleg“ der Hörfunkvortrag

Genderstern und Glottisschlag
Die deutsche Sprache als politische Kampfzone

von Peter J. Brenner gesendet.

Die Sendung ist im Podcast hier gebührenfrei verfügbar.

Der Streit um die Gendersprache reicht in die Tiefenschichten des gesellschaftlichen Zusammenlebens hinein. Die Kolonisierung der Alltagssprache durch genderpolitische Vorgaben provoziert einen Kulturkampf, in dem die Sprachwissenschaft, vor allem die Genderlinguistik, immer neue und manchmal auch sehr fundierte Beiträge liefert. Deren Bedeutung wird aber weit überschätzt. Denn bei diesen Auseinandersetzungen geht es um kulturelle Hegemonie und politische Macht. Die Sprache ist zu einer Kampfzone geworden, in der es um kulturelle Selbstbehauptung geht.