Die Beamten: Ein altes Thema

Kurt Tucholsky war ein Satiriker, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Virtuos beherrschte er alle Register der deutschen Sprache, mit scharfem Blick erkannte und benannte er die Missstände in der Gesellschaft seiner Zeit. Das meiste nahm er mit Humor, aber wenn es um die Beamten ging, verlor er die Contenance. 1928 erschien seine dreiteilige Generalabrechnung mit dieser Berufsgruppe unter dem Titel „Die Beamtenpest“. Das deutsche Beamtentum, gemeint war das preußische, erschien ihm als „Kernpunkt allen Übels“. Als deren erstes benannte er den deutschen Untertanengeist. Verdichtet hat er diese Polemik zwei Jahre später in seinem Aphorismus: „Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehn. Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen.“

Das war vor knapp hundert Jahren. Im Deutschland der 2020er Jahre hat sich manches geändert. Heute wäre man in manchen Regionen Deutschlands froh, wenn man überhaupt die Gelegenheit, also einen Termin, bekäme, um vor einem Schalter zu stehen. Speziell in der ehemaligen Reichs- und heutigen Bundeshauptstadt hat der Staat seine Dienstleistungsaufgaben weitgehend eingestellt oder so verknappt, dass sie kaum noch wahrnehmbar sind. Die Ausstellung eines Personalausweises oder die Bearbeitung eines Bauantrages erscheint als eine Art Gnadenerweis, den man dem Bürger zukommen lässt oder eben auch nicht.

 

Staatsverdrossenheit und Staatsvertrauen

Im Juni 2023 hat der Deutsche Beamtenbund dbb wieder seine alljährliche „Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst“, durchgeführt. Gefragt wird nach der Zufriedenheit der Bevölkerung Deutschlands mit ihrem Staat. Die Ergebnisse sind durchwachsen, aber im Detail höchst aufschlussreich. Die übergeordnete Frage der Untersuchung lautete, ob die Befragten der Ansicht seien, dass der Staat seinen Aufgaben noch gerecht werde. Nur ein gutes Viertel bejahte diese Frage. Man mag es als ein Zeichen fortgeschrittener Einsichtsfähigkeit der Deutschen sehen, dass sie gemäß der dbb-Umfrage inzwischen als erstes Staatsversagen den Umgang mit der Flüchtlingskrise nennen. Die höchsten Zustimmungswerte hatte staatliches Handeln im Übrigen vor gerade einmal drei Jahren. 2020 waren mehr als doppelt so viele der Befragten als heute, nämlich 56 Prozent, der Ansicht, dass der Staat seine Aufgaben gut erfülle. Das war mitten in der Corona-Krise. Offensichtlich wird es dem Staat als eine besonders gelungene Leistung angerechnet, seine Bürger eingesperrt, zum Maskentragen gezwungen, zum Impfen genötigt und Abermilliarden Euro in Masken und Impfstoffe investiert zu haben, die jetzt für Abermillionen Euro ungenutzt entsorgt werden müssen.

Um einiges interessanter aber als die Bewertung staatlicher Leistungen sind die Erwartungen, welche die Bürger an ihren Staat haben. An erster Stelle steht die „Aufrechterhaltung der sozialen Gerechtigkeit“ in der Gesellschaft, die 63 Prozent für „sehr wichtig“ halten. 47 Prozent halten die Verbesserung der Infra- und Verkehrsstruktur für „sehr wichtig“, mit 46 Prozent gleich gefolgt von Investitionen für den Klimaschutz und den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das ist eine kunterbunte Wunschliste, welche die Bürger da dem Staat vorgelegt haben, und unverkennbar spiegeln sich darin die Prioritäten, welche die Politik in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten selbst gesetzt hat. Seit einigen Jahren machen die Ausgaben für „Soziales“ genau die Hälfte des Bundeshaushaltes aus, und es wurden immer neue gesetzliche Regelungen gefunden, die dem Staat im Dienste der sozialen Gerechtigkeit unentwegt neue Lasten aufbürden.

In der von der aktuellen Regierungskoalition beschlossenen „Kindergrundsicherung“ nimmt das neue Selbstverständnis des Staates Formen an. Die zuständige Familienministerin hat es auf eine einfache Formel gebracht: Aus der „Holschuld“ der Anspruchs­be­rechtigten wird eine „Bringschuld“ des Staates. Der anspruchs­berechtige Bürger muss seine Ansprüche auf Transferleistungen nicht mehr gegenüber dem Staat geltend machen, sondern der Staat trägt ihm das Geld hinterher.

Die Bürokratie bekommt auf diese Weise immer neue Aufgaben auf den Tisch und muss die alten liegen lassen: Die überlastete Justiz entlässt Straftatverdächtige aus der Untersuchungshaft und stellt Verfahren ein; die Zuständigkeit für die innere Sicherheit wird den Bürgern mit der Empfehlung übertragen, eine Armlänge Abstand zu halten oder gleich zu Hause zu bleiben, und dem Lehrermangel wird in Sachsen durch die Aufforderung begegnet, die Schüler möchten sich doch per Video selbst unterrichten. Zugleich werden die klassischen Aufgaben des Staates zurückgedrängt zugunsten regierungspolitischer Wunschvorstellungen – von der Kindergrund­sicherung über das „Lieferkettensorgfalts­pflichtengesetz“ bis hin zum Schutz der Bürger vor heißem Wetter. Der Staat hat sich mehr und mehr von seiner klassischen Aufgabe der Daseinsvorsorge verabschiedet: der Bereitstellung von Infrastrukturen, Dienstleistungen und Gütern, die für das Leben in der Gesellschaft notwendig sind.

 

Die Beamten

Ob und in welchem Umfang der Staat diesen Aufgaben gerecht werden kann, hängt davon ab, ob und in welchen Umfang er überhaupt noch Menschen findet, die für den Staatsdienst geeignet sind. Beamte haben eine Sonderstellung auf dem Arbeitsmarkt, die sich aus den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamten­tums“ ergeben, wie es in Artikel 33 des Grundgesetzes heißt, der sich dabei besonders auf die Weimarer Reichsverfassung bezieht. Zu diesen Grundsätzen gehören eine besondere Treuepflicht gegenüber dem Dienstherrn – und das ist der Staat, das Bundesland oder die Kommune, und nicht der Bundeskanzler, der Ministerpräsident oder der Bürgermeister –, das Lebenszeitprinzip, das Laufbahnprinzip und das Alimentationsprinzip. Beamte unterliegen nicht dem Arbeitsrecht, sondern dem Dienst- und Disziplinarrecht, und im Blick auf aktuelle Vorkommnisse interessant sind weitere Anforderungen: die Neutralitätspflicht des Beamten, die Verschwiegenheitspflicht, das Mäßigungsgebot bei politischer Betätigung. Diese Regelungen ergeben sich aus dem besonderen Charakter der hoheitlichen Aufgaben, welche die Beamten zu erfüllen haben. Für den Außenstehenden klingt das teils befremdlich, teils verlockend, und die Besonderheiten speziell der finanziellen Beamtenversorgung haben seit den 1970er Jahren – vorher waren sie nicht so attraktiv – nicht nur Neid, sondern zum Teil auch durchaus berechtigte Kritik auf sich gezogen.

Die Sache hat aber einen Haken: Der Staat nimmt nicht jeden. Über die erforderliche körperliche, geistige und charakterliche Eignung als eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Beamtenverhältnis kann man streiten. In manchen Bundesländern gehört der Body-Maß-Index dazu, und eine Berufung auf body positivity kann einem zwar einen Sitz im Bundestag, aber nicht unbedingt auch eine An­stellung als Beamtin verschaffen. Auch die „charakterliche Eignung“ ist ein Merkmal, das von Beamten gefordert wird, nicht jedoch von Abgeordneten oder Regierungsmitgliedern.

Richtig heikel wird es bei den Erwartungen an Allgemeinbildung: Wer die Auswahlprüfung für die „Zweite Qualifikationsebene“ – früher „Mittlerer Dienst“ – im nichttechnischen Dienst in Bayern bestehen will, muss nicht nur einen Realschulabschluss aufweisen, sondern auch die deutsche Sprache sicher beherrschen und in einer umfänglichen schriftlichen Prüfung gute Kenntnisse in Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Recht und Staatsbürgerkunde nachweisen. Ein bisschen Völkerrecht und Antifa reicht da nicht, und man darf sicher sein, dass manches Kabinettsmitglied der aktuellen Bundesregierung an dieser Prüfung scheitern würde.

 

Die Ohnmacht der Bürokraten

Bei der Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben sind die Beamten in ein institutionelles Amtsgefüge eingebunden, das alle Handlungen verfahrensmäßig regelt und für Willkür keine Spielräume lässt. Deshalb können sich Bürokratien gegenüber den ideologischen Leitlinien und tagespolitischen Interessen des Regierungshandelns als Kräfte der Beharrung behaupten: Regierungen kommen und gehen, die Verwaltung bleibt. Sie hat ihren Eigensinn durch ihre Alltagsroutinen, ihr Amtsethos, ihr Dienstgeheimnis, die Rechtstaatlichkeit, die Aktenmäßigkeit und Schriftlichkeit. Das klingt alles altmodisch, aber genau diese langlebigen Infrastrukturen sind es, deren Fehlen sich in den Dauerkrisen der letzten Jahre so schmerzlich bemerkbar macht. Eine gute Bürokratie verträgt auch eine schlechte Regierung. Umgekehrt funktioniert das aber nicht.

Wer genau hinschaute, konnte die Symptome schon früh erkennen. Dem offensichtlichen Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung, vom Görlitzer Park in Berlin bis zum Hauptbahnhof in München, ist eine Erosion der staatlichen Ordnung vorangegangen. Der finale Sündenfall war die Flüchtlingskrise. Hier wurden Behörden gezwungen, Phantasiewelten zu schaffen, nicht nur Recht und Gesetz unbeachtet zu lassen, sondern auch aktiv ihre eigenen Regeln zu missachten: Personaldokumente – die den schönen Namen „Fiktionsbescheinigung“ tragen – zu erstellen, Leistungsbescheide zu erlassen und Transferleistungen zu veranlassen, die keine andere Grundlage haben als die Selbstauskünfte der Begünstigten selbst, die in sehr vielen Fällen erkennbar falsch und fast immer zweifelhaft sind.

Nun ist Bürokratie in der Tat lästig. Sie tritt dem Bürger überwiegend feindlich gegenüber, unterwirft ihn komplizierten, oft undurchschaubaren und professionelle Hilfe erfordernden Verfahren, fordert Auskünfte von ihnen, deren Sinngehalt sich nicht erschließt; und im Wirtschaftsleben, speziell im Baugewerbe, führen bürokratische Auflagen zu kostenträchtigen Verzögerungen. Dass mit unausführbaren und unkontrollierbaren Gesetzen Staatsverdrossenheit gefördert wird, liegt auf der Hand.

 

Bürokratieabbau

„Bürokratieabbau“ ist deshalb ein verführerisches Versprechen. Die aktuelle Bundesregierung hat Ende August 2023 angekündigt, sie werde ein neues Bürokratieabbaugesetz einbringen – das wäre dann das vierte in den letzten Jahren. Viel nützen wird es nicht, denn ein Großteil der Bürokratie wird inzwischen in Brüssel und nicht in Berlin abgewickelt, und der deutsche Bürokratieabbau wird nicht anders aussehen als der in Brüssel: 2022 hat die EU rund 700 Regelungen gestrichen und rund 2500 neue eingeführt.

Das ist die eine Seite. Es gibt aber auch eine andere. Die Bürokratie ist nicht nur für den Bürger, sondern auch für die Regierung lästig, und Bürokratieabbau erfolgt oft genug an der falschen Stelle: Das LNG-Beschleunigungsgesetz ermöglicht die Aushöhlung von natur­schutzfachlichen Genehmigungsverfahren, die EU-Notverordnung vom Dezember 2022 setzt die EU-eigenen Naturschutzregeln zugunsten der Windkraft­industrie weitgehend außer Kraft. Wenn Genehmigungsverfahren be­schleunigt und entkernt, Abstandsregeln für Windkraftanlagen aufgehoben, Natur- und Artenschutzregeln rückgängig gemacht werden, dann ist das kein Bürokratieabbau, sondern der Abbau von Bürgerrechten.

Die Bürokratie schützt die Bürger vor den Irrungen und Wirrungen unkontrollierten Regierungshandelns. Unverkennbar ist deshalb seit etlichen Jahren das politische Bestreben, die klassische Struktur des Beamtenapparates auszuhöhlen und seine Widerstandskraft zu lähmen. Dabei geht es nicht immer so direkt zu wie in Berlin. Im August 2020 erklärte der Grünen-Abgeordnete im Berliner Senat, Benedikt Lux, ganz ungeniert an passender Stelle, in einem Interview mit dem ehemaligen SED-Organ „neues deutschland“, worum es geht: Es sei gelungen, in die „gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden“, bis hin zur Feuerwehr, „gute Leute“, nämlich die eigenen Parteigänger, hineinzubringen.

In der Bundespolitik muss man in anderen Dimensionen denken. Unmittelbar nach ihrem Amtsantritt hat die aktuelle Regierung zusätzlich zu den bereits 30 000 Bestandsbediensteten des Bundeskanzleramtes und der 15 Ministerien 1710 zusätzliche Beamtenstellen geschaffen. Davon erhielt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 249 Stellen zugewiesen.

Woher die Personen kommen, die diese Stellen besetzen, will man gar nicht wissen. Es reicht zu wissen, dass in Ausnahmefällen bei der Verbeamtung auch vom Laufbahn- und Laufprinzip abgewichen werden, sofern nämlich die „erforderliche Befähigung durch Lebens- und Berufserfahrung“ gegeben ist – eine ideale Gelegenheit, verdiente Parteifreunde auf Lebenszeit zu versorgen, die sonst nicht einmal in die Nähe einer Verbeamtung gekommen wären. Das betrifft nicht nur politische Spitzenbeamte und Staatsekretäre. Auch in der zweiten und dritten Reihe der Ministerien wird der vorhandene Sachverstand, der bei allzu hochfliegenden Regierungsplänen immer als störend empfunden werden muss, gegen Gefolgschaftstreue ausgewechselt. Und damit nicht genug: Die aktuelle Regierung hat bereits im ersten halben Jahr nach ihrem Amtsantritt Beraterverträge im Umfang von 271 Millionen Euro abgeschlossen, davon entfielen 237 Millionen auf das Innenministerium. Genutzt hat es nichts. Besser geworden ist die Arbeit der Ministerin dadurch auch nicht, und auch die Beratung, die sich das Klimaschutzministerium bei verschwägerten Einrichtungen, der Agora-Energiewende oder dem Öko-Institut e. V. in Freiburg eingekauft hat, hat die Qualität des Regierungshandelns ebenfalls nicht erkennbar gesteigert.

Die „Bürokratie“ ist zum Kampfbegriff der Staatsverächter geworden, die das Gemeinwohl anderswo in besseren Händen sehen – bei internationalen Nichtregierungsorganisationen der „Zivilgesellschaft“, die mit quasistaatlicher Autorität versehen werden, in der Brüsseler EU-Bürokratie, bei übernationalen Gerichtshöfen oder gleich bei Haltungsjournalisten. Das wird auf Dauer nicht gut gehen, und irgendwann wird es dazu kommen, dass man sich den  alten „Beamtenstaat“ wieder zurückwünscht.